Du gehst zu dem Stuhl, auf dem Gandalf eigentlich sitzen müsste. Im dunklen Wohnzimmer ist keine Spur des Zauberers zu sehen. Das Fenster steht offen, der Wind zerrt an den Papieren im dunklen Zimmer. Nicht einmal eine Kerze brennt.
Deine Panik steigt. Was sollst du denn jetzt machen?
Dein Blick fällt auf den Ring in Frodos Hand. Der Hobbit betrachtet das Schmuckstück irritiert und nimmt es in die andere Hand. Er macht Anstalten, es überzustreifen.
„Bilbos Ring“, sagst du.
Frodo zuckt zusammen, als er sich an deine Anwesenheit erinnert.
„Den hat er dir überlassen, mit seinem sämtlichen Besitz.“ Wenn Gandalf nicht da ist, musst du den Kram eben übernehmen! Hoffentlich hört Frodo auch auf dich. „Du musst ihn gut verwahren. Benutze ihn niemals.“
Frodo runzelt die Stirn. „Benutzen?“ Er tritt zu dir. „Wo sollen wir ihn hintun?“
Doch noch während Frodo auf dich zu kommt, siehst du eine Hand, die hinter Frodo aus der Dunkelheit kommt. Als sie seine Schulter packt, schreit der Hobbit erschrocken auf.
„Ist er sicher?“, fragt Gandalf. „Weiß auch niemand davon?“
Du atmest auf. Er ist wieder da!
Hilflos hält Frodo dem Zauberer den Ring entgegen. Der ergreift den Ring mit einer Feuerzange, rauscht mit wehendem Mantel an euch beiden vorbei und schmeißt den Ring in den Kamin, ehe er das Feuer entzündet.
Deine Erleichterung über sein Erscheinen weicht Verwirrung. Ist es für die Feuerprobe nicht noch etwas früh? Soll das bedeuten, dass Gandalf in der kurzen Zeit, die für dich vergangen ist, bereits in Gondor war und zurückkam?
„Was machst du denn da?“, ruft Frodo mehr ärgerlich als entsetzt.
Gandalf sieht konzentriert in die Flammen und hält die Zange bereit. Dann greift er zu und holt den Ring hervor.
„Strecke deine Hand aus“, sagt er zu Frodo. Dann, als der Hobbit zögert: „Keine Angst. Er ist ganz kühl.“
Der goldene Reif fällt in Frodos Handfläche. Du verspürst ein mulmiges Gefühl im Magen und kannst den Blick nicht abwenden. Zum ersten Mal nimmst du den Ring wahr, eine düstere, bedrohliche Präsenz im Raum. Ein Schauer läuft über deinen Rücken. Glühende Linien erscheinen auf dem Gold und werfen rote Schatten an die Wände. Das Licht tanzt über die Decke, Möbel und auch dich, als Frodo den Ring dreht und versucht, die elbischen Zeichen zu entziffern.
Gandalf seufzt schwermütig. Die Flammen im Kamin werden ruhiger. Die Brise, die von draußen hereinweht, ist kühl wie der Atem eines Nazgûls.
Wenig später sitzt ihr am Küchentisch. Inzwischen hat Frodo einige Kerzen entzündet, doch dass kein Essen mit auf dem Tisch steht, beweist, wie ernst die Lage ist. Behutsam erklärt Gandalf Frodo, welches mächtige Artefakt da auf seinem Esstisch gelandet ist.
Du kannst den Blick nicht vom Gold lösen. Der Ring scheint zu flüstern, sich im Feuerschein gar zu bewegen. Er hypnotisiert dich, bis Frodo ihn plötzlich schnappt und aufspringt.
„Also gut! Wir tun ihn weg! Wir verstecken ihn und sprechen nie mehr ein Wort darüber! Niemand weiß, dass er hier ist, hab ich recht?“ Frodo dreht sich zu euch um. „Hab ich recht, Gandalf?“
Gandalf atmet tief durch. „Es gibt noch jemanden, der wusste, dass Bilbo den Ring hatte.“ Sein Blick ist traurig. „Ich habe überall nach dem Geschöpft Gollum gesucht, aber der Feind hat ihn zuerst entdeckt.“
Du kannst die Angst spüren, die Frodo erfasst, als Gandalf von Gollums Folter berichtet. Anders als im Film gibt es hier keine Rückblende, und du siehst, wie Frodos Hoffnung erlischt, als er begreift, dass ihm keine andere Wahl bleibt.
„Auenland … Beutlin … Aber das wird sie herführen!“ Er macht einen Schritt auf Gandalf zu. „Nimm du ihn, Gandalf! Nimm ihn!“
„Nein, Frodo!“
„Du musst ihn nehmen, hier!“
„Du kannst ihn mir nicht anvertrauen.“ Gandalf weicht zurück.
„Ich gebe ihn dir!“, fleht Frodo.
„Versuche mich nicht, Frodo!“, donnert Gandalf.
Erschrocken macht der Hobbit einen Schritt zurück.
„Ich wage es nicht“, flüstert der Zauberer. „Nicht einmal, ihn zu verwahren.“ Sein Blick hängt an dem gefährlichen Kleinod, während er wie unter einem Bann von dessen Macht berichtet.
„Aber hier kann er nicht bleiben, im Auenland.“ Frodo sieht sich verständnislos um.
„Nein“, sagt Gandalf. „Nein, kann er nicht.“
Und jetzt versteht Frodo. Er lässt die Hand sinken. Hier und jetzt beschließt er, sein Abenteuer zu beginnen. Gezwungenermaßen, denn niemand lässt ihm eine Wahl. „Was muss ich tun?“
Gandalf rauscht ins Nebenzimmer und hilft Frodo dabei, ein paar Sachen zu packen. Währenddessen bespricht er mit ihm, dass Frodo zum Gasthaus reisen soll, während Gandalf versuchen wird, Saruman um Rat zu bitten.
Du zuckst zusammen. Natürlich weißt du, was Gandalf bei Saruman erwartet. Einen Moment lang willst du ihn am liebsten warnen. Du würdest ihm die Gefangenschaft ersparen und Frodo die Notwendigkeit, in Bree einem völlig Fremden zu vertrauen.
Du kannst dich aber bremsen. Wenn Gandalf nicht loszieht, wird er Sarumans Verrat auch nicht entdecken. Und wenn er Frodo aus Bree fortbringt, bleibt Aragorn am Ende hier und wird niemals König!
Das war es vermutlich, wovor Gandalf dich warnen wollte: Davor, dass du in die Geschichte eingreifst, was ungeahnte Folgen haben kann.
Ob du einfach nur ein Zuschauer sein sollst? Das kommt dir ebenfalls nicht richtig vor. Doch ehe du weiter darüber nachdenken kannst, raschelt etwas vor dem Fenster.
„Duckt euch!“, zischt Gandalf und nähert sich mit gezücktem Stab dem Fenster. Frodo und du duckt euch hinter den Tisch. Obwohl du weißt, wer vor dem Fenster sitzt, hältst du den Atem an.
Gandalf stößt zu und ein gedämpfter Schmerzlaut ertönt. Mit einem Schwung zerrt er Sam durch das Fenster herein und wirft ihn auf den Arbeitstisch. Dokumente stürzen zu Boden. „Bei meinem Barte! Samweis Gamdschie! Hast du etwa gehorcht?“
„Ich gehorche immer aufs Wort, ehrlich!“, stammelt Sam.
Du richtest dich auf und musst erleichtert grinsen. Egal, ob man weiß, was geschieht oder nicht – mittendrin zu sein macht auch die vertrauteste Szene noch einmal dramatischer. Und nach allem, was du an Zeitsprüngen erlebt hast, hätte auch Azog der Schänder im Rosenbeet hocken können!
„Verwandelt mich bitte nicht … in ein Ungeheuer!“, fleht Sam.
„Nein … voraussichtlich nicht …“, murmelt Gandalf und lächelt leicht. „Mir ist etwas Besseres für dich eingefallen. Packt eure Sachen“, befiehlt er dann. „Morgen brechen wir auf!“
Packe in Teil 58 deine Sachen! [https://belletristica.com/de/chapters/137219/edit]