Sirius Black
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Das Festessen konnte für Sirius‘ Geschmack nicht schnell genug vorbeigehen. Er schaufelte sich lediglich eine Portion seiner Lieblingsspeisen in den Rachen und verbrachte auch nicht viel Zeit mit den Desserts, für die die Hauselfen sich mal wieder selbst übertroffen hatten. Peter war bei seiner zweiten Portion einer fantastisch aussehenden Schokoladen-Karamell-Torte, während James sich eher an die Berge an Eiscreme gemacht hatte, die in einhundert und mehr Geschmacksrichtungen auf den Tischen verteilt standen. Sirius knabberte etwas lustlos an einem Muffin mit Blaubeeren herum.
Endlich, endlich war es so weit, dass der Schulleiter sich erhob. „Ein jeder von euch ist gefüttert und gewässert und will jetzt nur noch in die weichen Federn eines noch weicheren Bettes fallen. Ich werde euch diesen Wunsch nicht verwehren. Gute Nacht und schlaft gut!“
Vertrauensschüler an allen Tischen sprangen auf und sammelten die Erstklässler um sich. Sirius murmelte: „Geht schon vor“, zu seinen Freunden, dann drängte er sich die Menge, die alle gleichzeitig die Halle verlassen wollte. Er quetschte und schubste und drängelte sich durch die Masse an Schülern, wurde von Fünftklässlern böse angeguckt und guckte daraufhin Drittklässler säuerlich an, als sie ihm den Weg versperrten. Von den Massen getragen, geriet Sirius in der Eingangshalle in einen Strudel an Schülern, die sich trennten, um in ihre jeweiligen Gemeinschaftsräume aufzusuchen und er musste sich flach an eine Wand drücken, damit er nicht von einer Bande Hufflepuffs mit in die Kerker gezerrt wurde.
Sirius sammelte seine Kraft zusammen, als er endlich den weißblonden Schopf seiner Cousine Narzissa erkannte, die eine ganze Schar an Slytherin-Erstklässlern hinter sich hatte. „Zissy!“, rief er laut. „Narzissa!“
Die Vertrauensschülerin stockte. „Sirius?“, fragte sie mit einer gewissen Kälte in der Stimme, als würde sie mit jemandem reden, mit dem sie in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden wollte. „Was willst du?“
„Mit Regulus reden.“
„Wieso glaubst du, Regulus würde mit dir reden wollen?“, stellte sie die Gegenfrage mit einem fiesen Lächeln auf den roten Lippen.
„Klappe zu, Zissy. Jetzt lass mich zu ihm.“
Narzissa presste die Lippen aufeinander, schüttelt kurz den Kopf, dann wandte sie sich an ihren Vertrauensschülerkollegen. „Bring den Rest schon runter, ich komm mit Regulus gleich nach.“ Sie griff in die Menge und zog eine kleinere Version von Sirius heraus, der alles dafür tat, seinem Bruder nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Sirius“, sagte Regulus distanziert und höflich, als würde er mit einem der Lehrer sprechen. „Wie kann ich dir helfen?“
„Was soll das, Reggie? Kannst du deinem eigenen Bruder nicht mal mehr in die Augen gucken?“
Regulus wartete, bis seine Mitschüler all in der Kerkertür verschwunden waren, dann sagte er: „Narzissa, kannst du uns kurz allein lassen?“
Narzissa schürzte die Lippen. „Das würde ich lieber nicht. Du weißt ja, wie Sirius sein kann.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte Sirius laut und ging einen Schritt auf Narzissa an.
Diese zuckte nur mit den Schultern. „Du hast es gerade mal wieder für mich bestätigt. Schreckliches Temperament, Sirius, wirklich, daran musst du arbeiten.“
„Ich kann gerne daran arbeiten, dir dein hübsches Gesicht zu zertrümmern“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ah“, meinte Narzissa lächelnd. „Du willst doch einer Vertrauensschülerin nicht drohen, oder doch? Ich könnte deinem Haus jetzt schon fünfzig Punkte für dein freches Verhalten abziehen und noch mal zwanzig, weil du bald außerhalb der Speerstunde im Schloss herumläufst. Oder ich schreibe Tante Walburga einfach, wie sich ihr ältester Sohn mal wieder benimmt“, fügte sie gurrend hinzu.
Sirius ging einen Schritt nach hinten, ballte die Hände zu Fäusten und sagte dann, mit der ruhigsten Stimme, die er aufbringen konnte: „Dürfte ich vielleicht allein mit meinem Bruder reden, Narzissa?“
„Na schön. Reg, ich warte unten auf dich.“ Narzissa drückte Regulus eine Hand an die Schulter, dann verschwand sie mit wehendem Haar ebenfalls in der Kerkertür.
Zurück blieben die beiden Black-Brüder in einer leeren Eingangshalle. Das entfernte Geräusch von Stimmen und einhundert Paaren von Füßen, die die Treppen hinaufkletterten, echote zu ihnen, ansonsten war es still. „Ich“, fing Sirius an, „ich meine – wie gefällt es dir auf Hogwarts?“
Regulus zuckte kaum sichtlich mit den Schultern. „Habe noch nicht viel gesehen, oder?“
„Natürlich, das war – tut mir leid.“ Seufzend fuhr er sich durch die langen, schwarzen Haare. „Reggie, ich –“
„Es tut mir leid“, rief Regulus aus und unterbrach damit seine Bruder.
„Es tut dir leid?“
„Es tut mir leid, dass ich nicht wie du bin“, sagte Regulus schnell. „Ich habe es versucht, aber das bin ich nicht. Und der Hut hat gesagt, ich würde sehr gut nach Slytherin passen und würde dort Freunde fürs Leben finden. Der Hut sagt, ich hätte all die guten Qualitäten, die man in Slytherin so schätzt, aber er hätte mich auch nach Ravenclaw gesteckt, wenn ich gewollt hätte, aber – aber ich wollte nach Slytherin.“ Er atmete schwer und traute sich noch immer nicht, Sirius ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte er mit seinen grauen Augen die Schulter seines Bruders.
Diese fielen in sich zusammen. Sirius nahm eine tiefen Atemzug. „Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte er leise.
„Aber du –“
„Ich kann dir nichts vorschreiben, Reggie. Hätte ich es schön gefunden, wenn ich nicht allein in Gryffindor gewesen wäre? Klar. Bin ich ein bisschen enttäuscht, weil du nach Slytherin eingeteilt wurdest? Darauf kannst du Gift nehmen.“ Sirius seufzte fahrig. „Glaub aber bloß nicht, ich wär dwe Mum und Dad und würde versuchen, dich dazu zu zwingen, etwas zu tun, was du nicht willst.“
„Sie sind nicht so schlecht“, sagte Regulus. „Mum und Dad, meine ich. Sie – ich meine, sie haben uns trotzdem lieb und du musst zugeben, du machst es ihnen nicht gerade leicht.“
Ärger wuchs in Sirius. „Ich mache es ihnen nicht leicht?“
„Sie wollen nur das Beste für uns!“
„Das Beste für sich, meinst du wohl“, schnaubte Sirius wütend. „Wann haben Mum und Dad denn je gefragt, was wir wollen? Es geht nicht um uns, Reggie, es geht darum, was wir tun sollen, damit wir in ihr Bild passen. Du hast sicherlich mitbekommen, wie enttäuscht sie waren, als ich nicht nach Slytherin gekommen bin.“
„Du – naja.“ Regulus blickte endlich auf, in seinen Augen schwamm Ungewissheit mit. „Ich glaube, du wärst gut in Slytherin gewesen. Mum und Dad hätte es glücklich gemacht. Sie wären stolz auf dich gewesen.“
„Ha!“ Sirius lachte kurz und laut auf. „Den Stolz können sie sich sonst wohin stecken. Ich brauch ihren Stolz nicht, Reggie. Wenn sie nicht sehen können, dass ich nicht ihre Marionette bin, dann haben sie Pech.“
„Und was ist mir?“, fragte der jüngere der Brüder. „Was soll ich machen? Einfach zusehen, wie du alles tust, um unsere Eltern als die Bösewichte darzustellen? Kannst du nicht einmal normal sein, Sirius?“
Sirius‘ Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um Regulus‘ Oberarm, sodass der Jüngere kurz zischte. „Hör zu, Reggie“, sagte er und lockerte seinen Griff, „ich vergesse nicht so leicht, wie Mum mir die Stimme für ein paar Wochen geklaut hat, oder wie Dad mich mit seinem Gürtel geschlagen hat, oder wie sie mich in den Teich mit den Grindelohs geworfen haben, auch wenn du wohl gerne ignorierst, dass unsere Eltern keine Heiligen sind.“
„Wenn du dich einfach so verhalten hättest, wie sie es verlangt hätten, dann wäre das alles nicht passiert!“, rief Regulus wütend aus und kratzte an Sirius‘ Hand. „Lass mich los!“
„Schiebst du jetzt mir die Schuld zu, dass ich –“
„Lass mich los!“
„Flipendo!“ Die Tür zu den Kerkern knallte lautstark gegen die Wand und Sirius wurde ein paar Meter durch die Halle geworfen, bevor er mit einem Krach auf dem Boden aufkam. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und für einen Augenblick sah er Sterne. Sein Hinterkopf brannte wie Feuer. „Zwanzig Punkte Abzug für Gryffindor, Sirius und jetzt verschwinde in deinen Gemeinschaftsraum!“ Narzissas Stimme wehte wie ein höhnischer Albtraum zu ihm herüber. „Sollte ich noch einmal sehen, dass du deinen Bruder so behandelst, dann werde ich dich nicht so sanft sein. Komm, Regulus.“
„Reggie“, krächzte Sirius auf dem Boden und drückte sich auf, aber Narzissa hatte Regulus bereits mit in die Kerker entführt. „Scheiße.“
Scham wallte über ihn, als ihm Tränen die Wangen hinabflossen und Sirius wischte sich wütend übers Gesicht. Er starrte seine Hände für einen Moment an und ballte sie zu Fäusten. Wie konnte er nur so dumm sein und seine Beherrschung verlieren? Fluchend stand er auf, Schmerzen brannten sich gegen seinen Hinterkopf und er war sich sicher, dass er Blut in seinen Haaren spürte. Er blickte noch einmal zurück zur Kerkertür, dann stopfte er die Hände tief in seine Tasche und stapfte die sieben Stockwerke zu seinem Gemeinschaftsraum hinauf.