Lily Evans
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Lily wollte protestieren, wollte ihr sagen, dass sie das nicht musste, aber ihre Beine bewegten sich von selbst. Sie folgte Alice den Korridor entlang, folgte ihr die Reihen an Fenster, Portraits und Statuen entlang, bis sie schließlich vor einer unscheinbaren Holztür standen. Es gab keine Indikatoren dafür, dass sich Professor McGonagall dahinter verbergen würde, aber kaum hatte Alice eine Hand gehoben und an der Tür geklopft, schwang die massive Holztür nach innen auf.
Der Raum dahinter war geräumig, mit einem schicken Schreibtisch, an welchem die strenge Hexe bereits saß. Ein Fenster in ihrem Rücken zeigte auf den schwarzen See. Ein kleiner goldene Apparat, den Lily als Spickoskop erkannte, stand auf dem Schreibtisch, daneben ein Dutzend an schweren, ledergebundenen Büchern. Ein leerer Käfig hing von der Decke links hinter McGonagall und an der Wand daneben bedeckte ein riesiger Wandteppich den Stein. Die andere Wand war mit einem Kaminsims geschmückt, auf dem ein paar gerahmte Fotografien standen, sowie ein goldener Pokal und eine glänzende Medaille. Lily konnte nicht erkennen, wofür beide Trophäen waren.
„Miss Fortescue, Miss Evans“, sagte die Professorin knapp. „Was kann ich für sie tun?“
Alice wartete, bis Lily von selbst redete, aber Lily, die nicht wusste, wie sie den Mund öffnete, verblieb verstummt. Ein lautloses Seufzen entkam ihr. „Tut mir leid, dass wir Sie stören, Professor, aber ich fürchte, Lily wurde durch die heutige Schlagzeile im Tagespropheten sehr aufgewühlt.“
Der strenge Blick verließ McGonagalls Augen, stattdessen kehrte etwas ein, dass Lily fast schon als sanft bezeichnen würde. Die Hexe am Tisch nickte. „Vielen Dank, Miss Fortescue, Sie dürfen gehen. Seien Sie so gut und teilen Sie Professor Flitwick mit, dass Miss Evans es nicht zu seinem Unterricht schaffen wird.“
„Dankeschön, Professor“, erwiderte Alice, schenkte Lily ein aufmunterndes Lächeln, legte ihr noch für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, bevor sie kehrt machte und das Büro verließ. Ihre Schritte hallten noch für einige Sekunden nach, dann fiel die Tür von allein zurück in ihre Angeln.
„Setzen Sie sich, Miss Evans. Nehmen Sie sich ein Gebäckstück.“ McGonagall schob eine handelsübliche Gebäckdose über den Tisch, während sie Lily mit aufmerksamen Augen beobachtete. Sie wartete, bis Lily sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gesetzt hatte, faltete die Hände vor sich zusammen und fragte dann: „Wenn ich mich richtig erinnere, kommen Sie nicht aus Worcester, nicht wahr?“
Überrascht hob Lily die Augenbrauen an. „Ich – Nein, Professor. Aber - Aber Worcester ist nicht weit von meiner Heimat entfernt, wissen Sie, deswegen dachte ich –“
„Es gab keine Berichte darüber, dass irgendetwas in Cokesworth oder in der Nähe vorgefallen ist“, sagte Professor McGonagall, als Lily nicht weiterredete. Obwohl ihr Gesicht streng wirkte, waren ihre Augen sanft. Im Licht der einfallenden Sonne sah es fast so aus, als würde sie Lily anlächeln.
„Ich weiß, Professor“, antwortete sie rasch. „Es ist dumm, wirklich, ich habe nicht – ich dachte nur, als ich den Namen gelesen habe. Ich hab Panik bekommen“, schloss sie leise, sich bewusst, wie dümmlich sie vor der älteren Hexe klang. Wie kindisch und unlogisch sie doch klang. „Tut mir leid, Professor.“
Professor McGonagall betrachtete Lily für einen weiteren, viel zu langen Augenblick, dann schob sie die Gebäckdose ein wenig näher an sie heran. „Nehmen Sie sich einen Keks, Miss Evans.“
„Ich – Dankeschön.“ Lily griff zu, hatte aber keinen Appetit. Noch immer rumorte ihr Magen, noch immer fühlte sich der Inhalt so an, als würde er jeden Moment entkommen wollen. Selbst unter dem strengen Blick ihrer Hauslehrerin hatte Lily das Gefühl, dass sie in Ungewissheit lebte. Auch wenn Professor McGonagall sagte, dass das Ministerium keine Berichte über einen Angriff in Cokesworth hatte, so konnte sie nicht anders, als zu denken … als zu denken, dass auch ihre Hauslehrerin nicht alles wissen konnte.
Professor McGonagall nickte, bevor sie sich erhob. „Besitzt Ihr Haus einen Kamin?“, fragte sie.
Lily runzelte die Stirn. „Ja“, erwiderte sie. „Aber meine Eltern haben keinen –“
„Warten Sie einen Moment“, wies McGonagall sie an, bevor sie an Lily vorbei zu ihrem eigenen Kamin ging. Sie zückte ihren Zauberstab, sagte aber keine Zauberformel, murmelte auch keinen Spruch oder irgendeine Inkantation. Stattdessen entflammte das Rost in der Mitte und die orangeroten Flammen, die für den Bruchteil einer Sekunde den Stein emporleckten, verwandelten sich in smaragdgrünes Feuer. Professor McGonagall deutete mit ihrem Zauberstab ein weiteres Mal in die Flammen, dieses Mal veränderte sich ihre Farbe allerdings nicht. Wenn Lily nicht wüsste, wie mächtig ihre Hauslehrerin war, dann würde sie fast vermuten, dass was auch immer sie vorhatte, fehlgeschlagen war.
McGonagall griff sie nach einer kleinen Dose, die auf dem Kaminsims stand. Im Inneren der Dose glänzte eine Art graues Pulver, das Lily nicht kannte, welches aber vage wie Asche aussah. Ihre Lehrerin warf eine Handvoll davon in die Flammen, die für einen Augenblick heller brannten, dann wieder in sich zusammensackten. Ihre Professorin deutete mit dem Stab auf das grüne Feuer, vollführte eine schlingende Handbewegung, die Lily kaum mit den Augen verfolgen konnte, ehe etwas Silbriges aus dem Ende des Stabs entsprang und in die Flammen flog. Es sah aus, wie ein Ball aus Dunst und Nebel, bevor dieser wieder verschwand.
„Professor, was – “
„Einen Augenblick noch, Miss Evans.“
Es war seltsam, fand Lily, in den Kamin zu starren, während in ihrem Kopf ein Dutzend Fragen hausierten, die alle eine Antwort verlangten. Professor McGonagall hatte ihren Stab in ihrem Ärmel verschwinden lassen, während sie wartete und obwohl Lily nicht wusste, worauf sie warteten, wollte sie nicht erneut fragen. McGonagall konnte angsteinflößend sein, wenn sie wollte und Lily hatte genug um die Ohren. Am liebsten würde sie sich in ihrem Bett verkriechen, die Augen zusammenpressen, in der Hoffnung, dass, wenn sie sie wieder öffnete, der Tag von vorne losgehen würde, ganz ohne Tagespropheten, ganz ohne schreckliche Tode und ohne die unbeantwortete Frage in ihr, ob sie ihre Eltern wieder sehen würde.
„Miss Evans, wenn Sie sich erheben würden.“ Professor McGonagall betrachtete sie abwartend, aber geduldig. Das grüne Feuer hinter ihr hatte sich nicht verändert.
Lily stand mit etwas wackligen Beinen auf. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte, aber hoffte darauf, dass ihre Hauslehrerin sie nicht bestrafen würde, auch wenn sie bisher keine Anzeichen gemacht hatte. Oh, dachte sie missmutig. Vielleicht hatte sie von der kaputten Saftkaraffe gehört und würde Lily jetzt dazu verdonnern, eine neue zu besorgen. Lily krallte die Finger in den Stoff ihres Umhangs, hoffte, dass sie einfach hindurchfallen würde.
„Kommen Sie“, sagte McGonagall, bevor sie einen Schritt zur Seite tat und mit der Hand vor den Kamin deutete. „Ich werde Ihnen ein wenig Privatsphäre gönnen. Sobald Sie fertig sind, können Sie in ihren Gemeinschaftsraum zurückkehren.“ Etwas, das Lily fast als Lächeln bezeichnen würde, erschien auf McGonagalls Lippen, ehe sie Lily den Vortritt ließ, in Richtung der Tür schritt und einen Augenblick später dahinter verschwand, eine irritierte und verwirrte Lily zurücklassend.
Was sollte sie bitte allein mit dem Kamin anfangen, fragte sie sich gerade, als einige Funken aus den Flammen in ihre Richtung stoben. Sie schrie auf, bevor sie sich daran hindern konnte. Im Kamin saßen nicht mehr nur die smaragdgrünen Flammen, sondern etwas anderes. Lily schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Es war kein Etwas in den Flammen, sondern Jemand. Jemand, den Lily sehr gut kannte.
„Mum?“, fragte sie mit benetzter Stimme.
Inmitten der grünen Flammen, die wild loderten und den Stein hinauf und hinab leckten, erkannte Lily den Kopf ihrer Mutter, aus Feuer und Asche und Kohle geformt. „Lily?“
Sie zuckte zurück, als das Feuer sprach.
„Lily, bist du da? Ich – oh, das ist wirklich seltsam. Lily, Schatz, kannst du mich hören? Lily?“
„Mum?“, fragte sie erneut und ging einen vorsichtigen Schritt auf den Kamin zu. Ohne es zu wollen, fiel sie vor den Flammen auf die Knie. „Mum, bist du das? Bist das – bist du das wirklich?“
„Lily?“ Der Kopf ihrer Mutter drehte sich im Feuer, ehe ihre Augen Lilys fanden. „Oh, Liebling, da bist da ja! Du bist ja wirklich hier! Ich – oh, meine Güte, ist das ein seltsames Gefühl.“ Ihre Mutter lachte auf. „Einen Moment bin ich dabei, meinen neuen Katalog zu durchblättern und im nächsten erscheint dieses seltsam silberne Ding im Wohnzimmer und weist mich an, meinen Kopf in den Kamin zu stecken.“ Erneut lachte sie.
„Du“, fing Lily an, brach ab, als sie merkte, wie ihre Stimme brach. Sie atmete tief ein, kümmerte sich nicht darum, dass sie heiße Luft in sich sog, kümmerte sich auch nicht um die Tränen, die erneut ihre Wangen benetzten. „Du lebst“, brachte sie schließlich heraus, unsicher, ob sie träumte oder wirklich auf McGonagalls Boden hockte und mit dem Kopf ihrer Mutter im Kamin redete.
„Natürlich, Liebling, warum sollte ich denn nicht leben?“, fragte ihre Mum irritiert. „Schatz, was ist denn los?“
„Ich hab – das mit dem Feuer – in Worcester – und ich“, ihre Stimme versagte erneut. Plötzlich fühlte sie sich dumm. Kindisch und unsinnig, dass sie überhaupt daran gedacht hatte. Natürlich ging es ihrer Mutter gut, warum sollte es auch nicht? Sie war ihre Mutter und Worcester war dutzende Meilen entfernt von Cokesworth. Natürlich ging es ihr gut. Natürlich lebte sie. Natürlich.
Die Falten auf der Stirn ihrer Mutter verschwanden und ein sanfter Ausdruck trat in ihre Feuer-Augen. „Oh Liebling“, sagte sie leise. „Mir geht es gut, Schatz, deinem Vater geht es auch gut und Petunia natürlich auch. Uns ist nichts passiert, versprochen. Es war zwar ein Schock das zu lesen, aber ich verspreche dir, uns geht es gut. Ach, Liebling, wie hast du überhaupt davon erfahren?“
„Tagesprophet“, würgte Lily hervor. „Tut mir leid, ich hab das gelesen und mein Kopf, ich – ich hab nicht nachgedacht, oder zu viel nachgedacht und oh Gott, es tut mir leid, Mum, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.“
„Lily“, sagte ihre Mutter langsam. „Das ist doch nicht schlimm, mein Schatz, wirklich. Du hast mir doch keinen Schrecken eingejagt. Wenn dann bin ich mehr überrascht davon, dass ich mit dir reden kann, während ich auf dem Wohnzimmerboden hocke und in den Kamin rede. Wie funktioniert das überhaupt?“
„Ich weiß nicht“, meinte Lily, die plötzlich kein Lachen und kein Weinen mehr zurückhalten konnte. „Professor McGonagall hat das irgendwie arrangiert. Das silberne Ding, ich glaub, das kam auch von ihr.“
Ihre Mutter seufzte. „Zaubern müsste man können. Aber ich glaube, in Zukunft würde ich Briefe trotzdem bevorzugen“, meinte sie mit einem Lächeln. „Davon tun mir die Knie nicht so weh und ich hab nicht das Gefühl, meinen Kopf zu verlieren.“
Lily lachte, bevor sie erneut schluchzte und dann wieder lachte. „Ich bin froh, dass es dir gut geht, Mum“, sagte sie leise.
„Ich bin auch froh, dass es dir gut, mein Liebling.“