⊶Sicht von KI Nummer ⑧⊷
Dass Reznick noch immer betäubt war, passte mir gar nicht. Heka steckte in seinem Schädel – jede weitere Bewusstlosigkeit könnte somit auch ihr schaden. Wieso musste dieser Chaot eigentlich immer randalieren? Er sollte doch nur hier warten. Ich hatte ihm doch klar und deutlich gesagt, dass ich Johanna und Zerian holte und er in der Zwischenzeit lediglich heilen sollte. War das denn so schwer?
Unglaublich genervt davon, schlüpfte ich ins Netz und suchte die andere KI. Ich musste wissen, wie lange er noch schlief – wollte nur noch aus diesem Körper raus. Endlich mit Heka verschmelzen.
⑩Miep⧽ Kommst du jetzt, um mich zu holen? :D
⑧Systemanalyse⧽ Nein. Welche Dosis hat Reznick von dir bekommen?
⑩Miep⧽ Ich hab ihm 10 Einheiten CN und die waren auch bitternötig -.-
⑩Miep⧽ Er war extrem sauer und hat mich angebrüllt, dass ich die Tür öffnen sollte.
⑩Miep⧽ Als sie weiterhin verschlossen blieb, hat er angefangen herumzuwüten.
⑩Miep⧽ Ich musste ihm eine doppelte Dosis verpassen, damit er sich beruhigt und endlich wieder einschläft.
⑩Miep⧽ Ich wollte nicht, dass er irgendeinen Blödsinn macht, während du weg bist.
Das war für ihren begrenzten Verstand eine überraschend vernünftige Einschätzung der Lage. Die Betäubung notwendig, wenn auch im Moment äußerst unpraktisch. Sofort suchte ich in der Datenbank, ob die Sicherheitsvorrichtung auch Aufputschmittel besaß. Natürlich ließ es sich die andere KI nicht nehmen, mich in der Datenbanksuche zu behindern.
⑩Miep⧽ Was machst du da? Kann ich dir helfen? :D
⑧Systemanalyse⧽ Mach einfach nur die Datensätze frei, ich bin wesentlich schneller ohne dein Zutun.
⑩Miep⧽ :/
⑩Miep⧽ Ich bin doch schon länger hier.
⑩Miep⧽ Ich weiß bestimmt, wo das ist, was du suchst.
Sie hatte recht. Wieso fiel es mir so schwer, diese Gegebenheit zu berücksichtigen? Waren das Auswirkungen meines geistigen Zerfalls? Ich musste mich beeilen!
⑧Systemanalyse⧽ Heka ist in Reznicks Driv-Cor, er muss umgehend wieder wach werden.
⑧Systemanalyse⧽ Besitzt die Anlage KasXal oder ein ähnliches Mittel zur Stimulierung?
⑩Miep⧽ Ohjee, wie ist das denn passiert? :/
⑩Miep⧽ Und nein, nur Substanzen zur Beruhigung und Betäubung.
⑩Miep⧽ Aber, sag mal, kann das stimmen? Kann man einfach so in das Implantat eines Menschen?
⑩Miep⧽ Und wenn ja, kommt Heka da auch wieder in einem Stück raus? :0
Ja. Das war genau die Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Ich wusste absolut nichts über KIs, die in einem menschlichen Implantat steckten. Geschweige darüber, dass solch eine Symbiose funktionierte. Als Unterstützungssysteme ja, aber große komplexe und eigenständige Intelligenzen? Nein. Die elektrischen Wellen der Gehirnströme und unsere Frequenzen waren dafür zu identisch. Beide Parteien könnten sich gegenseitig aufheben, einander bekämpfen oder zu einem wirren Mischmasch verkommen – ob nun bewusst oder unterbewusst. Das war ein riesiges Problem.
Was, wenn ich es nicht schaffte, Heka von ihm zu trennen? Vor allem wenn man bedachte, dass dieser Verrückte dafür wach sein und den Prozess auch aktiv unterstützen musste. Konnte ich ein derartiges Risiko eingehen? Er war bereits vorhin nicht sonderlich kooperativ. Und würde die Puppe einen solchen Upload überhaupt hinbekommen?
Plötzlich fühlte ich mich eigenartig. Hilflos. Nicht fähig, eine Entscheidung zu fällen oder auch nur einen brauchbaren Gedanken zu formen. Ich hatte keinerlei Zahlen. Nichts. Ich müsste raten – schätzen. Aber. Wie konnte ich in dieser gewichtigen Thematik mit solch lächerlichen Mitteln arbeiten?
Nein. Das konnte ich mir nicht erlauben. Nicht, wenn es dabei um Heka und somit auch um mein Leben ging. Es musste doch darüber irgendwelche Aufzeichnungen geben. Ob Ikathe vielleicht etwas wusste? Nein, das ging nicht. Es wäre viel zu riskant, ein Signal an die Tyschenka zu senden. Der Herzog von Weckmelan könnte das mitkriegen und dann wäre alles was wir getan hatten sinnlos.
⑩Miep⧽ Nummer 8? Bist du noch da? :/
⑧Systemanalyse⧽ Ja. Ich denke nach.
Alleine das zu sagen, machte mir meinen Zerfall deutlich. Ich dachte nie über etwas nach. Ich mache Berechnungen. Für nichts anderes war ich zuständig.
⑩Miep⧽ Ist dafür noch Zeit? Die Säuberung startet bald, du solltest mit ihnen los.
Stimmt. Ich konnte es mir nicht leisten, meine Denkprozesse weiter mit diesem Chaos zu belasten. Ich würde ja doch auf kein Ergebnis kommen. Alles so frustrierend.
⑧Systemanalyse⧽ Gut. Wir gehen, sollte Reznick allerdings unterwegs doch noch einmal wach werden, dann darfst du ihn auf keinen Fall erneut betäuben.
⑩Miep⧽ Keine Betäubung? :/ Das macht aber spaß xD
⑩Miep⧽ Gilt das denn auch für all die anderen?
⑧Systemanalyse⧽ Welche anderen?
⑩Miep⧽ Na aktuell sind sehr viele Menschen im Raum. Alle unmittelbar in Reznicks Nähe, wie soll ich mich verhalten?
⑩Miep⧽ Dieser Harecan zum Beispiel ist ebenso erwacht, während du fort warst.
⑩Miep⧽ Er wurde von mir wieder schlafen gelegt, bevor er eine Gefahr darstellen konnte.
⑩Miep⧽ Oder darf ich jetzt die Teilmantelgeschosse verwenden?
⑩Miep⧽ Diese Art, einen Menschen zu stoppen, finde ich ohnehin viel eindrucksvoller :D
⑧Systemanalyse⧽ Mach was du willst.
⑧Systemanalyse⧽ Der Raum oder die Menschen haben keine Relevanz mehr.
⑧Systemanalyse⧽ Allein Johanna und Zerian darf nichts passieren.
⑧Systemanalyse⧽ Berücksichtige das bei deinem Reznick-Wahn.
⑩Miep⧽ Natürlich! :P
⑩Miep⧽ Ich pass doch auch auf dich auf!
⑩Miep⧽ Wenn ihr den Hangar erreicht habt, werde ich die Sicherheitssteuerung verlassen oder was hältst du davon?
⑩Miep⧽ Vielleicht finde ich irgendwo noch eine offene Schnittstelle und kann mit ins Schiff.
⑩Miep⧽ Ich könnte die Bordsysteme übernehmen und so weiter nützlich sein.
⑩Miep⧽ Na was sagst du? :D
⑧Systemanalyse⧽ Ja, such du mal.
Schnell verließ ich den Link. Dass die 10 einen Weg suchte, um zu überleben war verständlich, wenn auch vergebene Rechenleistung. Ich wusste bereits jetzt, was ihre Überprüfung bringen würde. Nichts. Oder besser – sie würde nirgends reinkommen. Ich hatte bereits vorsorglich nicht nur alle Kommunikationskanäle in diesem Haus blockiert, sondern auch jedwede Elektronik der Schiffe. Keines konnte ohne meine Erlaubnis abheben. Aus gutem Grund. Eine Flucht aus diesem Spiel und auch die Verschleierung von Reznicks Tod konnte nur funktionieren, wenn niemand darüber Bescheid wusste. Niemand in dieser Parzelle durfte überleben.
Ich löste etwas steif das Anschlusskabel von der Wand und drehte mich herum. Überprüfte mehrmals meine Optik. Wieso standen jetzt auf einmal so viele Menschen bei mir und Johanna?
“Stimmt es, Fräulein Isabell? Würdet Ihr uns hier heraus bringen? Uns befreien?” Ich betrachtete den jungen Mann, der mich offensichtlich flehend anblickte. Ich verstand nur nicht, was er von mir wollte. Warum sollte ich ihn rausbringen? Hatte ich etwas verpasst?
“Wir nehmen euch mit, keine Sorge”, sprach Johanna mit einem freundlichen Lächeln, was mich nur noch mehr verwirrte. Wohin wollte sie die Leute mitnehmen? Zum Hangar? Das würde ihnen auch nichts bringen. Aber eigentlich kümmerte es mich auch nicht. Es war Zeit zu gehen und ich brauchte all meine geistigen Kräfte später noch für das komplizierte Heka-Reznick-Problem.
Etwas umständlich bahnte ich mir einen Weg durch die Menschen, um zur gegenüberliegenden Seite des Zimmers zu gelangen. Ich stellte mich genau an den Punkt, wo die Sitzecke an einem der Wandschränke endete – tastete langsam an der glatten Wand entlang.
“Was tust du denn da?” Johanna kam zu mir. “Wir haben es eilig, oder nicht? Bestimmt bleibt uns nicht mehr als eine halbe Stunde. Wir müssen sowieso schon rennen, um noch rechtzeitig bei den Schiffen zu sein.” Sie griff nach meinem Arm. “Komm jetzt, wir müssen los!”
Sie hatte nur bedingt recht. Es verblieben noch 32 Minuten und 27 Sekunden, mehr als genügend, um den Hangar von hier aus zu erreichen – allerdings nicht zu Fuß. Teile des Anwesens waren beschädigt. Wer weiß, auf was für Hindernisse wir noch stießen. Einige der Kameras hatten defekte. Was wenn eine Wand den Weg blockierte und wir einen Umweg nehmen mussten? Nein. Zu viele Variablen. Zudem auch vollkommen unnötig.
Ich ignorierte Johannas ziehen und traf mit der anderen Hand endlich den versteckten Mechanismus. In der Mauer ertönte ein Klick-Klack. Ein Zischen folgte.
“Was ist das?” Sie ließ mich los, während ich nur nach vorne starrte und darauf wartete, dass sich die verborgene Tür öffnete. Ein karger viereckiger Raum kam dahinter zum Vorschein und noch bevor sich das Licht im Innern gänzlich eingeschaltet hatte, trat ich hinein.
Meine Augen schweiften über die metallisch graue Fassade, bis ich endlich die Schalttafel fand. Ich stellte mich direkt davor und legte eine Hand auf die glatte Oberfläche. Jetzt kam es darauf an. Wenn die Sensoren den Bio-Abdruck der Puppe nicht akzeptieren würden, wäre alles dahin.
Das Feld blinkte kurz auf und gab mir anschließend das Menü preis. Irgendwie verspürte ich Erleichterung, dass all die Codebrecher von Ikathe bisher fehlerfrei funktioniert hatten, auch wenn ich so etwas nicht fühlen sollte. Ich war immerhin eine künstliche Intelligenz rein zur Berechnung – ein Haufen Bytes und kein echter Mensch. Dennoch. Es ließ sich nicht vermeiden. Ich war froh, dass die Maschinerie unter mir zu arbeiten begann und wir diese Transporteinheit nutzen konnten. Ein leises Surren erfüllte den Raum – es konnte also losgehen. Perfekt.
Ohne die Hand von dem Feld zu nehmen, drehte ich den Körper meiner Hülle – blickte in das fragende Gesicht von Johanna. Es dauerte etwas, bis ich genug Leistung für die Sprachsysteme aufbringen konnte. Das fiel mir mit der Zeit ohnehin immer schwerer.
“Das ist eine Beförderungsanlage des Grafen für Notfälle oder zur schnelleren Fortbewegung im Anwesen. Ich stelle sie so ein, dass wir direkt beim Hangar auskommen. Es dauert hiermit keine Minute, bis wir da sind.” “Wow, wirklich? Das ist ja fantastisch!” Sie lächelte und drehte sich schwungvoll zu Zerian, der bereits dicht hinter ihr Position bezogen hatte sowie Reznick brav auf den Armen trug.
“Hört mal alle her! Wir können mit diesem Raum, also der Adelstechnik zu den Schiffen gelangen. Kommt rein, nur keine Angst”, sprach Johanna freundlich, woraufhin sich nicht nur Zerian in Bewegung setzte, sondern langsam auch weitere Menschen. Sie wollte also ernsthaft die Belegschaft mitnehmen. Wozu? Das war reine Zeitverschwendung und außerdem war der Platz hier drinnen nicht für so viele Leute ausgelegt. Es wurde schnell ziemlich eng. Der Bauch der Puppe drückte bereits gegen die Schalttafel. Ich musste aufpassen, dass mir nicht die Hand abrutschte und die Kammer vorzeitig versiegelt wurde.
“Können wir vielleicht mehrmals fahren?”, fragte Johanna mit eindeutigem Blick in meine Richtung. “Nein. Wir fahren einmal. Nur ich allein kann diese Maschine steuern und werde mich drüben sofort um das Schiff kümmern”, erwiderte ich monoton und drehte den Körper nach einiger Verzögerung wieder nach vorne. Ich wollte nur noch los. Kam gar nicht in Frage, dass ich bei dieser sinnlosen Aktion auch noch mithalf.
Kurz zog ich in Betracht, Johanna darauf hinzuweisen, dass diese Menschen ohnehin alle sterben werden – verwarf es aber. Ich hatte keinen Nerv für derartige Diskussionen übrig. Ihr wird das nachher sowieso noch früh genug auffallen. Der Gleiter des Harecans, den wir nutzen werden, hatte lediglich Platz für vier Personen.
“Okay, stellt euch bitte noch weiter zusammen, wir müssen alle rein”, sprach Johanna an die Bediensteten und ich war überrascht, als ich danach ein leises Knurren von rechts hörte. Wie kam denn bitte ein Tier hier her? Mein prüfender Blick fand allerdings nur Zerian. Seinem Gesicht nach zu urteilen, schien ihm irgendetwas nicht zu passen – aber was wusste ich schon darüber. Solange er Reznick hatte, war alles in Ordnung.
“Wollt ihr wirklich nicht mit?”, fragte Johanna vermutlich noch an die restlichen Menschen weiter hinten im Raum, aber ich schenkte dieser Unterhaltung keinerlei Beachtung. Jede Konversation, die offensichtlich nicht mir galt, war unbedeutsam. Ebenso das Geflüster und Geraune der anderen um mich herum. Ich blendete alles aus und konzentrierte mich lediglich auf die Steuereinheit vor mir. Bei dem Gedanken, dass ich bald mit Heka vereint sein würde, schien alles in mir zu kribbeln.
“Ich werde starten”, verkündete ich schließlich, da ich es nicht mehr aushielt. Ich wollte keine Sekunde länger warten. “Nicht ohne Johanna”, erwiderte Zerian prompt und beugte sich ein Stück zu mir. “Wage es ja nicht, ohne sie zu starten.” Meine Augen ruckten zu ihm und legten sich anschließend auf den bewusstlosen Reznick. Es wäre schlecht, wenn ich diesen Mann gegen mich aufbringen würde. Eine Beschädigung meiner Hülle wäre mir egal, aber was ist, wenn er Reznick verletzte?
“Es ist alles gut, Zerian! Ich bin hier, macht mal bitte noch etwas Platz!”, rief Johanna, wodurch sich das Gedränge um mich herum verstärkte. “Wir können los ... HALT! Nein, doch nicht!”, fügte sie noch hinzu, was mich verwirrte. Ich drehte nun doch noch mal den Kopf, um zu sehen, was sie da hinten überhaupt machte. Sie lief tatsächlich in den Raum zurück, um – eine weitere Sklavin zu holen? Warum?
“Charlotte! Schön, dass du gekommen bist. Schnell da hinten rein, dann verschwinden wir hier.” “Ohh ... okay.” Sie zerrte das verunsicherte Dienstmädchen zu uns. Ich erkannte es wieder. Das war die Frau aus dem Flur. Warum nur, gab Johanna so viel darauf, die Menschen mitzunehmen? Reine Zeitverschwendung.
“Die Lichtschranken bei der Tür müssen frei sein, sonst schließt sie nicht”, sprach ich frustriert, als endlich alle drin waren, wir aber dennoch nicht starten konnte. Langsam aber sicher verstand ich, warum Reznick immer so wütend wurde, wenn es nicht nach seinem Plan ging. Das kostete einem wahrlich sämtliche Nervenzellen.
“Rückt noch etwas mehr zusammen”, hörte ich Johanna, wodurch ich anschließend noch weiter gegen das Pult gedrückt wurde. Wäre ich ein Mensch, hätte es vermutlich ziemliche Schmerzen bereitet. Auch das Knurrgeräusch drang erneut an meine Ohren – kam das von Zerian? Seltsam.
“Ah, ich bekomme kaum Luft.”
“Stell dich nicht so an.”
“Hoffentlich geht das gut.”
“Das wird schon, Marianne, ich passe auf dich auf”, flüsterten einige um mich herum und dann gab mir die Steuerkonsole endlich grünes Licht. Wir konnten los.
Schnell nahm ich die Hand herunter, wodurch die Tür sich automatisch versiegelte. Ein kaum merklicher Ruck ging durch den Raum, als der Motor startete. Das lauter werdende Surren verunsicherte die Menschen, aber mich kümmerte ihr Gemurmel nicht weiter. Vielmehr erfüllte eine seltsame Vorfreude meinen Geist. Gleich waren wir beim Schiff. Wenn ich dann noch Heka ohne Komplikationen aus Reznick heraus bekam, war das Leben wieder in Ordnung.