╬Reznicks Sicht╬
Ein gewaltiges Chaos zerriss mich. Ich war derart zerstört, dass ich nur noch aus kümmerlichen Fetzen meines einstigen Selbst bestand. Angst. Zweifel. Wut. Hass. Panik. Trauer. Schuld. Alles nagte an mir. Wirbelte mich in einer nicht endenden Spirale umher. Es war die Hölle. Meine persönliche Hölle. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Nichts, was ich kannte, gab mir Halt. Alles drohte mich zu ersticken und in eine unendliche Tiefe zu ziehen. Ich war nicht ich selbst. Leer. Nur ein wirres Gebilde aus Schmerz, das nicht mehr leben sollte. Nicht leben wollte und doch tat ich es. Weiter. Immer weiter. Ich konnte noch nicht loslassen. Nicht, solange Dezeria mich ansah. Ihre wundervollen weißen Augen, hielten mich mit Ketten aus purer Sehnsucht in dieser Welt.
Eine Qual, die ich nicht wollte und doch irgendwie brauchte. Es war verrückt. Sie nach all der Zeit und nach all den Geschehnissen zu wollen war unlogisch. Ein Fehler. Verdammt ich hatte selbst Johanna angegriffen! Sie kaltblütig abgestochen. Es hätte auch Dezeria treffen können. Einfach so und genau das war mein Problem. Mein Vater hatte recht. Dieser blöde Wichser hatte recht damit, dass ich mein Handeln nicht unter Kontrolle hatte. Das konnte ich nicht ertragen. Nicht ihn. Nicht die Vorstellung, Dezeria würde blutüberströmt in meinen Armen liegen. Es war pure Folter für meine Seele.
Sekunde um Sekunde stieg der Schmerz. Ihr Blick. Er machte alles nur noch schlimmer. Sie hatte Angst. So viel Angst vor mir. Das durfte nicht sein. Ich würde ihr nie etwas antun – würde ich doch nicht, oder? Ja. Nein. Vielleicht. Ich war mir nicht sicher. Verdammt, ich konnte gar nichts einschätzen oder abwägen. Ich traute mir selbst kein Stück, wie sollte sie es dann können? Wie meine Nähe wollen? Warum? Ich verstand es nicht.
Aber ob ich es begreifen konnte oder nicht, war irrelevant. Sie tat es. Sie kam zu mir! Das passierte doch wirklich, oder? Nein. Ich bezweifelte es. Mein Herz donnerte zwar wie verrückt, aber es konnte sich hierbei nur um eine Wahnvorstellung handeln. Sie konnte mich nicht wollen. Nicht nach dem, was sie da hatte sehen müssen. Mein Leben war eine Lüge. Ich war eine Lüge. Zudem noch gefährlich für mein Umfeld. Ich verdiente sie nicht und das wusste ich auch – warum also verlangte alles von mir unerträglich nach ihr?
Ich hielt es nicht länger aus. Ein Impuls schoss durch meinen Körper und trieb mich ihr entgegen. Ich wollte, nein, musste sie berühren! Leider funktionierte es jedoch nicht. Meine Beine verweigerten den Dienst. Ich konnte nicht aufstehen und schlimmer noch – sie hielt erschrocken inne. Nein! Wie konnte sie mir das nur antun? So nah und doch unerreichbar. Warum quälte sie mich immer weiter damit? Und warum konnte ich mich nicht erheben und zu ihr? Was hinderte mich?
“Du fürchtest dich vor mir.” Allein es auszusprechen rammte mir gefüllt Dutzende Klingen ins Herz.
“Ja ...” Die reine Wahrheit. Dieses eine Wort gab mir den Rest. “Aber ich möchte dennoch bei dir sein.” Der Strudel, der mich endgültig in die Dunkelheit hatte ziehen wollen, stoppte. Hatte ich da richtig gehört? Sie wollte bei mir sein? Nein, oder?
Ich streckte ihr die Arme entgegen. Flehend. Bittend. Wenn ich mir das nicht eingebildet hatte, ja, wenn sie mich wirklich wollte, dann – Mein Atem stoppte. Sie tat es! Zwar mit deutlicher Furcht in den Augen, aber trotzdem freiwillig. Da war kein Zwang. Sie ergriff meine Hand frei aus ihrem eigenen Willen heraus und besiegelte damit unser beider Schicksal.
Ja. Das war er. Dieser eine Moment, für den ich zu leben schien. Sie war ängstlich, zurückhaltend und vielleicht hätte ich darauf Rücksicht nehmen sollen, aber es ging nicht. In der Sekunde, wo ihre Haut die meine berührte, handelte mein Körper automatisch. Ich packte ihr Handgelenk, viel zu fest, um zärtlich zu sein, und riss sie mit einem Ruck zu mir. Zog sie halb auf meinen Schoß und presste ihren kleinen Körper an meine Brust. Es musste sein. Nah. Näher. Eins! Ich brauchte das. Ihre Anwesenheit legte sich wie eine feine Eisschicht über meine zerstörte Seele. Linderte all den Schmerz. Heilte mich. Es tat so wahnsinnig gut.
“Tut mir leid”, flüsterte ich halb erstickt und konnte doch nicht aufhören, meine Nase tiefer in ihre Halsbeuge zu drücken. Ich war zu forsch. Ich spürte es, fühlte es. Sie war angespannt. Ihr Atem ging stoßweise. Das Herz raste. Verdammt, ich bildete mir sogar ein, ihre Angst riechen zu können. Es war verrückt. “Ich tue dir sicherlich weh ...” Das musste aufhören!
“N-nein. Alles ... gut.” Ihre Hände legten sich auf meine Schultern und sie versuchte, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Ich gewährte ihr diesen Wunsch, da wir uns dadurch ansehen konnten. Von Angesicht zu Angesicht. “Es fühlt sich überwältigend an, in deinen Armen zu sein ...” Sie lächelte unsicher, was wiederum erneute Unruhe in mir auslöste. Sie sollte nicht länger zweifeln.
“Ich will dich Küssen.” Das waren eigentlich nicht die Worte, die ich sagen wollte. Es sollte etwas Unverfängliches werden, damit ich sie nicht weiter verschreckte. In ihren strahlend weißen Augen gab es noch zu viele Bedenken. “Ich will nur einen Kuss, Dezeria.” Der zweite Satz wurde auch nicht besser. Wobei, jetzt war es auch schon egal. Ich begehrte sie wie sonst nichts auf der Welt und je länger sie mich mit diesem Blick bedachte, desto schlimmer wurde es. Der rücksichtslose Bastard in mir wollte sie mit Haut und Haaren verschlingen. Jetzt sofort! Und doch gelang es mir, diesen drängenden Impuls zu unterdrücken. Sie musste mich küssen und nicht umgekehrt. Das war mir verdammt wichtig. “Ich habe kein Recht, mir einen Kuss zu nehmen. Du bist nicht meine Sklavin.” Allein schon, dass sie einen solchen Halsreif trug, machte mich unendlich wütend.
“Ich ... gehöre dir.” Sie umfasste mein Gesicht. Vorsichtig. Nervös. Ihre Wangen waren gerötet. “Dir gehört mein Leben.” Langsam schloss sie die Augen, legte sanft ihre Lippen auf die meinen und gab mir damit die Erlaubnis, die ich gebraucht hatte.
Es mochte unschuldig begonnen haben, aber sobald ihr Geschmack meine Zunge benetzte, zerfiel jedwede Zurückhaltung. Ich umfasste meinerseits ihr Gesicht und intensivierte den Kuss. Hungrig. Fordernd. Bezwingend. Ich steckte alles in diese liebevolle Geste, was ich besaß. Was mich ausmachte. Gleich einer stürmischen Naturgewalt fiel ich über sie her. Ihr Atem wurde zu meinem. Ich fraß sie auf. Drang bis in den tiefsten Winkel ihrer Seele vor. Und doch war es nicht genug. Mehr. Ich brauchte mehr! Dieser Kuss sollte mir bis in alle Ewigkeiten erhalten bleiben. Ich wollte mich immer daran erinnern können, vollkommen egal, was auch passieren würde.
Nur einen winzigen Atemzug gönnte ich uns, bevor ich meine Lippen wieder auf ihre krachte. Solange ich nicht alles von ihr gekostet hatte, würde ich nicht aufhören können. Es war verrückt und wenn ich ehrlich mit mir selbst war, hätte eine Verweigerung ihrerseits eine Katastrophe heraufbeschworen. Ohne sie konnte ich nicht sein und hätte sie mich abgelehnt – ich hätte nicht gewusst, was dann passiert wäre.
“Du gehörst mir! Nur mir!”, knurrte ich gegen ihren Mund und küsste sie erneut. Sie hatte nicht einmal die Chance, etwas darauf zu erwidern. Eine Hand krallte sich in ihr Haar, während ich mit der anderen gegen ihren Rücken drückte. Ich dirigierte sie weiter auf meinen Schoß. Presste ihren kleinen Leib stärker an mich. Es gab kein Entkommen. Zu sehr verlangte es mir nach ihr. Keine Zeit für eine Pause. Unzählige kleine Stromstöße flossen durch meinen Körper und trieben meine Lust unaufhörlich voran. Ich war so verflucht hart, dass ich das Gefühl hatte, gleich platzen zu müssen. Ich wollte sie. Hier und jetzt! Aber es ging nicht. Etwas passte nicht. Der notgeile Teil von mir wollte zwar nichts sehnlicher, als sich unerbittlich in sie zu rammen, aber der Rest von mir wehrte sich vehement dagegen. Verrückt. Ich spürte ganz genau, dass es weder der richtige Ort, noch der richtige Zeitpunkt war, um mit ihr zu schlafen. Verwirrt hielt ich inne. Ich begehrte sie derart stark, dass es schmerzte, warum also blockierte ich mich selbst dabei, ihr das Kleid vom Körper zu reißen? Was um alles in der Welt lief hier falsch?
Ein kleines unscheinbares Geräusch hinter Dezeria gab mir schließlich die Antwort. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, wo wir uns befanden. Über ihre Schulter hinweg erblickte ich meinen Vater, wie er mit seinem Besteck gemütlich irgendeine Speise zerteilte. Er sah zwar nicht zu uns, lächelte aber, bevor er die Gabel zu seinem Mund führte. Dieser blöde Wichser. Sofort umarmte ich Dezeria, aber diesmal nicht, um mich an ihr zu laben, sondern um mit ihr zu verschwinden. Ich runzelte die Stirn. Meine beschissenen Beine wollten immer noch nicht gehorchen. Das war doch zum Verrücktwerden!
“Lasst euch nicht von mir stören. Ich würde es sogar begrüßen, wenn ihr euch sofort geschlechtlich miteinander einigt. Dann wäre eure Bindung vollständig.” Ein wütendes Knurren entwich meiner Kehle. Diese Vorstellung war mehr als nur absurd.
“Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wir werden dir hier ganz sicher keine Show liefern. Du widerst mich an!” Erneut versuchte ich, aufzustehen. “Und verdammt noch mal, wie lange wirkt der Scheiß noch?! Lass mich endlich gehen!”
“Du bleibst hier, bis wir alles Notwendige besprochen haben. Die Rea im Allgemeinen und das übergeordnete Machtsystem im Besonderen werden für dich sehr wichtig werden.”
“Ich will nichts von dir wissen. Dein Geschwafel interessiert mich kein Stück!”
“Sollte es aber. Die Institutionen bestimmen das Leben aller und sie –”
“Ich will das NICHT hören! Nichts aus deinem Mund!” Dezeria legte ihre kühlen Hände auf meinen Rücken und fuhr streichelnd auf und ab, wohl um mich zu beruhigen, aber das war unnötig. Ich war ruhig. So ruhig man eben sein konnte, wenn das größtmögliche Übel mit einem am Tisch saß. Körperlich mochte ich kochen, aber meine Gedanken konnten klarer nicht sein. Ich verstand unsere Situation voll und ganz, sowie ich auch wusste, was er mit diesem Gerede bezwecken wollte. “Du erzählst vom Machtsystem. Von den Spielen, die nicht auf deinen Befehl hin stattfanden ... Ich weiß schon. Du trägst keine Schuld und hast das alles nur gemacht, um mich zu beschützen.” Meine Muskeln bebten vor Wut. “Das willst du mir einreden, ja? Glaubst du allen Ernstes, dass ich jetzt über diese ganze Scheiße einfach fröhlich hinwegsehen kann? Dass ich nun ... wenn? Das Orchikor hassen sollte, weil die ja die ganzen Spiele ausgerichtet haben? Oder die Augonen, weil sie für Dezeria eine Gefahr darstellen? Sei dir gewiss, dass ich bereits alle Rea hasse. Diese Information macht da keinen Unterschied. Daran ändert sich in keiner Weise unser Verhältnis.” Ich atmete einmal tief durch. “Ich will dich tot sehen. Tot, hörst du?!”
“Reznick ...”, flüsterte Dezeria, drehte ihren Kopf und gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange. “Ist das wirklich nötig?” Ich lächelte freudlos.
“Ist es, andernfalls werde ich keinen Frieden finden. Wenn du ihm verzeihen kannst, schön und gut, ich werde es niemals können.” Keine Ahnung, was er mit ihr besprochen hatte oder welcher Gehirnwäsche sie zum Opfer gefallen war, aber ich machte ihr keinen Vorwurf. Hauptsache sie war jetzt bei mir und unversehrt.
“Dieses Vorhaben ist reine Zeitverschwendung.” Mein Vater schmunzelte, schnappte sich Dezerias Glas und trank den Rest der Flüssigkeit darinnen aus. “Ich kann nicht sterben.” Er sah mich an. Zeigte mir die Wahrheit in seinen Augen. “Jedenfalls nicht, durch deine Hand.” Auch das stimmte, aber wie bei jedem seiner Worte, war auch das nichts weiter als ein gutes Schauspiel. “Du wirst mit mir zusammenarbeiten, um ein echtes Problem aus der Welt zu schaffen. Du erhältst Zugriff auf all meine gesammelten Daten und –”
“Einen Scheiß werde ich! Tu nicht so, als wäre alles in Ordnung! Ich traue weder dir, noch irgendwelchen Daten, die aus deiner Hand stammen. Ich will nur ein Schiff, um mit Dezeria zu verschwinden.” Nachdem ich sein schlagendes Herz mit meinen Klingen herausgeschnitten hatte.
“Ich verstehe deine Ablehnung ehrlich gesagt nicht, mein Sohn. Wie du siehst, habe ich kein Problem damit, wenn ihr beide zusammen seid. Es ging auch vorher lediglich darum, dass du sie nicht ebenso verletzt, wie die Frau mit dem Feuerelement. Mein Handeln war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Und den Sinn der Spiele habe ich dir bereits erläutert.”
“Du verstehst meine Ablehnung nicht?! Du wagst es, sowas zu sagen? Und das mit Johanna wäre nie passiert, wenn du mich nicht zuvor in den Wahnsinn getrieben hättest!” Er lächelte dieses künstliche Lächeln, das ich ihm schon immer aus dem Gesicht hatte schlagen wollen.
“Es ist völlig legitim, wenn du mir die Schuld dafür gibst. Ich werde es nicht abstreiten. Jedoch sollten wir unsere Differenzen niederlegen. Es gibt keinen Grund, gegen mich zu kämpfen. Ich habe nichts –”
“Oh nein, komm mir jetzt nicht so! Es soll keinen Grund geben? Wie kannst du erwarten, dass ich auch nur irgendwas von dem hier glaube? Lief das so auch die anderen Male ab? Du spinnst eine nette Geschichte, in der du nicht der Böse bist, und damit hat es sich dann? Hat das jemals funktioniert? War ich auch nur einmal so dumm und habe das geglaubt?”
“Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.” Das war tatsächlich die erste echte Reaktion von ihm, was mich umso wütender machte.
“Ich rede von den 488-Malen davor!” Sein Ausdruck wurde sofort emotionslos. “Von dem Manipulieren meiner Erinnerungen und den vielen anderen Wissensständen, die du mir eingepflanzt hast! Von den ständigen Wiederholungen zu deiner Belustigung!” Ich ballte die Fäuste – krallte mich in Dezerias Kleid. “Ich wurde gefoltert, tat es ebenso bei anderen oder musste dabei zusehen! Verdammt, du hast mir sogar vorgegaukelt, dass ich meine eigene Mutter umgebracht habe!” Meine Sicht verschwamm. “Ich hatte dir eine Chance gegeben ...” Ja. Heka zuliebe. Trotz allem, was war. “Ich wollte ihr glauben. Ich habe es versucht ... Und was hast du getan? Du hast es gewagt, Dezeria vor meinen Augen zu quälen! Vorhin erst im Hangar, falls du es vergessen hast!” Das konnte ich ihm nicht verzeihen. Diese Bilder hatten sich für immer in meinem Kopf eingebrannt. Wie er unentwegt auf sie eingestochen hatte. Da gab es nichts Gutes in diesem Mann. Heka hatte mich belogen. Was auch sonst.
“Verstehe”, sprach mein Vater hörbar frustriert und stocherte mit der Gabel in seinem Essen herum. “Denkbar ungünstig.” Seufzend legte er das Besteck nieder, ließ sich in den Stuhl sinken und fuhr sich durch die kurzen Haare. “Warum muss sie es mir immer so schwer machen?” Er schloss die Augen. “Wieso kann sie nicht einmal ...” Ich ignorierte seine nachfolgenden Worte. Er war für mich bedeutungslos. Ein Nichts. Mich interessierte nicht, was er zu sagen hatte oder dass er ehrlich überrascht war – ich kuschelte mich lieber enger an Dezeria. Sie war jetzt alles, was noch zählte. Ich musste sie irgendwie in Sicherheit bringen. Schnell.
“Hat er dir gesagt, was genau der Halsreif bezweckt?”, flüsterte ich in ihr Ohr und befühlte besagten Sklavenring. Ich kannte dieses Modell nicht. Vielleicht gab es einen versteckten Schutzmechanismus, wenn man es mit Gewalt entfernte.
“Er unterdrückt mein Eis.” Sie umfasste mein Gesicht, wischte die unbedeutenden Tränen fort und sah mich besorgt an. “Es hilft mir. Ich will dich nicht verletzen. Ich kann es nicht kontrollieren.” Meine Mundwinkel zuckten bei dieser Aussage.
“Keine Angst, das wird nicht passieren und selbst wenn, wäre es nicht schlimm. Ich halte einiges aus.” Behutsam zog ich den Reif an einer Stelle etwas vor, damit ich zwei Finger dazwischen schieben konnte. “Ich werde ihn jetzt auftrennen, in Ordnung?”
“Warte!” Sie griff nach meiner Hand, die an ihren Hals lag. “Ich habe einen Schlüssel für das Schloss.” Ihr Blick wanderte nach unten. Kurz wühlte sie auf ihrem Schoß in dem gebauschten Stoff. “Hier.” Tatsächlich besaß sie den Schlüssel. Mühelos konnte ich den Sklavenring entfernen, was mich erleichtert aufatmen ließ. Eine Gefahr weniger.
“Hat er dir sonst etwas umgemacht?” Ohne großartig darüber nachzudenken, schnappte ich mir den Saum des Kleides und legte Stück für Stück ihre Beine frei. “Oder verabreicht? Eine Spritze oder so? Kannst du dich an etwas erinnern?”
“Reznick ...” Sie stoppte mein Vorhaben, auch den Rest ihres Körpers abzusuchen. Eine feine Eisschicht überzog meinen Arm, wo sie mich berührte. “Ich möchte das nicht.” Erst jetzt realisierte ich, dass ich bereits ihre Unterwäsche freigelegt hatte. Ein schlichtes weißes Höschen verbarg sich zwischen ihren Schenkeln.
“Entschuldige. Das hatte keinen sexuellen Hintergrund.” Dagegen mochte wohl mein Ständer sprechen, der einfach nicht abklang und schon gut schmerzte, aber Sex war nun wirklich das Letzte, was ich hier haben wollte.
“Danke ...” Ihre Stimme war nur ein Hauch und das rot ihrer Wangen zog sich bis tief in den Ausschnitt, während sie das Kleid wieder richtete. “Ich trage nur normale Sachen. Keinen zweiten Reif oder Fesseln oder dergleichen. Ob er mir jedoch etwas verabreicht hat, weiß ich nicht. Ich war einige Male bewusstlos ...” Ich biss die Zähne zusammen. Allein die Vorstellung, was er alles mit ihr in dieser Zeit angestellt hatte, würde mir eine Reihe schlafloser Nächte bescheren. “Soweit ich mitbekommen habe, hat er mir nur was von seinem Blut gegeben.” Ich runzelte die Stirn.
“Sein Blut? Wie meinst du das?” Besorgt sah ich ihr in die Augen.
“Na er hat es mir verabreicht, wo er auf mich eingestochen hat.” Sie deutete leicht zittrig auf ihren Brustkorb. “Es funktioniert aber nicht mehr. Ich kann mich ohne seine Kontrolle bewegen. Wie ist es bei dir? Kannst du jetzt vielleicht aufstehen oder wirkt es bei dir immer noch?”
“Das ergibt keinen Sinn, wie sollte Blut ...” Ich stutzte. Meine Beine gehorchten mir. Ich konnte sie bewegen! “Das ist verrückt, aber darüber werde ich mir später den Kopf zerbrechen.” Geschwind hob ich sie auf meine Arme, stand auf und eilte Richtung Lichttor. Wir mussten zum Hangar. Dort befand sich hoffentlich ein kleines Schiff, das wir benutzen konnten.
“Reznick? Was ist? Wieso bleibst du stehen?” Das fragte ich mich auch. Der Druck war zurück und zwang mich dazu, knapp zwei Meter vor dem Flur anzuhalten. Ich konnte nicht weiter. Konnte nicht sprechen. Kein Muskel tat, was ich wollte und schlimmer noch – ich drehte herum und ging wieder zum Tisch. Nein, verdammt!
“Zugegeben, ich habe nur eine Schwäche ...” Unfreiwillig bewegte sich ruckartig mein Kopf, wodurch ich zu meinem Vater sehen musste. “Aber dieser kurze Moment, in dem meine Konzentration fällt, ist irrelevant. Du könntest dich niemals weit genug von mir entfernen. Ich spüre deine Anwesenheit über eine enorme Distanz. Und wenn ich enorm sage, dann meine ich das auch so. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob du meinen Einflussbereich überhaupt jemals verlassen könntest.” Das kapierte ich nicht, wie konnte der Arsch solche Macht über mich haben?
“Lass mich bitte runter.” Dezeria wurde auf meinen Armen unruhig, was meinen Körper dazu veranlasste, sie nur noch stärker festzuhalten. Da half auch ihr Eis nicht, das langsam über meine Haut kroch. “Gott, nein! Es tut mir leid!” Sie hatte Angst und am liebsten hätte ich irgendetwas getan oder gesagt, um sie zu beruhigen, aber es ging nicht. Wie ein dummer Arbeitsroboter trug ich sie zu ihrem Platz zurück. Allerdings nicht, um sie auf ihren Stuhl zu setzen, wie ich es erst angenommen hatte. Nein. Mit großem Entsetzen musste ich miterleben, wie ich sie mit dem Rücken voran auf den Tisch knallte, mich zwischen ihre herabhängenden Beine drängte und sich meine Finger wie Fesseln um ihre Handgelenke schlossen, damit sie auch genauso liegen blieb. Es tat mir leid. So unendlich leid. Ich wollte das nicht!
“Ich habe es meiner Liebsten wegen gesittet und schonend versucht, aber offensichtlich ist das wenig effektiv und obendrein auch noch schrecklich ermüdend.” Mein Vater zwang mich erneut, in sein kaltes emotionsloses Gesicht zu sehen. “Ihr werdet mir jetzt zuhören. Aufmerksam. Es geht hier immerhin um eure Sicherheit. Euer Überleben. Das mag aus meinem Mund vielleicht seltsam klingen, aber mir liegt sehr viel daran. Andernfalls hätte ich euch schon längst für meine Analysen bis auf die letzte Zelle zerteilt.” Er beugte sich vor, streckte den Arm aus und griff nach einer Weinflasche. Das verrückte daran, meine rechte Hand bewegte sich ebenso. Ich ließ Dezerias Gelenk los, nur um im nächsten Moment grob eine ihrer Brüste zu umfassen. “Augen und Ohren, Alexander. Das habe ich dir immer eingespeist und sollte dich daran erinnern, dass jeder deiner Schritte überwacht wird. Es galt jedoch nicht nur während dieser Spiele, sondern ununterbrochen. Auch jetzt, verstehst du?”
“Einen Scheiß tu ich!” Wütend traf meine Gefühlslage nicht einmal annähernd. “Hör sofort auf damit, du blöder Wichser!”
“Hältst du das für eine gute Idee, mein Junge?”, fragte er gleichgültig, während ich schweißtreibend versuchte, meine zweite Hand nicht auf ihre andere Brust zu legen. Vergeblich. “Für jede Aufmüpfigkeit wird sie ab jetzt dafür büßen.” Mein Griff um ihr zartes Fleisch verstärkte sich, sodass Dezeria ein schmerzliches Wimmern entkam. Sofort raste ein regelrechter Schock durch meinen Leib. Ich tat ihr weh und das durfte nicht sein. Konnte nicht sein!
“Er lässt dich das tun ...” Sie sah mich mit tränenverhangendem Blick an. Stockend ging ihr Atem. “Es ... ist in Ordnung.”
“Gar nichts ist hier in Ordnung!” Ich zitterte vor Wut. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Ich musste etwas tun, aber was konnte man schon gegen den eigenen Körper unternehmen? Mir fiel einfach nichts ein.
“Ich bin dir nicht böse deswegen, aber ich habe Angst.” Ihr Blick legte sich auf meine Hände, die bereits eine ordentliche Eisschicht aufwiesen. “Angst dir wehzutun ...” Unter ihr wanderten die weißen Kristalle über den Tisch und breiteten sich rasch aus. Gleich erreichten sie meinen Vater, was diese Situation bestimmt nur noch schlimmer machen würde. Doch entgegen meiner Befürchtung wich lediglich seine ekelhafte Kontrolle aus meinem Körper. Umgehend nahm ich meine Hände von Dezerias Brüsten, half ihr behutsam sich aufzurichten und umarmte sie schließlich trotz der zwickenden Kälte, die sie ausstrahlte. Nackt zu sein war aktuell wirklich unangenehm.
“Dein panischer Gesichtsausdruck hat mir gefallen.” Und da war es wieder. Meine Muskeln verspannten sich und ich musste erneut zu meinem Vater sehen. Er öffnete den Wein, in dem er eine Sichel aus seinem Zeigefinger formte und damit den Flaschenhals sauber durchtrennte. “Die Frage ist, ob diese kleine Vorführung dir genügt, oder ob du eine Zugabe benötigst.”
“Was willst du von mir hören?” Ich atmete einmal tief durch und schluckte all die Beleidigungen hinunter, die mir auf der Zunge lagen. “Soll ich dich etwa anflehen, sie gehen zu lassen? Und du willst dann was, dich darüber kaputtlachen?”
“Ich will deine Aufmerksamkeit. Dass du mitdenkst. Mir ist natürlich bewusst, dass dein Verstand heute schon enorm beansprucht wurde und es dir schwerfallen muss, die einzelnen Zusammenhänge richtig zu erfassen. Dennoch. Du wirst aufpassen, auf meine Fragen vernünftig antworten und dich auch sonst in meiner Gegenwart benehmen, andernfalls werde ich euch erneut bestrafen. Hast du das verstanden?”
“Ja.” Das hatte ich. Sehr gut sogar. Besorgt presste ich Dezeria enger an meinen Körper, auch wenn sie versuchte, den Abstand zu wahren. Sie wollte mich nicht stärker in ihr Eis hüllen als ohnehin schon, aber das spielte für mich keine Rolle. Sie sollte sich nicht fürchten. Sollte wissen, dass ich sie beschützte, auch wenn ich aktuell nicht wusste, wie ich das anstellen sollte. Wäre ich alleine, könnte ich meinen Vater uneingeschränkt entgegentreten. Vollkommen egal, wie sinnlos es war. Mein Leben bedeutete mir nichts und ich würde mit meinen Klingen alles versuchen – jede Grenze überschreiten und ihn sowie das gesamte Schiff in seine Einzelteile zerlegen oder halt bei diesem Vorhaben draufgehen. Aber so? Ich war zum Nichtstun verdammt. Sie war meine größte Schwäche. Das wusste mein Vater. Das wussten wir beide. Es war aussichtslos. Diese verdammte Hilflosigkeit legte mich in unlösbare Ketten.