Lily Evans
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Die Große Halle am nächsten Morgen zu finden, entpuppte sich als schwieriger, als Lily sich vorgestellt hatte. Am Vorabend war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Schloss, die sich bewegenden Treppen und vor allem die lebendigen Portraits zu betrachten (eines der Bilder hatte ihr sogar zugewunken, als sie vorbeigegangen war), als sich den Weg zu merken, den sie gegangen waren und als sie in den Gemeinschaftsraum getreten war, war keine Spur von der Gryffindor-Vertrauensschülerin gewesen, die sie zum Frühstück begleiten wollte.
„So schwer kann das doch nicht sein“, sagte Mary Macdonald, als sie, Lily und Marlene McKinnon am Fuß der Treppen stehenblieben. „Ich weiß, dass wir im siebten Stock sind und die Große Halle ist im Erdgeschoss. Eigentlich müssen wir nur runter gehen, oder?“
„Wenn die Treppen da mitspielen würden“, gähnte Marlene.
Lily verschränkte die Arme. „Vielleicht gibt es ja einen Trick, oder einen Knopf, um sie auszuschalten.“
Mary warf ihr einen belustigten Blick zu. „Schön wärs, aber ich glaube nicht, dass Hogwarts so modern ist. Mein Radio funktioniert ja auch nicht.“
„Das liegt an der ganzen Magie in der Luft“, erklärte Marlene. „Alles, was mit dieser Muggel-Sache angetrieben wird, funktioniert nicht. Wie heißt es noch, Ekelzät oder so?“
„Elektrizität“, sagten Mary und Lily gleichzeitig. Lily war mehr als froh, dass eine ihrer Klassenkameradinnen ebenfalls Muggelgeboren war, da fühlte sie sich direkt viel sicherer. „Aber ist ja auch egal“, führte Mary fort, „es wäre doch gelacht, wenn wir den Weg zum Frühstück nicht finden würden!“
Die drei Gryffindor-Schülerinnen machten sich daran, die vielen hundert Treppenstufen hinabzusteigen, nur zwischendurch aufgehalten, wenn sich eine der Treppen dazu entschied, in ein anderes Stockwerk zu führen oder eine der Türen sich partout nicht öffnen ließ. Einmal fiel Marlene mit dem Fuß durch eine unsichtbare Trickstufe und musste von Mary und Lily herausgezogen werden, aber es dauerte nur eine halbe Stunden, bis die drei Mädchen schließlich ihren Weg in die Große Halle gefunden hatten.
„Wenn wir uns den Weg erst einmal gemerkt haben, dann geht das hoffentlich schneller“, grummelte Marlene, die immernoch mies auf die Treppen zu sprechen war, bevor sie sich ihren Teller mit Rührei belud.
Obwohl es der erste offizielle Schultag für alle Schüler war, war die Große Halle noch recht ausgestorben. Tatsächlich waren Lily, Mary und Marlene die einzigen Gryffindor-Erstklässler, die ihren Weg bereits nach unten gefunden hatten – von den Jungs war überhaupt keine Spur. Einige der älteren Schüler hatten bereits ihre Stundenpläne erhalten und vollendeten die letzten Schliffe an ihren Sommerhausaufgaben, während selbst der Lehrertisch noch recht ausgestorben wirkte. Der Schulleiter fehlte und so auch die strenge Lehrerin, die sie eingeteilt hatte, deren Namen Lily vergessen hatte.
„Lily, guck jetzt nicht hin, aber am Slytherin-Tisch beobachtet dich jemand total unheimlich“, flüsterte Marlene, die ihr gegenüber saß und über ihre Schulter schielte.
Lily drehte sich um. Am anderen Ende der Halle saß ein schwarzhaariger Junge mit einem finsteren Blick, dessen ganzes Gesicht sich aufhellte, als er sah, dass Lily ihn bemerkt hatte. Lily grinste und winkte ihm zu, dann drehte sie sich wieder zu ihren Schulkameradinnen. „Das ist nur Sev“, sagte sie auf Marlenes perplexen Blick. „Ich kenn ihn von Zuhause, wir wohnen im selben Ort.“
„Ist er auch Muggelgeboren?“, fragte Mary, die sich ein großes Stück Toast in den Mund schob.
„Nein“, erwiderte Lily kopfschüttelnd. „Seine Mum ist eine Hexe, aber sein Dad ein Muggel.“ Sie verzog das Gesicht. „Es ist komisch, das zu sagen.“
„Er sieht unheimlich aus“, kommentierte Marlene trocken und erntete dafür einen sehr bösen Blick von Lily. „Ist doch so!“
„Tut er nicht“, verteidigte sie ihren besten Freund. „Wenn man ihn erst richtig kennt, dann weiß man, dass er eigentlich richtig nett ist.“
Marlene murmelte etwas, das Lily nicht verstand, aber es war in dem Moment auch nicht mehr so wichtig, denn die strenge Lehrerin von gestern Abend betrat die Halle durch eine Nebentür. Als sie Lily, Mary und Marlene erblickte, kam sie mit strammen Schritten auf sie zu.
„Guten Morgen, die Damen“, sagte sie.
„Guten Morgen, Professor“, erwiderte Mary.
Die Lehrerin teilte den drei Mädchen ihre Stundenpläne aus. „Wo haben Sie denn den Rest ihrer Klasse gelassen?“, fragte sie. „Oder hat der Vertrauensschüler Sie nicht nach unten begleitet.“
„Wir haben den Weg allein gefunden, Professor“, erklärte Lily.
„Nun gut“, sagte die Lehrerin und schürzte die Lippen. „Ich werde wohl ein Wörtchen mit unseren Vertrauensschülern haben müssen, damit das nicht noch einmal vorkommt – ah. Da sind sie ja schon. Entschuldigen Sie mich.“ Die Professorin eilte zum Eingang der Halle, durch den gerade ein stämmiger Junge in Begleitung von fünf wesentlich kleineren Jungs gekommen war. „Mr. Longbottom, haben sie Miss Fortescue gesehen?“
Der Vertrauensschüler wurde rot im Gesicht. „Sie“, fing er an und räusperte sich. „Sie ist noch in der Dusche, Professor McGonagall.“
McGonagall schnalzte mit der Zunge. „Sie hat ihre Pflichten versäumt, ihre Schützlinge zum Frühstück zu geleiten. Sagen Sie ihrer Freundin doch bitte, dass das nicht noch einmal vorkommen soll.“
„J-Ja, Professor.“ Der Vertrauensschüler scheuchte die Erstklässler zum Tisch, bevor er sich mit hochrotem Kopf umwandte und wieder aus der Halle huschte.
Professor McGonagall ging zu den Jungs, die sich gerade gesetzt hatten. Sie betrachtete jeden von ihnen für einen Moment, dann sagte sie: „Richten Sie bitte ihre Krawatte, Mr. Potter. Mr. Black, ihr Hemd ist falsch herum.“ Sie teilte den Schülern ihre Stundenpläne aus, dann beugte sie sich leicht nach vorne. Ihre geflüsterten Worte gingen im Tuscheln der anderen Schüler und dem Frühstückslärm der Halle unter, aber der Junge, mit dem sie gesprochen hatte, nickte hektisch und starrte dann wieder auf seinen Teller. Er war ziemlich blass und hatte einige Narben im Gesicht.
Kaum war die Professorin außer Hörweite gegangen, beugten sich die beiden Jungs vor, mit denen Lily und Severus am Anfang ihrer Zugreise ein Abteil geteilt hatten, und fingen an, mit dem blassen Jungen zu reden. Lily zog die Augenbrauen zusammen und wandte den Blick von ihnen ab, damit sie wieder mit ihren eigenen Klassenkameradinnen reden konnte.
Mary hatte den Stundenplan bereits fleißig studiert und erzählte Lily aufgeregt: „Guck, wir haben heute Verwandlung und Zaubertränke!“ Sie deutete mit einem Finger auf die Spalte. „Und nach dem Mittagessen haben wir Geschichte der Zauberei!“
„Darauf solltest du dich nicht allzu sehr freuen“, sagte Marlene mit dem Mund voller Speck. „Professor Binns‘ Unterricht soll sterbenslangweilig sein.“
„Ich fand Geschichte immer sehr spannend“, erwiderte Mary mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Lily zuckte mit den Schultern. „Zaubertränke klingt interessant“, sagte sie. „Wie ist… Professor Slughorn denn so?“ Lily blickte vom Stundenplan wieder zu Marlene.
„Marek – also, mein Bruder – hat gesagt, Slughorn wäre kompetent, aber würde zu sehr Favoriten spielen. Schüler, die er gern hat oder die aus einer wichtigen Familie kommen, behandelt er wohl besser als den Rest. Aber dann wiederrum war Marek eine richtige Niete in Zaubertränke und hat gerade Mal ein A zusammenkratzen können.“
„A?“, fragte Mary.
„Oh, das heißt Annehmbar“, erklärte Marlene. „Hier bekommt man keine Zahl als Note wie in der Muggelwelt.“ Sie drehte ihren Stundenplan um, kramte eine Feder aus ihrer Tasche und schrieb sechs Buchstaben mit den dazugehörigen Begriffen in eine Reihe. „Hier“, sagte sie und schob das Blatt zu Lily und Mary. „Ohnegleichen ist die beste Note, dann kommt Erwartungen Übertroffen, Annehmbar, Mies, Schrecklich und zuletzt Troll. Man braucht mindestens ein Annehmbar, damit man das Fach besteht.“
Lily studierte das Notensystem mit gekräuselten Augenbrauen. „Troll? Das ist echt eine Note?“
Marlene grinste. „Ist es. Marek hat mal ein T bei McGonagall bekommen und ich glaube, das hat sie ihm bis heute nicht verziehen. Wenn du ein T bei einem Lehrer bekommst, dann musst du mindestens drei Monate Extra-Aufgaben machen, um das wieder auszubügeln, ansonsten halten sie dir das ewig vor.“
„Wie kompliziert“, meinte Mary seufzend. „Warum können die Zauberer nicht auch einfach Noten von Eins bis Sechs geben?“
„Zu einfach“, sagte Lily schulterzuckend. „Irgendwie müssen sie sich wohl von den Muggeln abheben.“