Severus Snape
_________________________
Spinner's End war die wohl schmutzigste, hässlichste und heruntergekommenste Straße, die man in Cokeworth finden konnte. Über den Dächern der schäbigen Wohnhäuser ragte ein riesiger Schornstein in die Höhe, der dunkle Wolken an Abgasen in den Himmel spie. Von der Straße aus konnte man den dreckigen Fluss nicht sehen, der sich durch die Industriestadt zog, wohl aber riechen. Ein dauerhafter Geruch nach verschmutztem Flusswasser, toten Fischen und Abfall, der zu lange in der Sonne gelegen hatte, kroch durch jede Ritze Cokeworth' und sorgte dafür, dass niemand diese Stadt jemals freiwillig besuchen würde.
Severus Snape war auf keinen Fall freiwillig hier. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er jetzt im Gemeinschaftsraum der Slytherins sitzen und an dem Aufsatz für Slughorn über die Effekte von Warzpulver in verschiedener Dosierung im Anti-Akne-Trank arbeiten, den er nach den Ferien abgeben musste. Vielleicht würde er es sich auch in der Bibliothek gemütlich machen und ungestört in Büchern über Experimentelle Magie und die Schemen von Zaubersilben blättern. Seine eigenen Nachforschungen mussten aber genau wie seine Schulaufgaben warten, bis er die Schrecklichkeit, die sich Spinner's End nannte, verlassen konnte. Er zählte die Tage bereits sehnsüchtig.
Severus saß, seit er von seiner Mutter vom Bahnhof abgeholt wurde, in seinem Zimmer, hatte es nur verlassen, um zu essen oder das Badezimmer aufzusuchen und hatte bisher kaum mehr als eine Handvoll Wörter zu seinen Eltern gesagt. Eltern, in Anführungszeichen, wenn es nach seiner Meinung ging. Mehr als die Magie seiner Mutter und ihr blasses, dünnes Aussehen, sowie die unnatürlich öligen Haare seinen Vaters hatte er nicht geerbt. Ob Eileen und Tobias Snape wirklich seine Eltern war, bezweifelte Severus noch.
Seine Mutter war ein Reinblut und sein Vater ein Muggel. Wieso die reinblütige Slytherin-Hexe gerade einen gewöhnlichen Muggel geheiratet und sich mit ihm im schmutzigen Cokeworth niedergelassen hatte, war ihm schleierhaft. Irgendetwas musste sie in ihm gesehen haben, dass sie überzeugt hatte, die Bande zu ihrer Familie zu kappen und in eine schmutzige Industriestadt zu ziehen, in der es weniger Magier gab, als Snape an einer Hand abzählen konnte. Was auch immer Tobias Snape damals gehabt hatte, damit Eileen Prince ihre Prinzipien zurückließ, heute war davon sicher nicht mehr viel übrig. Severus' Vater hatte seit einigen Jahren nicht mehr gearbeitet, seit er seine Stelle in der Cokeworth-Mine verloren hatte. Er hatte seiner Frau verboten, sich einen Job zu suchen oder ihnen mit Magie zu helfen und seitdem lebten sie größtenteils von Spenden und Essensmarken. Wenn Eileen nicht vorgedacht und einen Sack voll Galleonen für ihren Sohn gespart hätte, dann hätten sie sich vor zwei Jahren nicht einem seinen Zauberstab leisten können.
Lange hatte Severus gedacht, sein Vater müsste ein besonderer Mann sein und die trunkenen Wutanfälle wären nichts, was er nicht aushalten könnte, aber mittlerweile war er sich nicht einmal mehr sicher, ob seine Mutter sich nicht aus Versehen in einen schmutzigen Kanalköter verliebt hatte. Tobias Snape tat den lieben langen Tag nichts anderes, als vor dem dicken, schwarzen Fernseher zu sitzen und über die gekappte Leitung Kabelfernsehen zu gucken, während er billiges Bier trank, als wäre es Wasser. Manchmal ging er in die Kneipe und kam dann noch betrunkener und mit Schulden zurück, weil er versucht hatte, auf das Ergebnis eines Rugby-Spiels zu wetten. Betrunken war seine Laune eine brennende Zündschnur. Es fing langsam an, beinahe schon friedlich, er redete langsamer als sonst und konnte den Blick nicht klar stellen, aber je mehr Zeit verging, desto aggressiver wurde er. Wenn die Schnur ihr Ende erreicht hatte, schlug er zu.
Severus hatte lange versucht, die Trunkenheit und die Aggressivität seines Vaters zu entschuldigen, aber auch er wusste mittlerweile nicht mehr, was er sagen sollte. Der Gedanke, dass Tobias Snape ein großartiger Mann und ein liebevoller Ehemann gewesen war, war für Severus abwegig. Auch, wenn er ihn einst mit anderen Augen gesehen hatte, heute wusste Severus, dass sein Vater ein fauler Taugenichts und ein dummer, unnützer Muggel war. Er würde keine Entschuldigungen mehr für ihn suchen.
Vor dem mickrigen Fenster in seinem kleinen Zimmer setzte schmutziger Nieselregen ein. Die Scheibe wurde lange nicht mehr geputzt, deswegen konnte er nur einen recht verschwommenen Blick nach draußen werfen. Die dunkle Straße begann in kürzester Zeit feucht zu glänzen und obwohl es eigentlich tiefster Winter war, war dieses Jahr nicht eine Schneeflocke auf Cokeworth gefallen. Severus mochte es nicht, wenn es regnete, aber noch weniger mochte er es, wenn die Sonne schien. Das Wetter war ihm schon immer negativ aufgefallen, egal wie schön oder schlecht es war. Er fühlte sich draußen nicht wohl, zog es aber dem schrecklichen Haus in Spinner's End vor. Vielleicht könnte er am Flussufer entlang laufen und bis zum Spielplatz gelangen, ohne dass ihn eines der dämlichen Kinder entdeckte, die gegenüber der Mine wohnten und sich für etwas besseres hielten, weil ihre Väter noch Jobs hatten. Widerliche, dreckige Muggel-Gören - Severus hatte jedes Mal große Lust, ein paar der Flüche auszuprobieren, von denen die älteren Schüler im Gemeinschaftsraum manchmal redeten.
Das quietschende Geräusch der Haustür ließ Severus aufblicken. Momente später wurde die Tür heftig ins Schloss geworfen, sodass selbst das kleine Fenster seines Zimmers erzitterte. Er spähte durchs schmutzige Glas und seine gedankliche Frage wurde beantwortet, als er die bullige, leicht wankende Gestalt seines Vaters auf der Straße entdeckte. Ein paar Stunden würde das letzte Haus in Spinner's End jetzt vor Tobias Snapes Ausbrüchen sicher sein.
Severus verließ sein Zimmer mit langsamen, kalkulierenden Schritten. Die Treppe schloss direkt an seine Tür an, denn das Haus war nicht nur schäbig sondern auch unmöglich klein. Um das Wohnzimmer zu betreten musste er ein dünnes Bücherregal beiseite schieben, wodurch er allerdings den Durchgang in die Küche blockierte. Das Wohnzimmer der Familie Snape war kaum größer als das Büro des unliebsamen Hausmeisters an Hogwarts, Mr. Filch, ausgestattet mit einem Sofa, das älter als Severus war, einer gerade so aufrecht stehenden Kommode mit dem klobigen Fernseher darauf und einem Sofatisch aus Glas, den Tobias irgendwann mal von der Straße mitgenommen hatte. Wohnlich oder gar heimisch sah es hier keineswegs aus. In den Ecken, neben dem Fernseher, auf dem Tisch und selbst in die Ritzen des Sofas geschoben, bedeckten leere Bierflaschen das Zimmer, als wären sie ausgewählte Dekorationsgegenstände. Durch ein einziges Fenster neben der Tür fiel gedimmtes Licht, die andere Lichtquelle, eine Laterne, die mit einer Schnur von der Decke hing, war aus.
Severus' Mutter, Eileen, saß in der Küche, frische Tränenspuren auf ihren Wangen und eine zerknitterte, grob angerissene Zeitung vor sich aufgeschlagen. Die Küche war kaum größer als das Wohnzimmer, ebenso mit Bierflaschen dekoriert und kaum als Küche funktionstüchtig. Der Kühlschrank war so alt, dass er kaum noch Strom zog und deswegen nicht richtig kühlte und der Ofen brauchte Ewigkeiten, um heiß zu laufen. Die Küchenschränke waren gelblich verfärbt und an der Decke gab es Wasserflecken. Der Tisch, an dem Eileen saß, wackelte, wenn man eins der Beine nicht mit altem Zeitungspapier stützte. Severus könnte diese Probleme alle mit seinem Zauberstab lösen, aber durfte außerhalb von Hogwarts nicht zaubern und würde seine Ausbildung nicht dafür riskieren. Seine Mutter weigerte sich, Magie im Haus zu wirken. Eigentlich weigerte sie sich allgemein, Magie zu nutzen. Severus war sich nicht sicher, ob er seine Mutter jemals hatte zaubern sehen.
„Oh, Severus“, sagte Eileen und wischte sich über die Augen. Sie war dünn und blass und sah kränklich aus, mit eingefallenen Wangen und tiefen Schatten unter den Augen.
„Hallo, Mutter“, erwiderte Severus mehr aus Höflichkeit. „Wie geht es dir?“
„Ach, du weißt ja, wie es ist. Es ist nicht einfach, aber ich komme zurecht. Hast du Hunger? Ich kann ein paar Ravioli warm machen.“
Severus würde viel lieber ein selbstgekochtes Gericht aus den Hogwarts-Küchen essen, konnte sich diesen Luxus im Moment aber nicht leisten. „Vielleicht später.“ Er wartete einen Moment, seine Hände ein Knäuel vor sich haltend, dann fragte er: „Wieso bleibst du?“
Es brauchte keine Spezifikationen, was er damit meinte. Eileen seufzte leise, als hätte sie gewusst, dass es irgendwann kommen würde. Sie deutete auf den Platz neben sich, aber Severus blieb stehen. Einen Augenblick blickte sie ihrem Sohn in die dunklen Augen, dann wandte sie den Kopf nach unten. Die fast zerrissene Zeitung knisterte unter ihren Fingern.
„Ich glaube nicht, dass du es verstehst, Severus. Liebe ist etwas sehr kurioses, es gibt kein richtig oder falsch, wenn es darum geht. Ich liebe deinen Vater über alles.“
„Warum?“
„Ich tu es einfach“, sagte sie, die Spur eines Lächelns auf ihren dünnen Lippen, auf denen sie kontinuierlich heraumkaute. „Es gibt kein Wieso oder Warum, weißt du? Vielleicht verstehst du es irgendwann selbst mal, aber wenn du einen Menschen wirklich liebst, dann liebst du seine guten und schlechten Seiten. Ich habe deinen Vater mit Neunzehn kennengelernt, wir sind jetzt zwanzig Jahre verheiratet, ich weiß, wie er ist. Ich liebe ihn mit all seinen Macken.“
„Er schlägt dich“, sagte Severus trotzig klingend. „Er schlägt mich.“
Eileen hob zwar den Kopf, vermied es aber, ihrem Sohn in die Augen zu gucken. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, eine dünne, blasse Hand mit knochigen Fingern und einer silbernen Narbe auf dem Handrücken und wartete, dass Severus sie ergriff.
Er bewegte sich nicht vor.
„Dein Vater hat Probleme mit seiner Selbstkontrolle“, sagte sie schließlich und ließ die Hand fallen. „Aber er arbeitet daran, wirklich! Es gibt auch Aussichten auf einen neuen Job!“
Severus ballte die Hände zu Fäusten. Die Ärmel seines viel zu großen Pullovers rutschten ihm bis zu den Fingerspitzen. Mit zittriger Stimme sagte er: „Und das soll die Schmerzen entschuldigen? Das soll entschuldigen, dass er mir einen Zahn ausgeschlagen hat, als ich sieben war? Das entschuldigt, dass er mir fast den Arm gebrochen hat, als ich das erste Mal gezaubert hab?“ Severus hatte große Mühe seine Stimme ruhig zu halten, während er seine Mutter anstarrte, die nicht den Abstand hatte, zurückzublicken. „Wo ist seine Reue, wenn er sich verliert?“
„Er arbeitet daran!“, wiederholte Eileen sich, aufgebracht klingend, als wäre es Severus, der seine Kontrolle verlieren und sie schlagen würde. „Dein Vater ist ein guter Mann, ich weiß es.“
„Wann zeigt er es denn endlich?“, fragte Severus, der sich nicht daran hindern konnte, erschöpft zu klingen. Müde von all den Entschuldigungen, müde von den Versprechen, die nie gehalten werden. Hätte er denn nicht auf der guten Seite des Flusses geboren werden können? Hätte er nicht eine Familie wie die von Lily haben können? Womit hatte er diesen nichtsnutzigen Trunkenbold eines Vaters verdient, diese schwache Mutter, die sich nicht wehren würde, obwohl sie Magie besaß, die das elendige Leben dieses Muggels auslöschen könnte?
„Severus, du weißt nicht, wovon du redest. Du bist noch jung, du verstehst es nicht“, sagte Eileen. „Wenn du älter bist, dann wirst du wissen, dass man nicht immer die einfachen oder offensichtlichen Dinge tut, auch wenn man es sollte. Auch Erwachsene haben Gefühle, weißt du? Wir hören nicht auf, traurig oder hoffnungsvoll zu sein, nur weil wir groß werden.“
Ein abfälliges Schnauben entkam ihm, was seine Mutter endlich dazu veranlasste, aufzublicken. Ihre gleichen, dunklen Augen trafen sich für einen Augenblick, einen elendig langen Augenblick, in dem Severus hoffte, etwas in ihr zu erkennen, das ihm zeigen würde, das wenigstens sie seinen Schmerz, seinen Unmut, seinen Hass verstand.
Nichts. Eileen Snapes Blick war trüb und dunkel und kühl. Als hätte sie nicht ein Wort dessen gehört, was ihr Sohn gesagt hatte.
„Das solls also sein?“, fragte er langsam. „Damit soll ich mich zufriedengeben und einfach hoffen und warten, bis er sich mal dazu entscheidet, nicht zuzuschlagen?“
„Es wäre besser, wenn du auf dein Zimmer gehst, Severus. Dein Vater kommt bald zurück“, sagte sie, erneut den Blick abwendend.
Severus drehte sich auf dem Absatz um. Er trat einen Schritt ins schäbige Wohnzimmer, verschob das Bücherregal, sodass er den Zugang zur Küche halb verdeckte und die Treppe halb offenlegte. Er hatte bereits einen Fuß auf die knarzenden Dielen gesetzt, bereit, sich am Regal vorbeizuquetschen und auch die nächsten Tage in seinem Zimmer zu verbringen, als er innehielt. Er blickte zur Seite, wo er nur noch das dunkle Holz der Vertäfelung zu Gesicht bekam, hinter der seine Mutter saß. „Manchmal“, fing er an und räusperte sich, als er das Kratzen in seiner Stimme bemerkte. „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nicht geboren worden.“
Es war so lange still, dass Severus sich sicher war, dass sie ihn nicht gehört hatte. Er nahm die letzten Stufen nach oben, hatte die Hand bereits an der Tür, als die leise Antwort seiner Mutter zu ihm wehte.
„Manchmal wünsche ich mir das auch.“