Ich weiß noch ganz genau, wie es sich anfühlte, als meine Mutter ihren letzten Atemzug tätigte. Die Erleichterung in ihrem Blick – ihre Freude, als ich ihr diesen Wunsch erfüllte, hatte auch mich in diesem Moment glücklich gemacht. Wir hatten uns beide angelächelt, ehe ihre blauen Augen glasig wurden und sie verstarb. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich dies realisierte und dann in ein tiefes Loch stürzte. Einem Abgrund, aus dem ich seither nicht wieder herausgefunden hatte. An diesem Tag starb nicht nur meine geliebte Mutter, sondern auch alles in mir ... Ja, genauso fühlt es sich jetzt an. Oder? Nein, eigentlich fühlte ich immer so. Ich liebte nicht. Ich konnte nicht – durfte nicht. Ja ... Vater hatte es selbst bestimmt. Als Strafe für den Tod eines seiner Besitztümer ... Tz! Besitztümer ... mehr war meine Mutter nie gewesen ... Besitz ...
O Mann, heute war meine Stimmung echt im Keller. Dieses Spiel schaffte es tatsächlich, meine Nerven derart anzugreifen, dass ich nicht wusste, was ich jetzt machen sollte. War es das, was du wolltest, Vater? Das ich irgendwann verzweifle oder, dass du in einem der Spiele etwas fandest, was du gegen mich benutzen konntest? Liebe? Lächerlich! Ich liebe nicht und dies wusstest du auch ganz genau. Du hattest jeden bei dir im Hause gefoltert, nur um mir wehzutun. Selbst jene Bediensteten, die ich nicht mal kannte oder die mir nur auf dein Geheiß hin etwas bringen sollten. Jeden, den ich je angelächelt hatte, quältest du – meist sogar bis zum Tode und natürlich musste ich dabei zusehen. Immer ...
Ich lächelte freudlos und starrte weiterhin an die Decke. Die Illusion eines Sonnenuntergangs ... Ja, mein Zuhause war ein Meer, in dem ich langsam aber sicher ertrank, und der Himmel symbolisierte dabei meinen unvermeidlichen Untergang. Eigentlich hätte ich auch alles rot färben können von dem ganzen Blut, welches an meinen Händen klebte. Toll ... heute war einer dieser Tage – man, wie ich diese Stimmung hasste. Ich verfluchte dieses Spiel ... aber es wurde Zeit, dass ich zurückflog. Ich konnte dem nicht ewig fernbleiben, andernfalls würde man meine Teilnahme annullieren und dann hätte ich definitiv verloren.
Frustriert schnaufend, riss ich mir das Haargummi vom Kopf, warf es achtlos irgendwo hin und ... blieb dann doch auf dem Sofa sitzen. Ich starrte noch immer an die Decke, wo nun ein Nachtfalter seine Kreise zog. Lustlos hob ich meinen Kopf ... Stimmt ja, die Tür war noch auf und allerlei Getier schwirrte schon hier rum. Hm, mein Blick schweifte kurz durchs Schiff, ohne dass ich Dezeria fand. Gut. Sie war wohl gegangen, dies war besser. Deutlich besser für uns beide, auch wenn es in meinem Herzen kurz schmerzte. Der Gedanke, dass sie jetzt im Dunkeln so weit weg von ihrem Lager umherirrte – ohne Hose und Schuhe. Ich hätte sie wenigstens dahin zurückbringen können, oder? Machte dies überhaupt einen Unterschied? Hellkus würde sie mit den Hunden sicherlich schnell finden. Verdammt! Es sollte mir egal sein! Es war mir auch egal! ... Scheiße ... war es nicht ...
Ich richtete mich abrupt auf und eilte zu Tür, um nach ihr zu sehen, aber schon auf dem Weg dorthin hörte ich leise Schluchzlaute. Irritiert fand ich sie anschließend neben dem Waschbecken in einer Ecke sitzen. Sie hatte ihre Beine angezogen und ihren Kopf halb hinter den Knien sowie den Armen vergraben. Sie weinte. Ihr Körper bebte. Ich verstand zwar nicht warum, aber war dennoch erleichtert, dass sie noch da war. Schnell verschloss ich die Türe, damit nicht noch mehr Insekten hinein kamen und schritt zu ihr.
“Dezeria?”, fragte ich, hockte mich im selben Zuge zu ihr und berührte ihren zitternden Arm. Sie zuckte sofort erschrocken zusammen und riss ihren Kopf hoch. “Warum sitzt du hier und weinst?”, fragte ich ehrlich interessiert und verlor mich dann in ihren großen Augen. Die Farbe gleich einer stürmischen Winternacht – einer aufgewühlten See ... Waren diese nicht am Anfang mal braun gewesen?
“Wohin soll ich denn?!”, schimpfte sie und versuchte, mich wegzustoßen. “Du kannst gehen, wohin du willst. Ich werde dich nicht aufhalten”, erwiderte ich und stand auf. “Aufhalten?! Ich würde mich draußen nur verlaufen ... Außerdem jagt Hellkus mich, oder? Was bringt es mir irgendwohin zu laufen? Du hast mich auch so unglaublich schnell gefunden u-und Hannes getötet ... Es ist also egal, was ich tue! Oder wer mir hilft! Ich hasse mein Leben! Mach doch dein Spiel und bring mich zurück zum Grafen! Mach mit mir doch, was du willst wie alle anderen auch!” Sie erhob sich voller Zorn und knöpfe ihr Hemd auf. Mit einem Gesichtsausdruck voller Abscheu und Verachtung warf sie Selbiges kurz darauf auf mich. Danach folgte ihr Bustier ...
“Zufrieden?”, fauchte sie und warf mir auch noch ihr Höschen entgegen, was mich sofort zornig die Fäuste ballen ließ. Ihr Verhalten ärgerte mich – ihre Nacktheit reizte mich und dabei waren meine Nerven doch schon längst am Ende! “Benimm dich mir gegenüber gefälligst nicht so respektlos!”, knurrte ich und donnerte sie grob gegen die Wand. Ein schmerzliches Keuchen entwich ihrer Kehle und neue Tränen schwammen in ihren Augen, aber sonst rührte sie keinen Muskel. Hm? Seltsam. Resignation kehrte plötzlich in ihren Blick. “Wirst du jetzt auch mit mir schlafen?”, fragte sie fast schon erstickt und dann ... Begriff ich es endlich.
“Wollte er das? Wollte dein Freund Sex von dir für seine Hilfe?” Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln und ihre Lippen bebten. Ich brauchte eigentlich keine Antwort, Dezeria. Es war offensichtlich. Du zeigtest keine wirkliche Trauer, als ich ihn tötete und auch deine Ohrfeige ergab nun mehr Sinn. “Ich bin nicht dein Freund”, sprach ich und meinte dies sowohl wörtlich, als auch in der Hinsicht, dass zwischen uns so etwas wie Freundschaft nie existieren würde. Es war besser so, glaube mir. Die einzige andere Person, die ich jemals gemocht hatte, war mein Zimmermädchen Anna gewesen ... Na ja, jedenfalls solange bis mein Vater dies mitbekam. Ich weiß nicht mehr genau, was er ihr alles angetan hatte – ich war immerhin acht damals. Was ich allerdings noch gut in Erinnerung behalten hatte, waren ihre Schreie und mein Flehen, dass er doch endlich aufhören möge. Ja, ausgelacht hatte er mich und all meine Bemühungen, ihr zu helfen, hatten es letztlich nur noch schlimmer gemacht. Bis zu jenem Tag, an dem ich sie schließlich eigenhändig erwürgte ... Ich schüttelte meinen Kopf, um dieses Bild loszuwerden, denn egal, wie dankbar sie in diesem Moment ausgesehen hatte ... so musste sie doch sterben, um frei zu sein. Ich seufzte. Freiheit ... was bedeutete dies schon?
“Es gibt zwei Wege aus diesem Spiel”, begann ich und holte einmal tief Luft. “Der Eine davon bedeutet ein Leben auf der Flucht. Du wirst immer im Verborgenen bleiben und dich vor den Häschern des Grafen verstecken müssen. Dich der Welt anpassen und selbst versorgen ... überleben eben.” Ich gab ihr einen Moment, um über diese Worte nachzudenken. Über diese Möglichkeit, die offensichtlich keine Freiheit war und auch niemals eine sein konnte. “Und der Zweite?”, fragte sie hoffnungsvoll und ja ... Ich wusste selbst, dass der erste Weg fürchterlich war. Man wäre für den Rest seines Lebens ein Gejagter. Man müsste in ständiger Sorge und Angst leben – alleine leben. Und irgendwann finden sie einen ja doch. Dies trieb einen auf kurz oder lang in den Wahnsinn. Ja ... in den sicheren Wahnsinn ...
“Der andere, wäre ... der Tod.” Sie sog schockiert die Luft ein und sah mich dann misstrauisch an. “Der Tod? Das ist doch nicht dein Ernst? Wie kann das ein Weg aus dem Spiel sein?” “Es ist so, wenn ich eine andere Möglichkeit wüsste, hätte ich sie dir gesagt.” “Das verstehe ich nicht! Du spielst doch und willst es nicht, oder? Aber du lebst doch und weglaufen tust du ja ebenso nicht! Gott! Das hier gehört sicherlich auch dazu, oder?! Hast du gewettet, wie ich reagieren würde?” “Nein. Und ob du es glaubst oder nicht, ist mir um ehrlich zu sein auch egal. Es ist nur entscheidend was du letztlich willst, Dezeria. Willst du, dass ich dir zur Flucht verhelfe oder, dass ich dich töte?” Ihre Augen weiteten sich und dann war da wieder dieser Blick, der mich innerlich zu elektrisieren schien.
“Das ist doch verrückt! Du würdest mich töten?” “Natürlich. Wenn du mich darum bittest, auch jetzt sofort. Allerdings musst du es auch wirklich wollen ... Du musst mir ehrlich in die Augen sehen und es aussprechen.” “Du bist verrückt!” “Und? Wenn du mir nicht glaubst, ist das deine Sache. Ich kann es jedenfalls nachvollziehen. Warum solltest du mir schließlich vertrauen, nicht wahr? Sei aber versichert, dass ich dich töten werde. Ich werde dir das Leben nehmen, so wie ich es schon unzählige Male bei den willenlosen Spielfiguren gemacht habe.” Sie stieß mich von sich. Ja, du wolltest nicht sterben oder warst gerade viel zu sauer auf mich, um dich für diesen Weg zu entscheiden. Aber ... Flucht? Darin sah ich dich auch nicht, Dezeria. Du machtest auf mich nicht den Anschein, dass du im Wald alleine überleben könntest. Du brauchtest ein gemütliches Zuhause und jemand, der dir zur Seite stand, nicht war? Ein idyllisches Familienleben eben, darin sah ich dich ... deutlich ...
“Natürlich bleibt dir auch das Spiel einfach mitzuspielen. Wenn du dich Ludwig hingeben würdest, hättest du sicherlich ein ganz annehmbares Leben hier. Er ist mit Abstand der normalste Adlige, bei dem ich bis jetzt gewesen war – und dies mag schon was heißen.” “Wie kannst du sowas Geschmackloses zu mir sagen?! Er ließ meine Eltern ermorden! Ich will nicht bei ihm sein oder mit ihm schlafen! Ich will mein altes Leben zurück!”, schimpfte sie vor Wut bebend, während ich mit den Schultern zuckte. “Menschen sterben und du bist eine schöne junge Frau, Dezeria. Das ein Mann an deiner Seite sein und mit dir Sex haben will, sollte dich nicht derart aufbringen, verzweifeln oder traurig werden lassen. So ist es nun einmal. Überall.” “Aber! Ich liebe ihn nicht! Ich ... ich will mich verlieben und so glücklich sein, wie es meine Eltern waren ... bevor ihr das alles kaputt gemacht habt! Was ... Was ist so falsch daran?”, fragtest du mit neu aufkommenden Tränen, aber was sollte ich darauf erwidern?
“Liebe gibt es nicht”, sagte ich letztlich, denn es stimmte schon. Dein Gesicht zeigte mir Schmerz, aber was hätte ich dir sonst sagen können? Ich war gewiss der Letzte, den du nach solch seltsamen Dingen, wie Liebe oder Glücklichsein fragen solltest.
“Und du? Was ist dein Sinn in all dem hier?”, fragtest du plötzlich kalt und emotionslos. Hm? Der Ausdruck in deinen Augen hatte sich auch verändert. Deine Stimmung wechselte wirklich schnell. Du warst noch immer viel zu interessant, Dezeria. “Was meinst du?” “Das Spiel. Du bist nur dafür da, die Leute zu töten? Das ergibt keinen Sinn. Dann könntest du auch gleich alle töten.” “Nein, ich bin ein neutr–” Ich stoppte mitten im Satz, weil mir klar wurde, was du jetzt ansprechen wolltest. Du warst schlau ... aber über mein Hiersein, wollte ich jetzt gewiss nicht mit dir philosophieren. Eigentlich müsste ich längst zurück nach Rotterval. Verdammt! Was machten wir hier überhaupt?
“Bei Gott, neutral, ja? Du bist alles aber nicht das! Wieso bin ich hier? Du sagtest schon irgendwie sowas, dass du gar nicht mit mir reden dürftest! Wieso also verstößt du gegen das Spiel? Wieso bi–” Ich hielt ihr den Mund zu, einfach weil ich diese ganzen Fragen nicht hören wollte. Ich wollte es nicht hören, denn ich wusste keine Antwort darauf. Ich wusste zum ersten Mal in meinem Leben nicht, warum ich so handelte ... Warum ich bei ihr sein ... Sie in Sicherheit wissen wollte ...
[Darklover 🤗hat mir wieder bei der Rechtschreibung geholfen😘]