Lily Evans
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Schmutziger, kiesiger Sand rieselte zwischen Lily Evans‘ Fingern hindurch und wurde vom sanften Sommerwind ein paar Meter weiter geweht, ehe er dutzende, kleine Rillen auf dem Seewasser verursachte. Lily saß mit angewinkelten Knien auf dem Boden und grub immer wieder eine Hand in den Boden, um noch mehr Sand hervorzuholen, den sie wieder fallen lassen könnte. Eine dunkle Schleife steckte in ihren kupferfarbenen Haaren und sorgte dafür, dass keine unbändigen Strähnen in ihre Augen fallen würden. Sommersprossen bedeckten ihre ganze Haut. Mit ihren grünen, glänzenden Augen hatte sie einen Punkt in der Mitte des Sees fixiert, ohne wirklich etwas zu sehen.
„Heya, Lily.“ Ein schwarzhaariger Junge in zu großen Klamotten und löchrigen Turnschuhen war neben ihr erschienen. Für andere sah er aus, wie ein obdachloses Kind, das auf der Suche nach etwas Kleingeld war, für Lily war es der Anblick ihres besten Freundes, Severus Snape, der sich grinsend den Schweiß von der Stirn wischte, bevor er sich neben ihr auf dem Boden niederließ. Severus war etwas kleiner als Lily, aber das störte sie gar nicht. Dafür wusste er ungefähr hundertmal so viel wie sie über Magie und Zauberei. Im Schatten des großen Baumes, unter dem sie saßen, sah seine blasse Haut noch etwas heller, ein wenig kränklich aus. Dunkle Ränder zierten seine ebenso dunklen Augen und er hatte eine frische Schürfwunde an der Wange.
„Hallo, Sev“, sagte Lily. Sie verengte die Augenbrauen und ließ den Rest des Sandes zu Boden fallen. „Was ist in deinem Gesicht?“
„Oh.“ Severus legte sich schnell eine Hand auf die Wange, an der auch die Wunde zu sehen war, ein fies aussehender dunkelroter Kratzer. „Das war nichts. Papa war gestern nur etwas sauer, aber das ist schon ok. Er hat nur einmal zugeschlagen.“
Lily verzog die Lippen zu einer dünnen Linie, aber sagte nichts mehr. Sie wusste, dass Severus eh nur verteidigend und abweisend werden würde, sobald sie seine Familie ansprach, auch wenn sie nicht verstand, warum er es ständig ertrug, dass sein Vater ihn schlug. Aber dann wiederrum verstand sie nicht, wieso ein Vater überhaupt sein Kind schlagen würde. Für sie waren Väter liebe Männer mit einem lauten Lachen und immer einem Bonbon in der Hosentasche. Sie langte in die Tasche ihrer kurzen Hose und holte die Süßigkeit hervor, die ihr Papa ihr gegeben hatte, bevor er zur Arbeit gefahren war. „Hier. Die mag ich eh nicht“, log sie, obwohl sie Waldmeisterbrauebonbons liebte.
Ihr bester Freund murmelte ein Dankeschön, bevor er die bunte Süßigkeit annahm und in den eigenen Tiefen seiner Hosentasche vergrub. „Am Wochenende fährt Mutter mit mir in die Winkelgasse und dann kaufen wir endlich meine Schulsachen. Willst du mitkommen?“
Nichts wäre Lily lieber als mit ihrem besten Freund in die magische Einkaufsmeile zu gehen und all ihre Schulsachen – am wichtigsten von allen, einen Zauberstab – zu kaufen, aber sie wussten beide, dass das nicht möglich sein würde. Sie schüttelte den Kopf. „Geht nicht“, sagte sie. „In meinem Brief stand, dass mich jemand abholen und die Sachen mit mir kaufen würde. Außerdem würde meine Mum es sicher nicht erlauben.“
Severus blickte zu Boden. „Ja, wahrscheinlich.“
„Dafür fahren wir immerhin in drei Wochen endlich los!“, sagte sie schnell und versuchte Severus damit aufzumuntern.
Der Schatten eines Lächelns kroch über sein Gesicht. „Stimmt. Ich glaube, das wird der glücklichste Moment meines Lebens werden, endlich nach Hogwarts fahren zu können. Endlich weg von dieser doofen Stadt und den doofen Leuten darin.“
Lily nickte eifrig. „Ohja. Auch wenn ich meine Familie bestimmt vermissen werde.“
„Wieso?“
„Wieso was?“
„Wieso wirst du sie vermissen? Es sind nur Muggel.“ Severus hatte die Lippen geschürzt und die Augenbrauen unmissverständlich zusammengezogen. „Zumal du sowieso viel zu gut für die bist. Du hast ja gehört, was deine Muggel-Schwester gesagt hat.“
„Hör auf, sie so zu nennen, Sev“, verlangte Lily mit zitternder Lippe. „Ich will nicht, dass du meine Schwester so nennst, Sev, das weißt du.“
„Aber sie ist so schrecklich zu dir!“
„Sie ist trotzdem meine Schwester!“ Lily verschränkte fest die Arme. Jetzt bereute sie es ein bisschen, dass sie ihm ihr Bonbon gegeben hatte. „Außerdem ist Tuni nicht schrecklich zu mir.“
Severus lachte humorlos. „Sie hat dich Freak genannt. Sie ist einfach nur neidisch, dass du was Besonderes bist und sie nur ein dummer Muggel.“
„Sev!“, rief Lily bestürzt aus, bevor dicke Tränen aus ihren Augenwinkeln ihre Wangen hinabfließen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. „Ich hab meine Schwester lieb, auch wenn sie gemein zu mir ist“, murmelte sie gedrückt.
Ein paar Minuten war es still um die beiden Kinder; der Wind rauschte über ihnen in den Blättern des Baums, das Seewasser schwappte gegens Ufer und irgendwo kreischten ein paar Autoreifen über die Fahrbahn, aber es waren keine Gespräche mehr zu hören. Dann, als es Severus zu still wurde, biss er sich heftig auf die Innenseite seiner Wange und sagte: „Tut mir leid, Lil.“
Lily Evans schniefte neben ihm und hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren rot und glänzten feucht. „Schon gut“, murmelte das Mädchen und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Ich weiß, dass Tuni nicht sehr nett zu mir ist und du sie nicht leiden kannst.“
„Ich kann sie schon leiden“, erzählte Severus die glatte Lüge, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich – naja, ich mag nur nicht, wie sie dich immer ankeift. Sie ist viel zu gemein zu dir. Dafür dass sie nur ein Mug-“, er stockte, schluckte hart und führte dann schnell fort: „Ich meine, dafür dass sie keine Magie hat.“
„Vielleicht hat sie ja Recht“, sagte Lily nach ein paar Momenten. „Weißt du, vielleicht bin ich ja ein Freak. Immerhin geh ich bald auf eine Schule für Hexen und Zauberer und weiß gar nichts übers Zaubern. Bestimmt bin ich die schlechteste in der Klasse“, fügte sie betrübt an.
„Gar nicht möglich“, meinte Severus kopfschüttelnd. „So schlau und toll wie du bist, kannst du gar nicht die Schlechteste sein.“
„Aber ich bin Muggelgeboren“, erwiderte Lily, als würde sie damit ein schlagfertiges Argument bringen. Weil sie wieder aufs Wasser starrte, bekam sie nicht mit, wie Severus kurz bei dem Wort zusammenzuckte und eine Hand zur Faust im Sand ballte. „Ich weiß gar nichts über Magie.“
„Das macht nichts.“
„Wohl.“
„Nein, ehrlich.“ Severus lächelte schmal. „Es gibt ganz viele Kinder, die aus Muggelfamilien kommen und die trotzdem tolle Hexen und Zauberer sind. Und ich wette, du bist jetzt eine bessere Hexe, als alle von ihnen zusammen.“
Das brachte Lily endlich auch zum Lachen. Ein kurzer, glockenheller Ton, der über den See schallte und dann erlosch, wie ein Feuer in einer Regennacht. „Danke, Sev, das ist sehr lieb von dir.“ Lilys Lächeln verflog aber schnell wieder. „Ich habe gestern Abend noch mal versucht mit Tuni zu reden, wegen dem Brief, den wir gefunden haben, weißt du noch?“
Als ob Severus den Brief je vergessen könnte. Es war eine sehr besten Erinnerungen, die Schadenfreude, die er gespürt hatte, als er gelesen hatte, dass Lilys ältere Schwester Petunia dem Schulleiter von Hogwarts geschrieben und gebettelt hatte, dass man sie ebenfalls aufnehmen würde und wie der Schulleiter ihr diese Bitte verwehrt hatte. Petunia war seitdem zwar sehr garstig zu ihrer Schwester und auch zu ihm gewesen, aber es hatte ihm sehr viel Freude bereitet, zu sehen, wie sie in ihrer eigenen Eifersucht zerging. Er nickte stumm und brummte zur Bestätigung, falls Lily es nicht sehen würde.
„Sie hat mich wieder angeschrien, als ich ihr gesagt habe, dass ich in der Schule ja mit Dumbledore sprechen könnte“, fuhr das Mädchen mit trauriger Stimme fort. Sie zerrupfte trockenes Laub in den Finger. „Hat gesagt, ich solle nicht mit ihr über meine Schule reden und mich wieder einen Freak genannt. Mama hat mit ihr gemeckert, aber Tuni hat mich trotzdem den restlichen Abend ignoriert, auch als ich ihr ein Eis angeboten habe, obwohl das ihr Lieblingseis war. Als ich dann ins Bett gegangen bin, hat Tuni mir durch den Spalt in der Zimmertür gesagt, dass sie es kaum abwarten könnte, bis ich endlich“, Lily stockte. Ihre Stimme versagte ihr und sie spürte schon wieder die Tränen, die sich in ihren Augen ansammelten. Sie holte tief Luft, aber brachte es nicht heraus.
„Bis du endlich nach Hogwarts fährst?“, fragte Severus leise und Lily nickte.
„Aber sie hat es nicht so fröhlich gemeint wie ich“, sagte sie und weinte wieder.
Severus wollte seiner besten Freundin sagen, dass sie einen feuchten Drachendung auf die Meinung ihrer doofen Schwester geben sollte, aber da sie schon einmal heute deswegen böse auf ihn war, verkniff er sich das. Stattdessen griff er mit seiner Hand nach ihrer und drückte sie ganz fest. „Warte nur ab“, meinte er. „Wenn wir in Hogwarts sind, dann kannst du vergessen, wie gemein Petunia immer zu dir ist und dann wirst du endlich erkennen, wie viel Spaß Magie machen wird. Wenn du dann zu Weihnachten nach Hause fahren wirst, dann kannst du deiner Schwester alles erzählen und dann wird sie dich um Vergebung anflehen.“ Natürlich glaubte er nicht daran, dass Petunia Evans ihre Schwester jemals wieder so behandeln würde, aber um Lilys Willen tat er zumindest so. Das musste reichen. Mit der anderen Hand popelte er in einem Loch in seinem Turnschuh und zerfranste den Stoff ein wenig mehr.
„Meinst du echt?“, fragte die schluchzende Lily.
„Na klar.“
Lily wischte sich ein weiteres Mal über die Nase. „Ok, du hast Recht. Ich werde alles für Tuni aufschreiben, damit sie sieht, wie toll es ist, wenn ich eine Hexe bin, weil ich ihr dann bei allem helfen kann. Und dann kann ich ihr bestimmt die Haare so färben, wie Mama es ihr verbietet und dann wird sie mich wieder lieb haben.“
„Das ist ein toller Plan“, sagte Severus, auch wenn er ihr nicht sagte, dass sie in den Ferien nicht zaubern dürfte. Er wollte ihr noch nicht den Spaß verderben. Sie würde es sowieso bald herausfinden, sobald sie in Hogwarts ankämen. „Aber solche Verwandlungen sind schwer. Ich weiß nicht, ob wir die schon in der ersten Klasse lernen.“
Lily schob eine Lippe nach vorn. „Dann werde ich es mir eben selbst beibringen“, sagte sie trotzig. „Das kann ja nicht so schwer sein.“ Verschwunden war ihre Angst, die schlechteste Hexe in der Klasse zu sein, wenn es nur darum ging, Petunia zu beweisen, dass es toll sein würde, wenn sie eine Hexe als Schwester haben würde.
„Aber pass auf, dass du ihr die Haare nicht aus Versehen abzauberst“, warnte Sev und lachte.
„Das wäre bestimmt lustig“, kicherte Lily mit der Hand vorm Mund. „Auch wenn Tuni dann bestimmt jeden Grund hätte, sauer auf mich zu sein. Ich werde den Zauber einfach vorher an dir üben“, fügte sie breit grinsend hinzu.
Sev wurde ein wenig dunkler an den Wangen, als er sagte: „Ich will nicht dein Versuchskaninchen spielen.“
„Sei nicht so“, erwiderte Lily. „Es ist für einen guten Zweck!“
Der blasse Junge seufzte leise. „Ich kann es kaum erwarten, endlich richtig zaubern zu dürfen“, meinte er. „Ich werde total viele Zauber erfinden, die noch niemand vorher genutzt hat.“
„Das geht?“, fragte Lily mit großen Augen und lehnte sich etwas näher. „Wow!“
Severus nickte wichtig. „Es ist sehr schwierig, natürlich“, erklärte er gewichtig, „aber wenn man es will, dann kann man das schaffen. Wenn ich schon meinen Zauberstab hätte, dann könnte ich bestimmt schon längst meine eigenen Zauber nutzen.“
„Cool“, hauchte Lily beeindruckt. „Ich glaube, ich freue mich am meisten auf Zaubertränke.“ Nachdenklich tippte sie mit einem Finger an ihr Kinn. „Das ist wie Chemie, oder? Und auf Chemie hatte ich mich eigentlich in der Oberstufe so sehr gefreut. Gibt es auch Zauber-Biologie?“
„Nein“, erwiderte Sev lachend. „Sowas müssen wir nicht lernen.“
„Wieso nicht?“, fragte Lily.
„Naja. Wir brauchen es nicht, glaube ich.“
„Aber warum? Biologie ist doch wichtig! Was ist mit Mathe und Englisch?“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es gibt sowas wie Zauber-Mathe, aber das ist sehr kompliziert.“
Lily verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. „Das ist ja komisch“, schloss sie. „Aber wie soll ich denn irgendwann arbeiten, wenn ich gar kein richtiges Englisch kann?“
„Ich“, fing Sev an, aber stockte, als ihm klar wurde, dass er keine richtige Antwort wusste. „Vielleicht brauchst du kein richtiges Englisch, wenn du als Hexe einen Job suchst. Es gibt immerhin ganz viele Jobs, für die man nur gut zaubern muss. Zum Beispiel Heiler! Das sind –“
„Oh, das sind die Zauber-Ärzte, oder?“, unterbrach Lily aufgeregt. „Ich glaube, sowas finde ich spannend. Meinst du, ich wäre eine gute Heilerin?“ Mit den Fingern tat das Mädchen so, als würde sie ein Stethoskop in den Ohren haben und versuchte Severus‘ Herzschlag zu messen.
Lachend wand er sich aus ihrem Spiel. „Ganz bestimmt“, sagte er. „Und ich werde ein angesehener Professor oder ein Erfinder.“
„Und wir sind dann immer noch Freunde, ja?“, fragte Lily. „Auch nach Hogwarts sind wir dann immer noch Freunde, nicht wahr, Sev?“
„Natürlich.“ Severus nickte eingehend und griff ein weiteres Mal nach Lilys Hand. Er ließ sich auf den Rücken nieder und starrte in die dichte Baumkrone über ihnen. Das Rascheln neben ihm verkündete, dass Lily sich ebenfalls hingelegt hatte. „Wir bleiben für immer die besten Freunde, egal was passiert.“