Wenn ich eins in meinem Leben nicht leiden konnte, dann war es berechenbar zu sein. Heka wusste dies. Gut. Mein Vater wusste es natürlich auch und würde sich sicherlich ebenso köstlich darüber amüsieren, aber dennoch nicht so kleinkindlich wie es Heka gerade tat. Er würde sich nie auf solch einen albernen Quatsch einlassen, nur um mich zu verarschen. Nein, es war schlicht unter seiner Würde ... und das wusste sie – sie wusste, dass ich diesem Text und dem lächerlichen Smiley dazu, glauben schenken würde. Ich war also wirklich bei mir. Ich war zu Hause. Herrlich! Ich fühlte mich mit einem Mal um Tonnen erleichtert.
Johanna zog das Tablet zu sich und streichelte vorsichtig meine Wange. Ich sah sie an. Ihr Blick war weich und besorgt, ja ... Angst fand ich auch darinnen, aber gerade war ich ruhig – gerade wollte ich sie nicht umbringen. “Heka hat gesagt, wenn ich das machen kann, ohne dass du versuchst, mir die Hand abzubeißen, soll ich dir Folgendes vorlesen: Johanna hat es also endlich geschafft, dich zur Vernunft zu bringen. Juhu. Wahrscheinlich aber doch nur mit Hilfe meines Textes. Dabei habe ich ihre Kleidung extra so gewählt, dass es dir sofort hätte auffallen müssen. Wir sind hier nicht auf dem Schiff deines Vaters, Reznick, sondern immer noch genau dort, wo du dir unüberlegt den Schädel weggegrillt hast.”
Ich runzelte erneut die Stirn ... Ihre Kleidung? Stimmt. Sie trug eine schlichte Uniform, welche vom Schnitt her meiner sehr ähnlich war. In der Farbkombination blau-weiß, die mein Vater auf den Tod nicht leiden konnte. “Gib hier seinem lädierten Gehirn ein paar Minuten, um sich dessen bewusst zu werden ... Oh, der Satz war nicht für dich”, sprach Johanna verlegen und sah mich entschuldigend an. “Ja ja, macht euch nur nen Spaß daraus. Ich werde nicht ewig hier untätig liegen”, sagte ich und lächelte, was deutliches Unwohlsein in ihrem Gesicht aufblitzen ließ. Ja, ganz recht, für diese Demütigung werde ich mich noch rächen, keine Sorge!
“Ich weiß ...”, seufzte Johanna daraufhin schwer und blickte zurück auf das Tablet. “Heka hat schon sowas gemeint, als ich dich wiederbelebt habe, dass ich keine Dankbarkeit zu erwarten habe. Dies tue ich auch nicht, Reznick. Ich bin nicht so naiv. Du wirst mich sicherlich dafür bestrafen, dass du jetzt nicht freikommst oder dass ich deine Betäubungsmittel immer wieder hochdosiert habe.” Sie seufzte noch einmal. “Ich lese jetzt einfach mal weiter: Wie dem auch sei. Nun zu dem Teil, warum du überhaupt dort liegst und Johanna dich anstelle von meiner überwachen muss. Ich habe weitere kritische Defekte festgestellt und einen hartnäckigen Virus gefunden, der offensichtlich durch den Angriff deines Vaters übertragen wurde. 76 Prozent meines Programmcodes wurden dadurch bereits beschädigt. Offensichtlich versucht es eine Kompromittierung meines Systems, was ich nicht zulassen kann. Ich sehe mich gezwungen, nach den Anweisungen für Johanna, mich sicherheitshalber ganz auszuschalten. Natürlich habe ich zuvor das Schiff vollumfänglich abgeschirmt und verriegelt. Es wird also unmöglich sein, in der Zeit Eurer Genesung auf irgendetwas zuzugreifen.” Ich stutzte, dies bedeutete ... “Ganz recht. Die Dame wird Euch entweder dabei helfen, wieder fit zu werden, oder aber hier drin mit Euch sterben.”
Johanna hörte auf zu lesen und legte das Tablet auf meinen Bauch. Sie drehte sich herum und kramte in einer Schublade, ohne mich auch nur einmal kurz anzublicken, obwohl Heka dieses Schiff meinetwegen zu ihrem Grab umfunktioniert hatte. Hm ... wollten da jetzt etwa Schuldgefühle aufkommen? Lächerlich! Heka war darauf konzipiert, mich am Leben zu halten. Nur mich! Das allein war die Aufgabe dieser KI. Ich hatte es selbst so programmiert. Ich empfand also keinerlei Schuld, Johanna damit zum Tode verurteilt zu haben. Nein. Nicht mal ein bisschen! Dennoch ...
“Ich danke dir”, sprach ich irgendwann, aber vermutlich sowieso viel zu leise, als dass sie es hören konnte. “Wofür?”, fragte sie doch nach und hielt eine große Injektionsspritze mit einer blau-silbernen Flüssigkeit in den Händen. Ich kannte es – Nanobots. “Nichts. Ich habe mit mir selbst gesprochen”, korrigierte ich mich schnell, denn dass ich überhaupt dieses Bedürfnis verspürt hatte, mich bei ihr zu bedanken, war schon seltsam. Wiederholen würde ich es aber definitiv kein zweites Mal!
“Verstehe ... Nun ... davor habe ich Angst”, sprach sie plötzlich nervös und hielt mir die Spritze vors Gesicht, damit ich den Inhalt besser sehen konnte. “Wegen der Substanz an sich oder dass es mir die Innereien zerfetzen könnte?”, erwiderte ich desinteressiert, denn mir war bewusst, was jetzt kam. Allein schon, dass sich in meinen Armbeugen dicke Schläuche befanden, in denen mein Blut lief. Heka filterte es vermutlich fortlaufend.
“Ja ... Ich mein ... ich will nicht wirklich sterben, aber Heka sagte, dass diese Art Adelstechnik bei den Meisten nicht funktionieren wird – es dich sofort umbringen könnte und somit auch ...” Sie schluckte und nahm leicht zittrig das Tablet an sich. “Ich glaube, ich lese jetzt besser den Teil mit deiner Gesundheit vor ... Vieles davon habe ich nicht verstanden, aber Heka meinte, das muss ich auch nicht. Wichtig ist nur, dass du wach bist und bei Verstand. Ich mach also weiter, ja?” “Ja! Mach halt!”, knurrte ich genervt, obwohl ich deutlich Furcht in ihren Augen sah sowie auch in ihrer Stimme hörte. Aber ... ich konnte nicht anders. Ich war geschwächt und ich hasste diesen Zustand. Hasste diese Form der Hilflosigkeit! “Oki ...”, flüsterte sie eingeschüchtert und tippte etwas auf dem Tablet herum, ehe sie bemüht ruhig weiter vorlas:
“Nun ... zu Eurem gesundheitlichen Stand. Der elektromagnetische Impuls hat natürlich all Eure Nanobots im Körper zerstört, sowie durch den Stromstoß einige Organe beschädigt. Herzversagen. Da ich mich durch Eure unüberlegte Aktion erst mal selbst rebooten musste, verging einige Zeit, bis ich die Krankenstation aufbauen und Euren Körper endlich an eine Herz-Lungen-Maschine anschließen konnte. Johanna hielt Euch übergangsweise mit primitiven Erste-Hilfe-Maßnahmen am Leben ... und brach dabei zwei Rippen ...” Sie stoppte und sah mich entschuldigend an, was für mich keinerlei Bedeutung hatte. Ich fühlte im Moment überall leichten Schmerz in meinem Innern und es würde gleich noch sehr viel schlimmer werden, also was machten da schon gebrochene Knochen?
“Ja? Und? Weiter!”, murrte ich, denn was sollte jetzt diese unnötige Verzögerung? “Entschuldige ...”, flüsterte sie und räusperte sich kurz. “Die ... die Dialyse sollte in der Zwischenzeit sämtliche dieser defekten Bots aus Eurem Blut gefiltert haben. Ich habe auch schon neue angefertigt, welche Johanna erst auf Eurem Befehl hin, verabreichen wird. Ihr wisst ja über die Risiken bescheid, ich will hier trotzdem noch einmal erwähnen, dass ... ein Scheitern bei 95,9 Prozent liegt. Sollte sich Euer Körper also dagegen wehren, wird eine Dauerschleife von Herzstillstand und Reanimation eingeleitet. Es können gravierende Nervenschäden ...”
Ich hörte nicht mehr länger zu, denn ernsthaft, Heka? Wieso hast du mir das alles aufgeschrieben? Für den Fall, dass ich weich in der Birne geworden wäre oder was?! Selbst wenn ... Selbst wenn ich einen Persönlichkeits- oder Erinnerungsverlust erlitten hätte und diese Behandlung aufgrund der ganzen Nebenwirkungen sowie vorprogrammierten Schmerzen abgelehnt hätte, so führte doch kein Weg daran vorbei. Ein paar meiner künstlichen Organe würden definitiv nicht korrekt ohne die Nanobots funktionieren. Auch meine ganzen Verbesserungs-, Kommunikations- und Waffenimplantate – eben sämtliche Modifikationen wären vollkommen sinnlos. Du wusstest dies und ich hatte dich auch extra so programmiert, dass du mich immer wiederherstellen solltest. Jedenfalls solange mein Vater noch lebte – solange ich ihn nicht getötet hatte, wollte ich leben ... Warum also nun dieses Theater deinerseits? Du wusstest, dass mir alles egal sein würde. Dieser Text von dir. Meine Verletzungen. Die Schäden am Schiff. Johanna. Einfach alles. Meine Welt bestand aus Gleichgültigkeit ... So verfluchter Gleichgültigkeit, dass ich mir jedes mal wieder unweigerlich die Frage stellte, warum ich überhaupt Leben wollte? Warum? Wäre ich nicht glücklicher, wenn ich einfach losließ? Das Versprechen meiner Mutter aufgab? Zu Leben ... was bedeutete dies schon? Hätte ich damals gewusst, was für eine Qual es mir bereitete, hätte ich ihr nie dieses Versprechen gegeben ...
Also Heka ... warum? Du wusstest das alles von mir. Das letzte Mal, als ich so stark beschädigt worden war, dauerte es über einen Monat, bis mein Körper endlich die neuen Bots akzeptiert hatte. Ich erlitt an manchen dieser Tage weit über 200 Herzstillstände. Lange Zeit danach fühlte ich mich sogar wie Tod, aber ich hatte es überlebt. Ich überlebte immer irgendwie. Also warum, hattest du mich nicht schon längst an diesen Höllenkreislauf angeschlossen? Wieso?
... Dezeria ...
Ich stutzte. Wo kam das plötzlich her? Wieso dachte ich an diese Frau? Sie war genauso unbedeutend ... Warte! Moment! Gott ... diese Kopfschmerzen brachten mich noch um!
... Dezeria ...
Scheiße! Es war doch ... Du warst ... Es fiel mir wie Schuppen von den Augen! Dezeria! Wenn mein Vater nichts von alldem hier geplant hatte, dann ... Verfluchte Scheiße! Entsetzt blickte ich zu Johanna, die noch immer fleißig irgendetwas vorlas: “ ... wach sein, für die Einsetzung. Nur durch dieses Verfahren würde die Technik vollständig mit Euch verschmelzen können und so fehlerfrei arbeiten, wie di–” “Dezeria! Was ist mit Dezeria!?”, rief ich panisch, denn der Gedanke, dass mein Vater sie hatte ... Nein! Es konnte nicht! Ich musste aufstehen! Ich musste sie holen!
Johanna sah mich verblüfft an, dann aber richtete sie ihren Blick schnell wieder aufs Tablet. “Er wird mit etwas Glück während deines Vortrags nach einer einzigen Sache fragen: Dezeria”, las sie noch vor und schien dann sichtlich erleichtert. Hö? Aber das beantwortete nicht meine Frage! “Antworte!”, knurrte ich wütend, denn wieso hatte ich dieses ungute Gefühl im Magen? War ihr vielleicht etwas passiert?! Scheiße! Wie lange war sie jetzt schon alleine da draußen? Wie lange war ich noch gleich bewusstlos gewesen? Verdammt! Mein Schädel ...
“Heka hat gesagt, das ist gut, wenn du so reagierst”, sprach Johanna wieder etwas, was mich nicht kümmerte. Verstand sie etwa nicht, was ich sagte?! “Ich bring gleich was qualvoll um, wenn du mir nicht antwortest!”, brüllte ich, aber auch dies schien sie wenig zu beeindrucken. Nja, wie auch? Ich war auf einem Untersuchungstisch festgeschnallt. RAARRWW! Meine Adern schienen platzen zu wollen vor lauter Frust, Wut, Hass – einfach ALLEM!
“SAG ES MIR!”, schrie ich und zerrte wie wild an den Fixierungen. Johanna beugte sich kurz in mein Sichtfeld und zeigte mir noch mal die Spritze. “Ich sag es dir, wenn du das hier überlebt hast”, sagte sie noch mit einem unsicheren Lächeln, ehe sie mir auch schon das Zeug injizierte ...
“Nein! Ich muss es jetzt wiss–” Ich brach mitten im Satz ab, da das Gefühl von blanker Säure mich schier lähmte vor Schmerz. SCHEIßE! Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen! Ich musste wissen, was mit Dezeria war! Johanna wusste etwas! Ich sah es für einen kurzen Moment in ihren Augen! SIE WUSSTE ETWAS! Vielleicht wusste sie, wo Dezeria war ... Verdammt! Ich konnte doch jetzt keinen Monat hier rumvegetieren! Nein, niemals! Ich hatte schon genug Zeit vergeudet! Dezeria ... bitte, warte auf mich, ja? Nur noch ein bisschen – nur noch einen winzigen Augenblick ... bitte ...
Mein Körper verkrampfte sich und ich spürte deutlich, wie alles in mir sterben wollte ... nein. Diesmal nicht! Diesmal hatte ich dafür keinen Nerv. Diesmal würde ich es nicht belanglos hinnehmen einen Weg im ständigen Wechsel zwischen Leben und Tod zu beschreiten. Nein. Ich hatte mich entschieden. Ich hatte mich für dich entschieden, Dezeria. Für dich. Ich wollte das erste Mal für jemanden leben. Für dich leben, Dezeria ...