-‡Johannas Sicht‡-
Zerian warf mit Hilfe seines Wassers den Schrank spielend in die nächste Ecke. Charlotte starrte mit großen Augen auf dieses Wunder und zuckte zusammen, als das Möbelstück laut krachend landete. Ich konnte ihre Verwunderung und ihre Furcht gegenüber dieser unerklärlichen Kraft nachvollziehen. Auch ihr zittern, als er sich hinhockte und ihr Bein berührte. Zerian war ein nackter Mann. In der Regel erhielt man in diesem Haus keine Hilfe, wenn ein solcher einen anfasste.
“Er wird dir nichts antun, keine Sorge”, versuchte ich sie zu beruhigen und warf dabei einen genaueren Blick auf ihre Verletzung. So schlimm, wie es aussah, steckte sie schon eine ganze Weile darunter fest. Das Schienbein war dick angeschwollen und ungesund dunkel verfärbt – vermutlich gebrochen.
“Kannst du das heilen?”, fragte ich leise und berührte Zerian sachte an der Schulter. Er antwortete nicht – schloss lediglich die Augen. Uh, ich spürte deutlich, wie etwas in ihm pulsierte – ein wohltuendes Kribbeln auch meinen Körper erfasste. Es ließ sich schlecht beschreiben, war aber dasselbe Gefühl, wenn ich mein Feuer heraufbeschwor. Er wirkte Magie, kein Zweifel.
“W-was ist das?”, krächzte Charlotte panisch und versuchte umgehend, seine Hände wegzudrücken. “Nicht, lass ihn!”, befahl ich und griff nach ihren Armen – hielt sie fest. “Er wird dich mit Magie heilen. Ich weiß, das klingt seltsam, aber es wird dir besser gehen. Versprochen.” Sie nickte eingeschüchtert. Ich hatte sie eigentlich nicht so schroff ansprechen wollen, aber es ging nicht anders. Ihre Erziehung erlaubte keinen Widerspruch und genau darauf zielte ich ab. Es war nur zu ihrem Besten.
Und es funktionierte gut. Unter meinem strengen Blick blieb sie ruhig sitzen und ließ die Behandlung ohne weiteren Widerstand über sich ergehen. Im Augenwinkel sah ich dann allerdings, dass sich die komische KI bereits ein gutes Stück von uns entfernt hatte. Warum wartete sie denn nicht? Hinten würde ohnehin die nächste Treppe kommen, womit sie ja solche Schwierigkeiten hatte. Seltsam. Ob sie doch eine Falle für uns vorbereiten wollte?
“Charlotte? Warst du schon beim Grafen? Stimmt es, dass er tot ist?”, fragte ich um der Wahrheit willen. Ich wollte unbedingt wissen, ob es stimmte. Ich glaubte dieser KI zwar, aber irgendeinen Grund wird Reznick schon gehabt haben, ihr nichts über Heka zu erzählen. So wie auch sein Verhalten uns gegenüber einen Sinn ergab – ergeben musste. Ich vertraute ihm, warum war mir dabei selbst nicht ganz klar.
Zerian öffnete die Augen und drehte den Kopf zu mir – verengte die Augen zu schlitzen, als hätte er meine Gedanken gehört. Herrgott, ich bin nicht in Reznick verliebt oder dergleichen. Das war doch lächerlich!
“D-der Graf, so-soll tot sein?”, erwiderte Charlotte mit wegbrechender Stimme und sah dabei vermutlich genauso überrascht aus, wie ich es war, als ich es hörte. “Warst du bei ihm?”, wiederholte ich und sah sie eindringlich an. Sie schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht warum, aber mich hat eine Welle erwischt und eingeklemmt und ich bin–” Sie verstummte sofort als Zerian sich erhob. Machte sich klein.
“Ich habe ihre Verletzung geheilt. Wir können weiter”, sagte er und reichte mir auffordernd die Hand. Ich griff danach und wie zu erwarten, zog er mich an seine harte Brust – gab mir einen berauschenden Kuss. Hilfe, dieser Kerl machte es mir wirklich nicht leicht. Am liebsten hätte ich mich in irgendein Zimmer mit ihm verkrochen, aber dafür war keine Zeit.
“Nicht jetzt!”, murrte ich, als sich unsere Münder trennten – gab ihm aber trotzdem noch einen schnellen Kuss, damit nicht gleich wieder eine Diskussion entstand, dass ich ihn verlassen würde. Das war absurd.
Anschließend ging mein Blick zurück zu Charlotte, die von ihrer Erziehung her den Boden hypnotisierte und auf einen Befehl oder aber auf eine Strafe wartete. Ich seufzte. Das kannte ich nur zu gut.
“Charlotte, willst du mitkommen? Wir gehen zum Grafen. Er soll angeblich tot sein und ich will mich davon selbst überzeugen. Wenn es stimmt, wurde die Säuberung eingeleitet und du weißt, was das heißt.” Ihr Kopf schnellte hoch. Ja, sie wusste es ganz genau. Jeder ohne Adelsabstammung wäre dem Tode geweiht.
“Wir wollen mit einem Schiff entkommen, falls dem so ist. Du kannst dich uns gerne anschließen”, sprach ich weiter und reichte ihr die Hand. Sie zögerte jedoch. Überlegte. Vermutlich hielt sie es für ein Spiel meinerseits – ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Wir kannten uns nicht sonderlich gut. Ich war erst kurz vor Beginn des Oswelats in diesem Hause angekommen. Dennoch. Ich wollte ihr diese Chance geben, wie sie mir auch durch Reznick widerfahren war. Sie musste sich entscheiden. Jetzt.
“Unsere Zeit ist begrenzt. Komm nach, wenn du eine Wahl getroffen hast”, sagte ich schließlich und ging der Puppe nach. Zerian folgte mir dicht auf.
“Warum lassen wir sie zurück, wo ich sie doch eben erst geheilt habe? Wenn sie hierbleibt, wird sie sterben. Soll ich sie tragen?” “Nein. Sie wird uns von alleine folgen, sofern sie das Sklavendasein hinter sich lassen kann.” “Ich verstehe nicht.” “Du warst vermutlich nie ein Sklave, oder? Dann kannst du’s auch nicht verstehen. Es ist allein ihre Entscheidung und nicht unsere. Es mag herzlos klingen, aber Heka hat mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Mich gezwungen ... Richard und Ludwig in einem Anruf gegenüberzutreten. Ich verstehe nun den Sinn dahinter. Charlotte weiß jetzt, dass es um ihr Leben geht. Wenn selbst das nicht ausreicht, wird sie sich niemals von diesem Machtkonstrukt lösen. Wir könnten sie mitnehmen, ja, aber sie wäre bei uns auch nichts weiter als ein Sklave und das will ich nicht.” “Das verstehe ich tatsächlich nicht. Menschen sind kompliziert. Wird sich das mit der Zeit ändern?”
Ich schmunzelte. “Menschen sind kompliziert? Und wie nennst du das hier?” Ich streckte einen Arm vor und ließ eine Flamme um meine Hand schlängeln. Erhellte die schummrige Umgebung.
“Du bist Feuer, ich Wasser und Dezeria Eis. Was ist daran kompliziert?” Ich seufzte – rollte mit den Augen. “Alles. Wir sollten später dringend darüber reden, aber erstmal ...” Ich bog um die nächste Ecke und löschte mein Feuer. Hier funktionierte die hausinterne Beleuchtung zum Glück wieder einwandfrei. Weiter vorne erkannte ich sogar die Puppe, welche wie zu erwarten mit den ersten Stufen der prunkvollen Wendeltreppe kämpfte.
“Schnapp dir die Maschine und oben bei Reznick sehen wir dann weiter.” “Hm, na gut ...” Zerian warf mir einen skeptischen Seitenblick zu, bevor er schnellen Schrittes voraneilte und die KI hochhob. Sie wehrte sich nicht einmal. Blieb ohne jedwede Bewegung in seinen Armen liegen und ließ sich tragen.
“Warum hast du eigentlich nicht auf uns gewartet?”, fragte ich kurz darauf, als wir die obere Etage erreichten. Ihre hellblauen Augen fixierten mich. “Ich will nur zu Reznick. Die Bedienstete war nicht wichtig. Unnötige Zeitverschwendung.” Ich verzog verärgert das Gesicht. “Jemandem zu helfen ist keine Zeitverschwendung.” “43 Minuten und 13 Sekunden verbleiben bis zur Säuberung. Alles, was uns nicht weiterbringt, ist vergeudete Zeit”, erwiderte sie und ich beschloss, es dabei zu belassen. Eine gewöhnliche KI würde sowas wohl kaum begreifen. Heka hätte dies mit Sicherheit.
Ein paar Meter weiter erreichten wir schließlich den Flur, wo sich das Folterzimmer von Ludwig befand. Vor besagter Tür standen bereits eine Handvoll Leute. Männer und Frauen, die wahrscheinlich auf Anweisung bezüglich der ganzen Zerstörungen warteten. Oder war das die befürchtete Falle? Sollten die uns einfangen?
Als wir näher kamen, hatten wir definitiv die gesamte Aufmerksamkeit. Viele Augenpaare musterten uns – meinen nackten Leib im Besonderen. Angesichts der Etikette, was Kleidung über meinen Status aussagte, hätte es mich beunruhigt. Aber. Ich konnte meinen Körper in Flammen hüllen – wer würde mir da noch etwas anhaben können?
“Ohh, den Rea sei Dank, endlich! Die CeKyde des Grafen”, sprach eine Stimme, die ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Eine Frau mittleren Alters schob sich an zwei Männern vorbei und dann erkannte ich sie. Franziska, die persönliche Untergebene von Dagmara. Sie war für die Sauberkeit der einzelnen Zimmer verantwortlich und hatte mir selbst mal einige Aufgaben zugeteilt, wenn kein Meister mir etwas befohlen hatte.
“Ist das Fräulein Isabell unversehrt?”, fragte sie weiter und kam uns entgegen. “Ihr geht es gut. Wir wollen zum Grafen”, sagte ich, woraufhin sie mich missbilligend ansah. Plötzlich wechselte ihr Gesichtsausdruck – zeigte Überraschung.
“Zar’Rea Johanna Aschengard? Warum seid Ihr hier und nicht bei meiner Herrin? Ist ihr etwas passiert? Ich konnte bislang keine Verbindung mit ihr herstellen. Sämtliche Systeme des Hauses funktionieren nicht richtig.” Sie schien sich ernsthafte sorgen, um die alte Hexe zu machen. Warum war mir allerdings unbegreiflich.
“Ich weiß nicht, was mit Dagmara ist. Wir sind nur hier wegen des Grafen.” Sie nickte verstehend und richtete ihr Augenmerk anschließend wieder auf die Puppe. “Ich habe schon um Einlass gebeten, aber der Herr Van Rotterval reagiert nicht auf mein Anklopfen – spielt vermutlich noch. Daher hoffe ich nun auf das Fräulein Isabell. Sie darf auch ohne eine Erlaubnis eintreten.”
“Sinnloses Gerede. Unnötige Verzögerungen. Wir sterben noch alle, wenn ihr euch nicht beeilt”, meldete sich diese auf einmal zu Wort. “Ich habe die Tür verschlossen, damit niemand ein- oder ausgehen kann. Lass mich runter oder bring mich gleich zur Steuerkonsole rüber, damit ich öffnen kann.”
Zerian blickte auf sie herab und sah anschließend mich fragend an. “Die Tür da vorne? Da müssen wir hin und sind dann endlich fertig hier?” “Ähm, ja. Da sollte Reznick drin sein”, bestätigte ich und kaum ausgesprochen rannte er los. Franziska musste hastig zur Seite springen, weil er sie sonst rücksichtslos umgeworfen hätte. Auch die anderen machten ihm verwundert Platz.
“Zerian, warte! Was ist denn los?” Ich eilte ihm nach. “Ich will nicht, dass dir etwas passiert”, sagte er und dann riss auch schon sein Wasser die goldbeschichtete Flügeltüre mit brachialer Gewalt aus dem Rahmen.
“Jetzt mach, was du machen wolltest und dann weg hier!”, murrte er anschließend und ließ die Puppe herunter – sah auch mich auffordernd an. Ich runzelte die Stirn. Ließ sein Verhalten aber unkommentiert. Er hatte ja recht.
Schnell ging ich hinein und späte nach Ludwig – fand diesen auch zu meiner Verwunderung leblos auf dem Boden liegen. Der Kopf war unnatürlich verdreht. Er ist tatsächlich tot? Unglaublich. Eine Leiche sollte mich nicht dermaßen zum Lächeln bringen, aber ich konnte nicht anders. Es passierte vollkommen automatisch.
“Johanna? Bist du das?”, erklang die überraschte Stimme von Emeli. Mein Blick schweifte rüber zur Sitzecke. Sie saß dort neben Reznick auf dem Sofa. Er war in eine Decke eingewickelt und sah dabei so friedlich aus, dass er nur betäubt sein konnte. Neben ihr hockte noch Marianne eingeschüchtert auf dem Boden und hielt ihre Hand.
Sofort überkam mich ein unangenehmer Schauer, wie eigentlich immer, wenn ich diese Frau erblickte. Sie hatte übertrieben volle Lippen und auch ihre Brüste waren viel zu groß für ihren abgemagerten Körper. Dazu besaß sie eine extrem schlanke Taille, wofür man extra einige ihrer Rippen entfernt hatte. Dieses Schönheitsideal gab es oft in den höheren Kreisen.
Ich half ihr einmal beim Ankleiden des Korsetts, welches sie stützen musste. Ohne konnte sie nicht gefahrlos laufen. Ich hatte bei Richard wohl ziemliches Glück gehabt, nicht derart zugerichtet zu werden. Ob Zerian auch ihren deformierten Körper heilen konnte?
“Wieso ist Reznick immer noch betäubt?”, fragte die Puppe und schritt wackelig an mir vorbei.
Emeli stand ruckartig auf und stellte sich schützend vor Marianne. “Er ... ist wieder betäubt, aber erst seit ein paar Minuten. Wir haben ihm nichts angetan, bitte glaubt mir! Als er aufwachte, wollte er sofort hier raus und hat an der Tür rumgewütet. Danach brach er zusammen.” Jap, das klang definitiv nach Reznick. Er schien also wohlauf zu sein.
“Gütiger! Was ist denn HIER passiert!”, rief plötzlich Franziska zutiefst schockiert und kniete sich ehrfürchtig neben Ludwig. Die anderen Bediensteten betraten daraufhin ebenso das Zimmer.
“Der Graf ist tot?!”
“Was?!”
“Nein! Nein! NEIN! Das darf nicht sein!”
“Die Säuberung! Was ist mit der Säuberung? Wie viel Zeit haben wir noch?”
“Der Haforan Richard, der Harecan Wilhelm und die Hadeza Dagmara müssen sofort davon erfahren!”
“Wieso gab es denn bislang kein Alarm?”
“Warte, ist das nicht der Harecan, der da drüben am Boden liegt?”
Ich ignorierte die ganzen panischen Stimmen und betrachtete die Puppe. Ich glaubte, so etwas wie “ärgerlich und lästig” von ihr zu hören, bevor sie sich zu der Haussteuerung an der Wand bewegte.
“Was jetzt? Können wir endlich weg?”, brummte Zerian mir von hinten ins Ohr und umarmte mich – drückte sich eng an meinen Rücken. Der Schauer, welcher mich nun erfasste war von ganz anderer Qualität. Ich seufzte schwer.
“Ja, wir gehen jetzt zum Hangar rüber. Kannst du bitte Reznick tragen?” Ein Knurren entwich seiner Kehle, was ich so noch nie von ihm gehört hatte. “Wir lassen ihn nicht hier!”, befahl ich und drehte herum, sah ihm entschlossen in seine wunderschönen Augen. “Keine Widerrede”, fügte ich noch hinzu, als er unerfreulich das Gesicht verzog.
“Wie du willst ...”, sagte er mit deutlichem Missfallen, aber wenigstens ging er anschließend zu Reznick rüber und hob ihn hoch. Uff, das wird noch was werden mit den beiden.
Tief durchatmend ging ich zur Puppe und beobachtete, wie sie sich gerade mit einem weißen Kabel aus ihrem Arm in die Hauselektronik klinkte.
“Was wird das? Du wolltest doch unbedingt zu Reznick und jetzt ist er dir egal? Wir müssen doch zum Schiff, oder nicht?” Keine Reaktion. Toll. Was sollte denn das jetzt? Ich dachte, sie hat es eilig.
“Johanna?” Ich drehte den Kopf. Emeli schritt mit gebeugter Haltung auf mich zu und reichte mir eine kleine Decke. Marianne folgte ihr dicht auf. “Falsche Anrede ...”, flüsterte diese, was Emeli augenblicklich versteifen ließ. “Oh, verzeiht! Natürlich! Zar’Rea Johanna Aschengard, ich bin untröstlich. Bitte vergibt mir die falsche Anrede.” Ich schüttelte den Kopf und nahm ihr das Stück Stoff ab – verhüllte damit meine Nacktheit.
“Schon gut. Was ist denn?” “Die Parzelle können nur Adlige verlassen. Bitte, nehmt uns mit! Wir wollen hier nicht sterben, bitte!” Ich lächelte. “Natürlich könnt ihr mitkommen.” Danach verging mir aber das Grinsen, als noch weitere Bedienstete schnell zu uns eilten – sich mir regelrecht vor die Füße warfen.
“Mich auch!”
“Mich bitte auch!”
“Ich bitte Euch, nehmt mich auch mit, bitte!”
Ich runzelte die Stirn. Ich kannte die Leute nicht einmal. Konnte ich sie so einfach mitnehmen? Hatten wir überhaupt so viel Platz nachher im Schiff? Aber. Hier lassen wollte ich sie auch nicht.