╬Reznicks Sicht╬
Die Zeit verlief zäh. Sehr zäh. Ab und zu dachte ich sogar, sie stände gänzlich still. O Mann. Diese sechs Stunden würden definitiv die längsten meines bisherigen Lebens werden und auch wenn ich wusste, dass ständiges blicken auf die Uhrzeit nichts beschleunigte – ja es sogar schlimmer machte – so konnte ich doch nicht anders. Es war ein innerlicher Zwang, der mich immer wieder dazu trieb, auf die Digitalanzeige meines Bildschirms oder auf die meiner Armbanduhr zu blicken. Ich musste einfach wissen, wie spät es war und wie viel Zeit ich noch hatte – wie viel Zeit ich noch absitzen musste ... Und VERDAMMT! Es waren immer noch weit über fünf Stunden! FÜNF! Stimmte die Anzeige überhaupt? Erneut tippte ich auf meine Uhr, auch wenn dies absolut lächerlich war ... Warum sollte sich diese ausgerechnet jetzt aufhängen? Die Teile waren für die Ewigkeit konstruiert und außerdem zeigte die Schiffsuhr dieselben frustrierenden Zahlen an. Mann ... mein Zeitgefühl war mittlerweile völlig verkorkst. Auch spürte ich förmlich, wie ich von Minute zu Minute verrückter wurde. Aber wie konnte ich das nicht? Ich wusste, dass Vater auf der Suche nach Dezeria war und er sie jeden Moment haben könnte. Und ich? Ich saß hier nur rum – zur Untätigkeit gezwungen!
Meine Augen starrten also unentwegt auf das Chatfenster – starrten auf die letzten Zeilen, welche mein Vater verfasst hatte und dann wieder auf die Uhrzeit. Ich hasste es! Vor allem da ich wusste, dass er dies mit seinen Worten beabsichtigt hatte ... Wie sehr es ihn vermutlich in genau diesem Moment erfreute, mich mehr und mehr in den Wahnsinn zu treiben. Wieso war ich dagegen einfach nicht immun? Wieso gestand ich ihm noch immer so viel Macht über meine Person zu? Scheiße! Wie ich es hasste! Er hatte keine Kontrolle über mich! Hatte er nicht! Ganz und gar nicht! RAWRRR! Hektisch atmete ich ein und aus ... Verdammt noch mal! Ich musste mich beruhigen! Mein Vater war unbedeutend! Ein Nichts! Ich hatte hier die Kontrolle ... Ich allein ... Uff, würde Johanna nicht da hinten friedlich in meinem Bett schlafen und sich erholen, hätte ich schon längst alles zusammengebrüllt sowie sämtliche Inneneinrichtung kurz und klein geschlagen, um mich etwas abzuregen ...
Plötzlich färbte sich der Bildschirm schwarz, was mich erschrocken zusammenzucken ließ. Ich rieb mir hastig meine schmerzenden Augen. Hatte ich doch unwissentlich gegen den Bildschirm geschlagen vor lauter blinder Wut? Nein, oder? Verwirrt tippte ich gegen den Monitor und dann auf die leuchtende Tastatur auf dem Glastisch – nichts passierte.
<<Ohhhh, das ist ja echt nicht mehr mit anzusehen.>> Ich zuckte erneut zusammen, als sich Heka frustriert klingend in meinem Kopf meldete. <<Jetzt verhalte dich nicht weiter wie ein Geistesgestörter! Geh duschen und danach ins Bett! Du bist ja nur noch ein nervliches Wrack! Einfach nur traurig ...>> “Halt den Rand! Und hör auf mich so lästig zu bevormunden!”, erwiderte ich ebenso unzufrieden, auch wenn ich die Notwendigkeit einer Dusche schlecht leugnen konnte. Das getrocknete Blut auf meiner Haut erreichte so langsam eine Juckintensität, welche ich nicht länger ignorieren konnte. Ja, waschen ... sollte ich vielleicht wirklich. Sie hatte Recht, aber das musste ich ihr ja keineswegs offenkundig zugestehen. So blutbesudelt wäre ich sowieso nie vor Dezerias Augen getreten. Ja, völlig ausgeschlossen!
<<Reznick, bitte. Ihr solltet Euch ausruhen. Wenigstens noch etwas essen und trinken. So zerstört, wie Ihr gerade seid, nützt es nur einem ... und zwar Eurem Vater.>> Ich knirschte zornig mit den Zähnen und starrte giftig auf mein Getränk, welches sie wieder befüllte und auch einen zweiten Teller mit Früchten servierte. Widerwillig nahm ich den Saft zu mir und musste dabei höllisch aufpassen, dass das Gefäß nicht in meiner Hand zerbarst. Ich griff mir danach eine Handvoll der geschnittenen Agnikanas und aß diese, während ich mich aufraffte. Ich schritt schlurfend Richtung Dusche und nuschelte ein wütendes: “Nun zufrieden?” <<Na ja, etwas.>> “Super, dann sei jetzt endlich still, ich krieg von deiner Stimme Kopfschmerzen.” <<Wirklich sehr erwachsen.>> “Ach, halt einfach die Waffel”, murrte ich und trat in den Duschbereich, wo auch sofort herrlich warmes Wasser auf mich nieder prasselte. Verdammt tat das gut! Mein Körper schien wirklich irgendwie fertig zu sein. Steckte ich etwa in einem Übergangsdelirium durch die Nanobots? Hm, man durfte meinen, dass bei derart vielen Resets, die ich in meinem Leben bereits hinter mir hatte, sich der Organismus auch mal daran gewöhnte, aber ... na ja.
Ich schrubbte mir schwerfällig den Dreck vom Körper und stand dann noch eine ganze Weile unter dem wohligen Regenschauer. Wie gerne würde ich jetzt wieder mit Dezeria duschen ... Ihre Schüchternheit betrachten. Mich am Anblick ihres kurvigen Körpers erfreuen ... Sie berühren! O Mann ... Schwer seufzte ich und umfasste meinen halbsteifen Schwanz. Ich wollte mir gerne Erleichterung verschaffen, aber ... ich fühlte mich ... so schläfrig. Die Temperatur hatte ich schon voll aufgedreht, um mich wach zu halten, aber es half wenig. Jeder hätte sich dabei wohl schwerste Verbrühungen geholt, mich jedoch ließ es kalt. Für mich war es durch und durch angenehm. Hm, warum kam mir dabei plötzlich die Erinnerung, wie mein Vater mir das Familienzeichen auf den Rücken einbrannte? Toll ... jetzt hatte ich definitiv keine Lust mehr aufs Duschen, danke auch! Langsam sehnte ich mich wirklich nach meiner alten Abgestumpftheit. Dezeria ... was hast du nur mit mir angestellt? Mir angetan? Heka hatte recht. Mittlerweile war ich nur noch ein nervliches Wrack und ich hasste es! Aber nicht dich, Dezeria, keine Sorge. Dich werde ich allerdings dringend brauchen, um meinen Verstand wieder in Ordnung zu kriegen. Dringender, als ich es bislang gedacht hatte. Ich ... ich fürchtete mich sogar ein klein wenig davor. Denn was würde ich tun, wenn du nach all dem nicht mehr bei mir sein wolltest? Ich bezweifelte, dass ich dich in diesem Fall noch gehen lassen könnte ... Dich zwingen ... Dich in einen Käfig halten müsste und dies wollte ich nicht, Dezeria. Du solltest nicht mein Sklave werden. Nein ...
Ich seufzte niedergeschlagen und verließ leicht wankend die Dusche. Durch die ganze Hitze des Wassers war es im Schiff zwischenzeitlich ziemlich neblig geworden. Es passte irgendwie zu meinem Brummschädel und diesem ätzenden schläfrigen Gefühl. Dennoch konnte ich mich jetzt nicht hinlegen. Ich wusste, dass mir dann nur Horrorszenarien im Kopf herumspuken würden. Bilder und Schreie von Dezeria ... wie mein Vater sie quälte, nur um mich damit zu bestrafen. Auf sowas konnte ich wahrlich verzichten ... da blieb ich lieber wach!
<<Ihr solltet jetzt schlafen, wirklich. Es wird Euch guttun.>> “Was weißt du schon, was mir guttun würde”, sprach ich gereizt und winkte anschließend mit einer obszönen Geste ab. Ein elektronisches Seufzen erklang <<Soll mich das jetzt treffen? Also bitte. Ihr könnt mich nicht beleidigen mit dem Zeichen für Hohn und Spott des Adels. Ich bin im Übrigen auch nicht für Ekel oder Scham empfänglich, falls Ihr es vergessen haben solltet und mir nachher, ganz einem Kinderstreichs gleich, irgendwelches Krabbelgetier in mein Gehäuse schmeißt.>> “Heka, warum hab ich dir eigentlich noch nie einen Bi–”, begann ich zynisch, stoppte dann aber blitzschnell. Mist! Ganz dünnes Eis. <<Ernsthaft? Du fragst, warum ich keinen Biokörper habe? Was darfs denn sein? Eine der Marke CeKyde vielleicht?>>
Ich schwieg. Wir hatten nämlich schon mal darüber ausführlich gesprochen und sie war vehement dagegen gewesen. Sie wollte keine Puppe sein, obwohl ich ihr natürlich auch einen “normalen” Körper angeboten hatte. Mann, Frau oder ungeschlechtlich – es war mir gleich gewesen, aber darum ging es ihr nicht. Ein eigener Körper würde sie einsperren und binden – von allen Netzwerken abschotten und das fürchtete sie. Ich hatte es verstanden. Eigentlich wollte ich das auch gar nicht ansprechen – nur meine Wut zum Ausdruck bringen, dass ich sie mit einem echten Körper hätte verletzen können ... Hm, jetzt im Nachgang schien mir selbst diese Andeutung extrem falsch. Ich schlug niemanden einfach so. Niemals.
<<Das schlafende Mädchen hat im Übrigen auch keinen Übergriff von Euch verdient!>>, dröhnte es mahnend in meinem Schädel, als ich zu Johanna ging. Mein Ziel war allerdings nicht sie, sondern einer der Schränke dort. Das hattest du sicherlich in Betracht gezogen, Heka, aber das kleine Geschütz, welches sich genau in diesem Moment von einer Kachel aus der Decke schob, sollte wohl auch keinen Spielraum für etwas Anderes lassen. Ach Heka, dachtest du ernsthaft, dass ich einen Hirnschaden davongetragen hatte? Dachtest du, ich würde sie mir jetzt nehmen? Das ich ihr, gegen meine eigenen Moralvorstellungen, etwas antun würde? Du mich dann betäuben musstest? Nun ... ich würde ihr gewiss nichts antun, aber vielleicht hatte ich ja doch irgendwie einen Knacks weg. Verdammt, keine Ahnung ... Frustriert über mich selbst sowie genervt von Heka und Johanna, kramte ich mir aggressiv ein trockenes Handtuch heraus. Aus einem weiteren Fach dann eine dunkle Unterhose und ... Hm, mein Hausmantel? Wo war der denn hin? Toll! Ich gab das lästige Gesuche sehr schnell auf, trocknete mich lediglich grob ab und zog mir die Hose an. Wie gerne hätte ich mich jetzt hingelegt ... aber nein! Ich schob diese hartnäckige Müdigkeit beiseite – versuchte es zumindest – und steuerte die Krankenstation an.
Ich ... ich musste doch noch so viel Zeit überbrücken – musste mich ablenken und da kam mein defektes Implantat genau richtig. Kraftlos setzte ich mich auf einen Stuhl neben der lichtdurchfluteten Arbeitsplatte, auch wenn ich wusste, dass bei meinem Zustand, etwas derart filigranes zerlegen zu wollen, wenig erfolgreich sein würde. Egal. Es war besser, als nichts zu tun. Und etwas Konzentration ... bekam ich dafür schon zusammen. Es gab immerhin genügend Mittel und Wege.
“Heka, gib mir bitte 15 Milliliter KX45”, sprach ich gähnend und keinen Moment später stellte sie mir auch schon einen Saft mit dem gewünschten Aufputschmittel hin. Ich leerte das Glas in einem kräftigen Zug und rief mir danach auf einem nahestehenden Bildschirm die Informationen auf, welche Heka bereits über das Implantat gesammelt hatte. Hm, leider lief der Abgleich der Datenbank noch, aber gut. Ich ließ eine Lupe aus dem Tisch fahren und besah mir das Teil unter einer extremen Vergrößerung an – suchte nach dem Herstellerzertifikat. Verdammt! Mir verschwamm auf einmal die Sicht gefolgt von einem leichten Schwindel ... So sollte KX45 aber nicht wirken. Ich gähnte erneut und fasste mir danach verwirrt an den Kopf ... Nein, so sollte das Zeug auf keinen Fall wirken! Ich wurde ja immer schläfriger ... hatte Heka sich mit der Menge vertan?
Taumelnd stand ich auf und steuerte einen Schrank, welcher nur aus Schubkästen bestand, an. “Seltsam”, murmelte ich, als sich aber keine davon mit einem Antippen öffnen ließ. “Heka? Öffne Fach B2, ich will mir das KasXal direkt spritzen, da offensichtlich die neuen Nanobots damit Probleme haben.” <<Dies wird nicht nötig sein.>> Ich runzelte die Stirn und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen! “Weil du mir was anderes gegeben hast, nicht wahr?!” <<Ich hatte ja gehofft, du schläfst einfach ein. Dann wär uns beiden diese Szene jetzt erspart geblieben.>> “SZENE?! Du-du hast mir was ins Getränk gemischt! DU! DU hast mich willentlich betäubt!” “W-was ist los? I-ich hab nichts gemacht!”, rief Johanna nun besorgt dazwischen, die sich ängstlich auf dem Bett aufgerichtet hatte.
<Nicht du, Johanna, er brüllt nur mich an. Ignoriere ihn getrost. Er bricht bei der Dosis ohnehin gleich zusammen.> Bitte?! Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte! Meine eigene KI verpasste mir heimlich Betäubungsmittel! ABER, mich betäubt niemand ungestraft! “VERDAMMT HEKA!”, brüllte ich und auch wenn ich es nicht wollte – es hasste wie die Pest – so konnte ich doch nichts dagegen unternehmen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Mir sackten die Beine weg und im selben Atemzug fingen mich zwei Greifarme auf. Heka. Sie beförderte mich rüber zum Sofa, welches sogleich automatisch die Lehne nach hinten klappte und eine breite Liegefläche offenbarte.
“Das ... wird dir noch ... leid tun”, keuchte ich dösig, als sie mich vorsichtig darauf bettete. <Ihr werdet später jedes Bisschen Eures Verstandes brauchen, wenn Ihr Eure Freundin vor Eurem Vater retten wollt. Von daher, schlaft jetzt endlich. Ich wecke Euch selbstverständlich rechtzeitig.> Meine Gedanken blieben bei dem Wort Freundin hängen. Ich schmunzelte und das, obwohl ich doch eigentlich stocksauer war. Ja, war ich auch und doch – als ich Dezerias Gesicht vor mir sah.