Schweigend reichst du den Bogen rüber. Du hast noch nie etwas getötet. Natürlich ist es hier notwendig, denn ihr könnt in der Wildnis nicht von Beeren oder euren mageren Vorräten leben. Und die Jagd ist moralisch vermutlich um Längen besser als die Massentierhaltung deiner Heimat. Aber du fühlst dich dennoch nicht bereit.
Aragorn legt einen Pfeil ein. Ihr wartet, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, bis das Reh nah heran ist. Als Aragorn den Bogen hebt, senkt das Tier wie auf einen Befehl den Kopf. Offenbar gibt es dort vorne eine Wasserquelle oder etwas ähnliches – saftiges Gras, zum Beispiel. Streicher schien jedenfalls gewusst zu haben, wo der Rehbock anhalten würde. Als dieser grast oder trinkt, lässt Aragorn die Sehne los, ohne lange zu zielen. Das Reh macht zwar einen Satz, doch der Pfeil trifft es perfekt und schon sackt es zusammen.
Ihr steht beide auf. Aragorn lächelt stolz. „Das sollte die Hobbits satt machen.“
„Für einen Abend. Höchstens!“ Du schmunzelst.
„Morgen sehen wir weiter.“ Aragorn schüttelt den Kopf leicht. „Ich weiß nicht genau, was Gandalf sich dabei gedacht hat. Hobbits sind nicht für solche Reisen gemacht.“ Er macht eine kurze Pause. „Nun, der Zauberer wird schon wissen, was er tut. Wir können nur unser Möglichstes tun.“
Du verbeißt dir jeden Kommentar, aus Angst, dass deine Worte des Trosts zu viel verraten würden. Natürlich steckt in den Hobbits mehr, als man erahnt. Aber das weiß noch keiner hier, mit Ausnahme vielleicht von Gandalf. Vor allem wissen es die Hobbits selbst noch nicht! Nein, dein Wissen musst du für dich behalten.
Aragorn reicht dir das Reh. Da du es nicht geschossen hast, musst du es jetzt tragen. Das Gewicht auf deiner Schulter fällt dir kaum auf. Und es wird noch etwas leichter, als du die begeisterten Rufe der Hobbits hörst, mit denen sie eure Beute empfangen. Sam kümmert sich sofort um das Fleisch und bald erfüllt ein köstlicher Duft die Nacht. Der Rauch vertreibt gar einen Teil der Mücken. Du kannst förmlich spüren, wie sich die Stimmung mit einer warmen Flamme und einer warmen Mahlzeit hebt. Sogar der Regen hat aufgehört. Während die Hitze des Lagerfeuers dich trocknet, ertappst du dich dabei, dass du den Moment einfach genießt. Wenn es nach dir ginge, könnte jeder Tag so aussehen, dass man am Abend gemütlich am Feuer sitzt, eine gute Suppe oder einen Eintopf sitzt, den Grillen lauscht und die Sterne aufgehen sieht. Weit, weit weg vom Stress deiner alten Heimat. Es ist, als würde die Zeit stillstehen und die Natur nah heranrücken. Die Düfte der Landschaft, selbst der Moorgestank, sind friedlich und idyllisch.
Schließlich streckt ihr euch aus und bis auf das gelegentliche Klatschen, mit dem eine Mücke erschlagen wird, hört ihr nur das Knistern des verglimmenden Feuers. Erstes Schnarchen mischt sich hinein, während du zusiehst, wie die letzten Funken zu den Sternen aufsteigen.
- Erwache am nächsten Morgen. Teil 149: