Bilbos Geburtstagsfeier übertrifft alle deine Erwartungen. Aus den Gesprächen der Hobbits entnimmst du, dass auch ihre Erwartungen bei weitem übertroffen worden waren, und das, wo sie seit einem Monat kaum etwas anderes getan hatten, als dieses Fest zu erwarten. Du hörst Berichte von unzähligen Karren, die durch Hobbingen gezogen sind, von überlasteten Postämtern in Wasserau und von Aufträgen für sämtliche Wirte der Gegend. Auch über die unfassbaren Reichtümer, die sich in Beutelsend befinden sollen, wird reichlich geredet. Das müssen die durch unzählige Berichte aufgeblähten Schätze von Bilbos früherem Abenteuer sein.
„Hundertelf Jahre, unglaublich. Selbst der alte Tuk ist nur hundertdreißig geworden“, sagt ein Hobbit in der Nähe.
„Dafür sieht Bilbo noch echt gut aus.“
„Ja … sehr gut …“
Das Gespräch der beiden Angetrunkenen verebbt. Sie sehen einander einen Moment an, prosten sich dann zu und trinken weiter.
Überhaupt wird viel getrunken. Offenbar haben alle Wirte ihren Spezialtropfen gebracht, und die Hobbits arbeiten nun mit feierlichem Ernst daran, jedes Selbstgebraute auch zu probieren. Woanders befindet sich die offene Küche unter größer Belastung, da sie Speisen für alle herbeischaffen muss. Abgesehen von Hobbits siehst du dort auch einige Zwerge kochen, doch du kommst nicht nah genug heran, um zu sehen, ob du irgendwelche von ihnen erkennst.
Außer Bilbo feiert auch Frodo heute seinen Geburtstag, und zwar seinen dreiunddreißigsten, womit er nun nach Hobbitmaßstäben endlich erwachsen ist. Doch seine Feier geht neben Bilbos ziemlich unter. Ob Frodo sich daran stört? Vermutlich allerdings nicht. Du siehst ihn in der Menge mit einigen Hobbits tanzen.
Die betrunkenen Hobbits – und so gut wie alle sind bei Einbruch der Nacht betrunken – legen ihre Scheu dir gegenüber ab. Du vergisst bald alle Vorsicht und nutzt die wunderbare Gelegenheit, um dich mit Bilbo, Frodo, Sam, Merry, Pippin und Gandalf zu unterhalten. Du bist überrascht davon, wie stark sie den Charakteren aus den Filmen ähneln. Es ist, als wärst du mitten in die Dreharbeiten gestolpert – nur, dass nirgendwo Peter Jackson sitzt, „Cut!“ brüllt und den nervigen Zivilisten aus der Szenerie entfernen lässt. Und die Welt ist deutlich größer als nur die Szenen in den Filmen. Zum Beispiel das Geschenk in deinen Händen, das Bilbo dir bei der Begrüßung wie jedem anderen Gast überreicht hat. Es enthält einen wunderschön gearbeiteten Holzkreisel mit einer Art Starthilfe, einem Holzgriff mit Faden, der dazu benutzt wird, den Kreisel mit einer kräftigen Bewegung in schnelle Drehung zu versetzen. Das Holz fühlt sich warm an und ist mit buntem Lack verziert. Das Muster zeigt einen laufenden Hund in vielen Details, der sich, wenn man den Kreisel nicht zu schnell dreht, über das Holz zu bewegen scheint wie in einem Daumenkino. Oben auf dem Knauf steht ‚Thal‘. Solche Details sind es, die dich überzeugen, dass das hier nicht einfach nur ein Traum oder vielleicht eine gute VR-Welt ist. Du kannst das Bier schmecken, den Rauch der Feuerwerke riechen oder das Prickeln fühlen, wenn du in einem Schwarm bunter Feuerwerks-Vögel trittst und Funken über deine Haut knistern. Du kannst den Festbaum riechen, der im größten Zelt Platz findet, die Äste beladen mit leuchtenden Lampen, am Kopfende des längsten Tisches. Du verstehst noch nicht, wie du hier gelandet bist, aber das hier ist real.
Partys sind nicht immer deine Sache, aber diese hier gefällt dir unglaublich gut. Du probierst die verschiedenen Speisen, mischst dich unter das kleine Volk und genießt einfach die Atmosphäre. Du fühlst dich wie in einen perfekten Traum versetzt, und so merkst du kaum, wie die Zeit vergeht, bis du plötzlich Rufe hörst: „Eine Rede! Eine Rede!“
Du springst förmlich in die Luft, dann eilst du zum großen Zelt, wo Bilbo sich gerade unter dem hell erleuchteten Baum auf einen Stuhl stellt.
„Meine lieben Beutlins und Boffins“, beginnt er. Während er die weiteren Familien aufzählt, immer wieder durch Jubel und Rufe unterbrochen, wühlst du dich durch die Menge nach vorne.
Der Applaus wird lauter, sodass du Bilbo einen Moment kaum hören kannst. Atemlos kommst du in der vordersten Reihe an, nah an der Zeltwand. Nicht weit entfernt befindet sich ein kleiner Ausgang, nur einen Steinwurf von Bilbos Position entfernt.
„Ich will euch nicht lange aufhalten!“, ruft der Hobbit der Stunde. „Ich habe euch alle aus einem bestimmten Grund zusammengerufen.“*
Stille senkt sich über die Menge. Die Anspannung hängt fast greifbar in der Luft.
„Ja, eigentlich aus drei Gründen“, fährt Bilbo fort. „Erstens vor allem, um euch zu sagen, dass ich euch alle unerhört gern habe und dass einundelfzig Jahre eine viel zu kurze Zeit sind, um unter so vortrefflichen und bewundernswerten Hobbits zu leben.“
Die Menge klatscht Beifall, doch Bilbo ist natürlich noch nicht fertig.
„Ich kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.“
Ein paar Hobbits klatschen noch überrumpelt, doch die meisten starren Bilbo an. Man kann sehen, wie es hinter ihren Stirnen arbeiten, als sie versuchen, den Satz zu verstehen.
„Zweitens, um meinen Geburtstag zu feiern. Eigentlich sollte ich sagen: Unseren Geburtstag. Denn es ist natürlich auch der Geburtstag meines Erben und Neffen Frodo. Heute wird er mündig und tritt sein Erbe an.“
Die Hobbits klatschen erneut. Ein paar rufen „Frodo! Frodo! Braver, alter Frodo!“ Doch du fühlst die Anspannung, die sich noch nicht ganz verzogen hat, wie eine Gewitterwolke, die über der Gesellschaft schwebt.
„Zusammen sind wir hundervierundvierzig Jahre alt. Die Zahl der Tischgenossen sollte dieser bemerkenswerten Gesamtsumme entsprechen: Ein Gros, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf.“
Diesmal schweigt die Menge beleidigt. Besonders die Sackheim-Beutlins ziehen sauertöpfische Mienen.
„Außerdem ist es, wenn ich die alte Geschichte erwähnen darf, der Jahrestag meiner Ankunft mit dem Fass in Esgaroth am Langen See; obwohl ich die Tatsache, dass es mein Geburtstag war, damals übersehen hatte. Ich wurde nämlich erst einundfünfzig, und in diesem Alter sind Geburtstage noch nicht so wichtig. Das Bankett allerdings war großartig, obwohl ich zu der Zeit eine böse Erkältung hatte, wie ich mich erinnere, und nur „vülen Donk“ sagen konnte. Heute kann ich es ganz richtig wiederholen: Vielen Dank, dass ihr zu meinem kleinen Fest gekommen seid.“
Doch die Anwesenden schweigen. Du hörst jemanden leise flüstern: „Bitte kein Lied!“
Bilbo hebt den Kopf und betrachtet die Menge mit einem Blick, der plötzlich aufmerksam und wach ist, nahezu messerscharf. Du spürst unwillkürlich eine Gänsehaut.
„Drittens und letztens“, sagt der alte Hobbit, „möchte ich etwas kundtun.“ Er betont dieses Wort. „Ich bedaure, kundtun zu müssen, dass dies – auch wenn ich gesagt habe, einundelfzig Jahre in eurer Mitte seien eine viel zu kurze Zeit – das Ende ist. Ich gehe nun. Ich verlasse euch jetzt. Lebt wohl!“
Und vor den Augen der perplexen Menge verschwindet Bilbo. Ein heller Blitz blendet euch alle, und als ihr die Augen wieder öffnet, ist Bilbos Stuhl leer. Die Hobbits sitzen einen Moment sprachlos da, dann schreien sie auf und beginnen, durcheinander zu reden.
Niemand bemerkt, wie sich die Plane am Eingang bewegt, so als würde etwas Unsichtbares hinaus huschen – niemand außer dir.
- Bilbo folgen. Teil 36:
[https://belletristica.com/de/chapters/63066/edit]
- Auf der Feier bleiben. Teil 35:
[https://belletristica.com/de/chapters/63065/edit]
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*Die Rede entstammt Wort für Wort dem „Herrn der Ringe“ Band I, „Die Gefährten“ in der deutschen Übersetzung von Margaret Carroux.