Sirius Black
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Als der Himmel vorm Fenster immer dunkler und der Gemeinschafstraum immer leerer wurde, schickte der Vertrauensschüler Frank Longbottom sie alle ins Bett. „Wenn ihr morgen früh verschlaft, dann wartet der Zug nicht auf euch“, sagte er. „Also los, hoch mit euch und dann Licht aus.“
Grummelnd und unschöne Dinge über Frank murmelnd, schleppten sich die vier Erstklässler in ihren Schlafsaal. Die Vorhänge rund um Montanas Bett waren bereits zugezogen und der andere Junge schnarchte. Ohne viel zu reden, damit sie ihren Mitbewohner nicht aufwecken würden, zogen sie sich ihre Pyjamas an und begaben sich in ihre Betten. Sirius konnte hören, wie James in seiner Schublade nach seinem Vorrat an Bertie Botts Bohnen kramte (die Sirius bereits alle verdrückt hatte) und konnte ebenfalls das leise, vertraute Rascheln aus Remus‘ Richtung hören, als dieser noch ein paar letzte Seiten vor dem Schlafengehen las. Obwohl keine Lampe mehr brannte und die Wolken den Himmel verdeckte, konnte sein seltsam blasser Mitbewohner nur allzu gut in der Dunkelheit lesen. Vielleicht hatte er einen lichtlosen Lesezauber entdeckt, überlegte Sirius gähnend, bevor er sich tief in seine Kissen drückte und die Augen schloss.
Schon bald mischte sich Peters Schnarchen mit dem von Monty und dem gleichmäßigem Atem der anderen beiden Betten nach zu urteilen, waren James und Remus ebenfalls eingeschlafen. Sirius lag noch lange wach. Er starrte an die Decke seines Himmelbettes, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und versuchte nicht an den morgigen Tag zu denken.
Es dauerte lange, bis er einschlief, aber als er endlich schlief, träumte er schlecht. Im Traum war er bereits im Grimmauldplatz Nummer 12 und die Vorhänge seines Bettes hatten sich in Gefängnisgitter verwandelt. Sirius rüttelte an ihnen und schrie, dass man ihn rauslassen sollte, aber auf der anderen Seite der Gitter standen nur seine Freunde und lachten ihn aus.
„Du hast echt geglaubt, ich würde dich zu mir nach Hause einladen wollen?“, lachte James gehässig. „Als ob ich Abschaum wie einen Black bei mir dulden würde!“
„Wir wären alle besser dran, wenn du einfach in Slytherin wie der Rest deiner Familie gelandet wärst“, sagte Peter mit einem bösartigem Grinsen. „Du gehörst hier nicht her, du bist kein Gryffindor.“
„Du hast Recht, ich habe ein Geheimnis.“ Remus‘ Stimme war die Einzige, die nicht allzu verändert klang, aber er blickte Sirius dennoch mit Ekel in den Augen an. „Mein Geheimnis ist, dass ich dich nicht ausstehen kann und wünschte, du würdest einfach verschwinden!“
Seine Freunde lachten und in ihre Stimmen mischten sich auch die von Lily Evans und Marlene McKinnon, die zwar nichts sagten, aber mit den Fingern auf ihn zeigten, als wäre er ein Tier im Muggelzoo. Narzissa erschien zwischen seinen Freunden. „Hättest du doch auf mich gehört, Sirius“, sagte sie traurig, bevor sie sich abwandte und Platz für seinen Vater machte.
Orion Black sah im Traum noch bedrohlicher aus. Sein fein säuberlich zurückgekämmtes, pechschwarzes Haar glänzte im Schein einer unsichtbaren Lampe. Er starrte Sirius aus hasserfüllten, dunklen Augen an, sein Mund war dünn und hart. „Abschaum“, zischte er. „Schwächling. Feigling. Deine Mutter hätte dich direkt nach deiner Geburt ertränken sollen.“ Er hob seinen peitschenähnlichen Zauberstab an.
Sirius rüttelte mit Tränen in den Augen an den Gitterstäben. „Lasst mich doch raus, bitte“, schrie er. „Ich werde auch gut sein, ich schwöre es!“
„Du bist kein Black mehr, Sirius!“, keifte Orion Black und ließ einen Folterfluch auf seinen Sohn los.
Sirius schrie. Es waren die schrecklichsten Schmerzen, die er je gespürt hatte. Sein ganzer Körper stand in Flammen, Messerstiche durchbohrten sein Haut, unsichtbare Hände zerrten an seinen Eingeweiden, etwas drückte sein Herz zusammen und drohte es zu zerquetschen, eisige Nadeln stachen in seine Augen und -
„Sirius!“
Der Schmerz ließ nach, als Orion seinen Stab sinken ließ. „Die Enttäuschung der Familie Black“, sagte er.
„Sirius!“
„Du bereitest deiner armen Mutter nur Kummer und Sorgen. Sie hat alles für dich gegeben, hat ihre Träume und Wünsche geopfert, damit du leben kannst und so dankst du es ihr?“ Orion schüttelte den Kopf. „Crucio!“
Vor seinen Gitterstäben lachten James und Peter und Remus und Lily und Marlene und sein Vater und Narzissa und Kreacher tanzte vor Freuden im Kreis, als er sah, wie Sirius gefoltert wurde und inmitten den Leute sah er seinen kleinen Bruder, der schrie: „Endlich bekommst du, was du verdienst, Sirius!“
„Sirius!“
„Lasst mich“, schrie Sirius, der sich auf dem Boden eingerollt hatte. „Lasst mich, lasst mich, lasst –“
Mit einem wortwörtlichen Schlag erwachte Sirius schwer atmend. Tränen klebten auf seinen Wangen und Schweiß bedeckte seine Stirn. Es war stockfinster, noch immer mitten in der Nacht. Schwerfällig richtete Sirius sich auf und erst da bemerkte er den dunklen Schemen, der auf seinem Bett hockte.
„Heilige Scheiße“, flüsterte Sirius, als er Remus‘ besorgtes, blasses Gesicht in der Dunkelheit ausmachen konnte. „Schon mal was von Privatsphäre gehört, Lupin?“
„Du hast um dich geschlagen“, sagte Remus leise. „Im Schlaf.“
Heiße Scham stieg in ihm auf und er hoffte inständig, dass Remus seine roten Wangen nicht sehen würde. „Ich hab vom Boxen geträumt“, log er. „Ich bin Weltmeister geworden.“
„Sirius“, murmelte Remus. „Ich hab dich doch gehört. Du hattest einen Albtraum.“
„Hatte ich nicht“, beharrte der junge Black. „Es war – höchstens ein unangenehmer Traum, nichts weiter.“
Remus seufzte leise. „Du hast von deiner Familie geträumt, nicht wahr? Du hast die ganze Zeit Lasst mich, lasst mich gemurmelt und um dich geschlagen.“ Der andere Junge zog die Beine an seine Brust. „Ich träume auch oft schlecht.“
„Wirklich?“, fragte Sirius, der vollkommen vergessen hatte, zu verneinen, dass er einen fiesen Albtraum gehabt hatte. Der Folterfluch hatte sich viel zu echt angefühlt. Noch immer kribbelte seine Haut.
„Ja, schon lange“, nickte Remus in der Dunkelheit. „Aber ich hab“, er stockte kurz und biss sich auf die Lippe, „ich hab dann jemanden, der mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird.“
„Ich –“, fing Sirius an, aber brach ab. Er rieb sich die Augen und drehte den Kopf von Remus weg, als seine Augenwinkel wieder verräterisch anfingen zu brennen. Er hasste es zu weinen. Sein Vater hatte ihn immer einen Schwächling genannt, wenn er geweint hatte, schon als kleinen Jungen. Einmal war Sirius im Garten von Black Manor vom Apfelbaum gefallen und hatte sich den Arm gebrochen, aber Orion hatte ihn nur angebrüllt, dass er gefälligst nicht wie ein Baby heulen sollte. Sirius hasste es, wenn er weinte, aber er hasste es noch mehr, wenn andere ihn beim Weinen sahen. „Mir geht’s gut“, murmelte er mit gedrückter Stimme.
„Mir hilft es immer, wenn ich darüber rede“, sagte Remus. „Meine Mutter sagt –“
„Ich sagte, mir geht’s gut“, zischte Sirius wütend. Er starrte den anderen Jungen an, doch Remus verzog keine Miene. Stattdessen lächelte er ihn schwächlich an.
„Es ist wirklich schwer mit dir befreundet zu sein, wenn du uns immer versuchst wegzustoßen, wenn es dir nicht gut geht, Sirius.“ Remus schnaubte leise. „Meinst du, ich weiß nicht, dass du uns seit Tagen anlügst? James kannst du vielleicht vortäuschen, dass dein Weihnachten nicht so schlimm wird, aber mir machst du nichts vor, Sirius. Du kannst ruhig mit uns – mit mir darüber reden.“
Für einen Augenblick sah Sirius seinen blassen Freund wütend an, dann wurde seine Miene sanfter. Er ließ seinen Blick nach unten fallen und drückte die Hände in seinem Schoß zusammen. „Ich will – ich meine, ich kann nicht. Es – es ist nicht so – du verstehst das nicht.“
„Du wärst überrascht, wie viel ich verstehen kann“, meinte Remus. „Ich lese diese ganzen Bücher nicht umsonst.“
Sirius lachte leise. „So mein ich das nicht, du Arsch. Ich kann einfach noch nicht –“, Sirius holte tief Luft. „Ich schaff das schon allein. Sie sind meine Familie und ich komme mit ihnen klar.“ Wie sollte er Remus denn erklären, dass Sirius viel zu viel Angst davor hatte, mit seinen Freunden über die Behandlung seiner Eltern zu reden, weil es dadurch nur noch realer werden würde? Wenn nur er davon wusste, dann konnte er sich einreden, es sei nur ein Traum. Eine grausame Realität, die sich sein Kopf ausgedacht hatte und die niemals so passieren würde. Welche Mutter würde ihr Kind denn in einen Keller mit einem Dementor sperren? Welcher Vater würde seinen achtjährigen Sohn dazu zwingen, bei der Enthauptung des alten Hauselfen zuzugucken? Welche Eltern würden ihr Kind mit Flüchen bedrohen, damit es tat, was sie verlangten? Sirius wollte – konnte – nicht glauben, dass das echt war. Solange er es für sich behielt, war es nicht echt.
Remus betrachtete Sirius für einen sehr langen Moment, dann nickte er kurz angebunden. „Deine Entscheidung“, sagte er. „Aber wir sind da, wenn du reden willst.“ Er hatte bereits die Beine vom Bett geschwungen und war halbwegs zu seinem eigenen Bett, als er mitten in der Bewegung stockte.
Ohne es zu bemerken, hatte Sirius Remus am Handgelenk festgehalten. „Kannst du“, fragte er mit leiser, zittriger Stimme, „kannst du bleiben?“ Er rückte näher ans andere Ende des Betts. „Bitte?“
Die angespannten Schultern des anderen Jungen fielen in sich zusammen und sein Gesichtsausdruck wechselte von harter Überraschung zu einem sanften Lächeln. „Na klar.“ Remus kroch unter Sirius‘ Decke und legte sich mit dem Gesicht zu seinem Freund.
„Danke“, murmelte Sirius kaum hörbar. „Aber –“
„Ich sag James nichts davon“, versprach Remus. „Du hast mein Wort.“
Sirius nickte und schloss die Augen. Er atmete tief ein und aus.
Der elfjährige Remus Lupin ließ zu, dass der zwölfjährige Sirius Black unter der Decke nach seiner Hand suchte und sie festhielt.