Remus Lupin
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Die Verwandlung war lange nicht mehr so schlimm gewesen. Remus erwachte in kaltem Schweiß und mit dutzenden frischen Wunden am ganzen Körper, blaue Flecke, Schürfungen und dicke Stellen bedeckten seine Haut wie ein radikales Kunstwerk und jeder Atemzug brannte in seiner Lunge, als wäre sie mit Feuerwhisky gefüllt. Der Junge kam nur halb zum Bewusstsein. Er wusste, er lag auf dem Boden, ein Arm schmerzhaft unter seinem Körper eingeklemmt und der Pein zufolge, die seinen linken Fuß einnahm, hatte er sich mehr als nur einen Knochen gebrochen. Der widerwärtig metallische Geruch von Blut lag in der stickigen Luft – von seinem Blut.
Remus stöhnte vor Schmerzen, sein Mund war trocken und voller Haare. Er spuckte und versuchte sich aufzurichten, aber ein blinder Schmerz raste wie ein Blitz durch seinen Körper, ließ ihn wieder zusammensacken. Seine Finger waren blutig gekratzt, die Nägel rissig und abgebrochen, die Haut war aufgebrochen und blutig. Jeder noch so seichte Luftzug schickte eine neue Welle an feurigen Schmerzen über seine Haut.
Obwohl er die Augen kaum öffnen konnte, konnte er einen Teil seiner Umgebung erkennen. Er war nicht im Keller seiner Eltern, da waren keine massiven Betonwände, die den Krallen des Wolfes standhielten. Überall war nur Holz. Zersplitterte Dielen brachen in die Luft an den Stellen, an denen Remus versucht haben musste, hindurchzubrechen, ein Stuhl lag mit Biss- und Krallenspuren einsam und verlassen in einer Ecke, eins der Stuhlbeine war abgerissen und den Zahnabdrücken nach zu urteilen als Kauspielzeug verwendet worden. Dem alten Piano fehlten ein paar Tasten, aber es war größtenteils noch intakt. Die Vorhänge, die um das Bett gehangen hatten, waren zerrissen worden, Stofffetzen klebten an den Wänden wie Blutlachen. Lediglich die verrammelten Fenster waren gänzlich unberührt. Remus konnte nicht sagen, ob er versucht hatte, die Bretter davonzureißen oder ob die Magie, die sie schützte, einfach stark genug war, damit nicht einmal ein Werwolf einen Kratzer hinbekommen würde, aber es kümmerte ihn auch nicht wirklich. Wichtig war nur, dass die Hütte standgehalten hatte.
Remus schaffte es, die dünne Decke unter dem Bett hervorziehen und warf sie sich mit schmerzhaften Bewegungen über den geschundenen Körper. Wenn er versuchen würde, aufzustehen und sich ins Bett zu legen, dann würde er sich nur noch mehr verletzen und für eine Nacht hatte er sich genug angegriffen. Er wartete auf dem kühlen, schmutzigen Boden. Mit brennenden Tränen in den Augenwinkeln bemerkte er die massiven Pfotenabdrücke, die sich in den Staub gepresst hatten. Seine Abdrücke. Er legte eine Hand darauf. Sie war um ein Vielfaches kleiner als die Pranke des Wolfes.
Er musste wieder eingeschlafen sein – hatte vielleicht auch nur das Bewusstsein wieder verloren – aber als er das nächste Mal die Augen öffnete, begegnete er den besorgten Augen Madam Pomfrey. „Oh, Merlin sei Dank“, rief sie erleichtert aus. „Für einen Moment dachte ich – aber du bist ja wach.“ Die Heilerin hatte dunkle Schatten unter den Augen und das Weiß ihrer Augäpfel war blutunterlaufen. „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen“, sagte sie, als hätte sie Remus‘ Blick bemerkt. „Die ganze Zeit war ich so in Sorge.“
„Schon gut“, wollte Remus sagen, aber er verschluckte die meisten Silben und alles, was seinem Mund entkam, war ein leises Krächzen.
„Bleib liegen, Schatz“, sagte Madam Pomfrey fahrig. Sie hatte die Decke eng um seinen Körper gewickelt, damit er nicht gänzlich entblößt vor ihr liegen musste. „Ich muss mir erst einmal all diese Verletzungen ansehen.“
Die Heilerin arbeitete schnell und präzise. Sie schloss kleinere Schnitte und Kratzer mit ihrem Stab, ließ Blutungen stoppen und reduzierte blaue Flecken zu kaum erkennbaren Hautirritationen. Seine zerstörten Fingernägel ließ sie wieder nachwachsen und nachdem sie seine Haut gereinigt hatte, schloss sie auch die Wunden an Fingern und Knöcheln, bevor sie einen Verband beschwörte. Trotz ihrer sanften Arbeit tat jede Berührung weh. Sie heilte seinen gebrochenen Fuß und legte eine Schiene an, flickte ebenso zwei gebrochene Rippen, die Remus nicht einmal mehr bemerkt hatte und ließ lange Krallenspuren auf seinem Bauch und den Oberschenkeln verschwinden, bis lediglich feine, rote Schlieren zu erkennen waren. „Ich kann nicht alles verschwinden lassen“, murmelte die Heilerin, als sie zum dritten Mal in Folge mit ihrem Stab auf eine besonders garstige Verletzung an seinem Rücken drückte.
„‘S ok“, murmelte Remus. „Bin an Narben g’wöhnt.“
Madam Pomfrey sah aus, als wollte sie etwas darauf erwidern, aber sie schüttelte lediglich den Kopf. Sie half Remus in eine aufrechte Position. „Ich kann es nicht fassen“, murmelte sie. „Seit sechs Jahren geht das so. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst. Ich habe noch nie von – aber so junge Leute werden meist auch nicht… deine armen Eltern müssen jedes Mal krank vor Sorge sein – man muss doch besser helfen können –“ Anstatt direkt mit Remus zu reden, murmelte die Heilerin säuerlich vor sich hin, während sie noch einmal seinen Körper auf Verletzungen untersuchte, die sie übersehen hatte.
Remus hatte es nicht in sich, ihr zu sagen, dass sie sich bloß keine Sorgen machen sollte. Wahrscheinlich würde er eh auf taube Ohren stoßen. Madam Pomfrey sah nicht so aus, als würde sie auch nur ein Widerwort akzeptieren, egal wie seicht es auch wäre. Es wäre besser, wenn er sie wütend murmeln ließ.
Als sie sich sicher war, dass die gröbsten und schlimmsten Verletzungen und Wunden geheilt waren, reichte sie Remus den Pyjama, den er gestern Abend ausgezogen hatte und bestand darauf, ihm beim Anziehen zu helfen, auch wenn er protestierte. „Es gibt nichts an dir, was ich nicht schon ein Dutzend Mal gesehen hätte“, meinte sie brüsk, auch wenn der Junge bemerkte, dass ihre Augen über seine vielen Narben flackerten, zu denen sich heute eine neue gesellen würde.
Wenn er dachte, sein Körper würde schon wehtun, wenn er nur den Pyjama anzog, dann war es nichts im Vergleich mit dem Rückweg in den Krankenflügel. Obwohl Madam Pomfrey so langsam ging, wie sie es zuließ und ihn mit beiden Händen sachte stützte, war es eine Qual. Noch nie musste Remus den Folterfluch spüren – einen Unverzeihlichen Fluch, der dem Opfer die schlimmsten Schmerzen überhaupt bereiten würde – aber er glaubte, er würde damit zurechtkommen, wenn er diesen Morgen überstand. Jeder Schritt tat weh. Alles in seinem Körper schrie. Zwei Mal wäre er fast eingeknickt und musste von der mütterlichen Hexe gestützt werden. Die Strecke von den Ländereien zum Krankenflügel war nur eine kurze, aber mit Remus‘ Kondition brauchten sie trotzdem so lange, dass die Sonne mittlerweile gänzlich über den Wipfeln des Verbotenen Waldes aufgegangen war. Die warmen Strahlen waren wie ein Friedensangebot der Welt auf seine Haut.
Im Krankenflügel angekommen, wollte Remus nichts anderes, als in die weichen Laken zu fallen und für die nächsten einhundert Stunden zu schlafen. Madam Pomfrey hatte ihn gerade zum Bett geführt und die Vorhänge um ihn herum gezogen, als sie Gesellschaft bekamen.
„Schulleiter!“, rief Madam Pomfrey überrascht aus, als niemand anderes als Albus Dumbledore durch die Pforten des Krankenflügels trat.
Albus Dumbledore war ein höchst seltsamer Mann. Seine Haare und sein Bart waren weiß wie Schnee und beide so lang, dass er sie in seine Gürtelschnalle stecken konnte. Er trug einen purpurfarbenen Umhang mit goldenen Stickereien und Mustern, die niemand wirklich verstand, außerdem hohe, schwarze Stiefel mit hohen Haken sowie einen passenden Hut zum Umhang. Sein Gesicht war zwar mit den Zeichen des Alters versehen, aber strahlte noch immer unglaubliche Macht und unendliches Wissen aus. Grelle, blaue Augen glänzten hinter einer Halbmondbrille hervor, die das frühe Sonnenlicht einfing und in kleine Flecken auf den Boden warf. Er lächelte. „Poppy“, sagte Dumbledore mit einer warmen, tiefen Stimme, bei der Remus an einen liebenden Großvater dachte. „Ich bin gekommen, um ein paar Worte mit dem jungen Mr. Lupin zu wechseln, wenn es keine Umstände macht.“
Jede andere Person hätte dem Schulleiter Hogwarts‘ diesen Wunsch wohl ohne jede Widerworte erfüllt, aber Madam Pomfrey war aus einem sehr unterschiedlichen Holz geschnitzt. „Bei allem Respekt, Albus“, fing sie an und riss die Vorhänge um Remus‘ Bett zu, sodass der Junge nur noch nie die Stimmen der beiden Erwachsenen vernehmen konnte, „aber der Junge braucht Ruhe. Ich werde ihm sogleich verschiedene Tränke geben, die ihm helfen werden, zu heilen und zu schlafen und –“
„Ich verstehe, Poppy“, unterbrach Albus sie sanft. „Gib mir eine Minute.“
Madam Pomfrey senkte die Stimme und obwohl sie nur noch flüsterte, kamen ihre Worte klar und deutlich bei Remus an. „Du hast ihn nicht gesehen, Albus. Sowas – sowas habe ich noch nie gesehen“, sagte sie fassungslos. „Er lag wie der Tod persönlich auf dem Boden, überall Blut, diese ganzen Verletzungen – der arme Junge kann kaum atmen, ohne Schmerzen zu erleiden. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich kann nichts gegen Werwolfverletzungen tun.“
„Es ist das traurige Schicksal des jungen Mr. Lupin“, erwiderte Dumbledore. „Ich kann mir nur vorstellen, wie du dich fühlen musst, Poppy“, Remus stellte sich vor, wie der Schulleiter der aufgebrachten Heilerin den Arm tätschelte, „aber ich denke – und Remus wird mir sicherlich zustimmen – dass niemandem geholfen ist, wenn du dich in Sorge verlierst. So schwierig es auch ist, aber Mr. Lupin musste sich nicht das erste Mal verwandeln.“
„Albus!“, sagte Madam Pomfrey protestierend, doch es war nicht geholfen.
Im nächsten Moment drückte Dumbledore die Vorhänge sanft zur Seite und trat neben Remus‘ Bett. Der spielerische Glanz aus seinen Augen war verschwunden, als er die frischen Verletzungen auf Remus‘ Haut entdeckte. „Es tut mir leid, dass ich dich belästigen muss“, sagte Dumbledore und senkte leicht den Kopf.
„Das ist okay, Sir“, erwiderte Remus schnell, fühlte er sich doch etwas seltsam, wenn der Schulleiter ihn so behandelte. „Wie kann ich Ihnen helfen, Professor Dumbledore, Sir?“
Ein eher trauriges Lächeln erschien auf Dumbledores Lippen. „Ich komme nur vorbei, um von dir zu hören, wie deine Nacht gelaufen ist, Remus.“
„Meine Nacht, Sir? Ich – es tut mir leid, aber ich kann nicht viel sagen. Wissen Sie, ich erinnere mich nicht daran, wenn ich mich verwandle.“
„An überhaupt nichts?“, fragte der Schulleiter.
„Ich –“, fing Remus an, aber stockte dann. Jetzt, wo der erwachsene Zauberer es ansprach, schien es, als wäre eine Blockade in seinem Kopf gelöst worden. Unzusammenhängende Bilder flossen vor seinen Augen auf und ab.
Wolfspfoten, die an brüchigem Holz kratzten, ein lautes Heulen, als der Wolf seine Krallen gegen die Falltür presste, die so unwiderstehlich nach Mensch roch, beißender Schmerz in seinem Bein, als Splitter sich tief in seine Haut jagten, der Geschmack von Holz und Blut im Maul, Zähne, die in sein eigenes Fleisch bissen, ein lautes Knacken, als der Wolf wütend gegen die Wand sprang und einen Ausweg suchte, Schmerz bei jedem Schritt, Pfoten im Staub, Krallen an den Fenstern, Zähne im Stuhl… Das unmissverständliche Gefühl der Angst, als der Wolf erkannte, dass er nicht mehr in seinem alten Heim war, als er das erste Mal die Holzwände sah, als er mit lautem Heulen nach den Gerüchen der Menschen suchte, die immer in seiner Nähe waren, nach den Gerüchen der Eltern des Menschen in ihm und als er sie nicht fand, die Realisation, dass er komplett allein war, verlassen selbst von denen, die ihn liebten und –
Remus versuchte es so gut zu beschreiben, wie er konnte und als er fertig gesprochen hatte, nahm Madam Pomfrey langsam die Hände von ihrem Gesicht und wischte sich über die tränenden Augen. Dumbledore allerdings weinte nicht. Er nickte verständnisvoll und dankte Remus.
„Es wird Zeit, dass du dich ausruhst“, sagte Dumbledore. Er hatte sich bereits zum Gehen umgewandt, blickte allerdings noch einmal über die Schulter zum Jungen auf dem Bett. „Viele ausgewachsene Zauberer würden bei deinen Erfahrungen den Verstand verlieren. Du bist wesentlich stärker, als du vielleicht glaubst, Remus, vergiss das nicht. Wir wissen beide, dass die Welt ein unfairer Ort für jemanden wie dich ist und dass du es nicht verdient hast, so leben zu müssen, aber in jeder Dunkelheit kann man eine Spur des Lichts finden. Du bist ein sehr starker Mensch, Remus.“
Professor Albus Dumbledore verließ den Krankenflügel und kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, holte Madam Pomfrey die angekündigten Zaubertränke hervor. Noch immer glänzten Tränen in ihren Augen und sie konnte ebenso eine gesunde Portion Schlaf vertragen, aber bevor sie überhaupt an sich denken konnte, eilte sie um Remus herum. „Hier, Liebling, nimm die.“ Sie drückte ihm einen Trank nach dem anderen in die Hand, einer schmeckte widerlicher als der zuvor. „Die helfen der Heilung“, erklärte sie fahrig. „Und hier“, sie gab Remus einen letzten Becher voll mit durchsichtiger Flüssigkeit, die hoffentlich kein Vergessenstrank war, „der wird dich ohne Träume einschlafen lassen.“
Remus hatte kaum den Becher geleert, da wurden seine Augen auch schon schwer. Er bekam gerade noch mit, wie Madam Pomfrey die Decke über seinen Körper warf und ihn bis zum Kinn darin einwickelte, dann war er auch schon eingeschlafen.