Lily Evans
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Am nächsten Morgen war der Schulgeist angefeuert. Überall wurden Häuserflaggen in entweder Gryffindorrot oder Slytherringrün herumgeschwenkt, die Quidditchspieler hatten sich noch vor dem Frühstück in ihrer Uniform in der Großen Halle stolz präsentiert und ein regelrechtes Brummen hatte die Schülerschaft eingenommen, von denen einige sich sogar mit den entsprechenden Farben im Gesicht geschminkt hatten, um ihre Unterstützung auszudrücken.
Für Lily war das alles nichts. Von ihrem Vater her kannte sie die ein oder andere sportverrückte Eigenschaft, aber selbst er würde sagen, dass Hogwarts es mit seiner Liebe zum Quidditch ein wenig übertrieb. Vielleicht sogar ein ganz großes Bisschen, dachte sie, als sie die überdimensional großen Quaffel betrachtete, die durch die Große Halle surrten und von niemand anderem als Professor Flitwick heraufbeschworen wurden. Es war ihr schleierhaft, wieso selbst die Lehrer den unsäglichen Gebrauch von Magie in diesem Sinne guthießen.
„Guck nicht so mies drein, Lily“, sagte Marlene neben ihr, die genüsslich den Rest ihres Frühstückrühreis verspeiste. Eine widerliche Menge an Ketchup klebte darauf, von dem Marlene sich allerdings nicht beirren ließ. „Das Schuljahr ist fast vorbei, es ist das letzte Quidditch-Spiel vor den Prüfungen. Entspann dich mal ein bisschen.“
„Ich entspanne mich, wenn die Prüfungen tatsächlich vorbei sind.“ Lily schnaubte in ihren Orangensaft. „Ich weiß nicht, was ihr alle so an diesem Spiel findet.“
„Es macht Spaß“, erwiderte Marlene achselzuckend. „Marek hat auch gespielt, als er noch auf die Schule ging. Treiber. Er hat einmal angedroht, dass er mich in einen Klatscher verwandeln würde, wenn ich ihn weiter beim Training Zuhause nerve und dann hab ich geheult. Mum hat ihn zur Strafe den gesamten Garten entgnomen lassen.“
„Geschwister“, schüttelte Mary den Kopf. „Ich glaube, ich werde nie aus euch schlau werden.“
„Du verpasst was“, entgegnete Marlene.
„Glaub mir, bei Tuni verpasst du wirklich gar nichts“, sagte Lily leise.
Mary verzog das Gesicht. „Und das, obwohl ihr euch jetzt ganz gut versteht. Autsch.“
„Tun wir auch, es ist nur – keine Ahnung. Tuni kann wirklich frustrierend sein.“
„Es liegt in der Natur von älteren Geschwistern, dass sie einem auf die Nerven gehen“, meinte Marlene. „Das ist so eine Großmutterweisheit, die immer stimmen wird.“
Lily schnaubte belustigt, als sie an ihre Großmutter dachte, eine extrem religiöse Frau, die bisher immer noch nicht wusste, dass Lily eine Hexe war. Wahrscheinlich würde sie es ihr nicht einmal übel nehmen, aber irgendwie einen Weg finden, um ihrem Vater die Schuld zu geben. Es war ein ziemlich offenes Geheimnis, dass Großmutter Marigold den Ehemann ihrer Tochter nicht sonderlich leiden konnte.
„Oh Gott, Apropos auf die Nerven gehen“, sagte Mary leise und deutete mit einem Nicken auf die Eingangstür. James Potter trat gemeinsam mit seiner Bande in die Große Halle. Er hatte es wohl nicht für nötig empfunden, sich seinem Team bereits anzuschließen, stellte Lily fest.
Lily tat ihr Bestes, um nicht in seine Richtung zu schauen. Dieser Tag war sowieso schon anstrengend genug, da wollte sie es sich selbst nicht auch noch schwieriger machen, indem sie ungewünschten Kontakt mit der Plage Nummer Eins aufnehmen würde. Wenn sie Marlene zuliebe nicht in einer Stunde mit runter zum Feld gehen würde, dann würde sie sich wahrscheinlich während des Spiels einfach in der Bibliothek verziehen und ein paar Wiederholungen angehen. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten damit, die richtigen Verwandlungsformeln auswendig aufzusagen, wenn es darum ging, eine Teetasse in eine Maus und wieder zurückzuverwandeln. Professor McGonagall hatte angedeutet, dass dieser Spruch drankommen würde und Lily würde nicht zulassen, dass sie ein paar leichtverdiente Punkte verlor, nur weil sie die Reihenfolge der Wörter durcheinanderbrach.
„Wenn ihr mich fragt“, sagte Marlene, nachdem sie den letztes Rest ihres Rühreis heruntergewürgt hatte, „dann sind eindeutig zu wenig Mädchen in unserer Mannschaft. Ich meine, James und Monty, okay, die haben sich wirklich gut angestellt und Patrick ist auch ziemlich talentiert, aber wieso hat er bitte Oliver Jones als zweiten Treiber genommen? Der Kerl kann meistens kaum den Schläger richtig herum halten.“
„Bist du immer noch sauer, weil du nicht ins Team aufgenommen wurdest, obwohl du nicht an den Auswahlspielen teilgenommen hast?“, fragte Mary grinsend, woraufhin Marlene ihr einen giftigen Blick zuwarf.
„Nächstes Jahr mach ich mit“, versprach sie. „Dann kann Patrick nicht nur seine eigenen Kumpel ins Team holen, sondern auch mal ein wenig Frauenpower sehen. Ich meine, sechs Jungs und ein Mädchen? Und – natürlich – spielt sie Sucher.“
Lily verdrehte die Augen. Sie tat nicht einmal so, als würde sie verstehen, warum Marlene sich darüber so sehr aufregte. „Du hast doch gesagt, bei den Auswahlspielen haben kaum Mädchen mitgemacht.“
„Trotzdem“, erwiderte sie. „Es geht ums Prinzip, weißt du?“
„Oh, absolut.“
„Du wirst ja schon sehen.“
„Ganz bestimmt werde ich das“, sagte Lily nickend.
„Sehr gut.“ Marlene trank den Rest ihres Kürbissaftes aus, ehe sie den Kelch etwas zu schwungvoll auf den Tisch stellte. „Und jetzt kommt mit.“
„Was? Wohin?“, fragte Mary mit zusammengezogenen Augenbrauen, aber ließ sich von Marlene auf die Beine ziehen.
Lily hatte große Lust sitzen zu bleiben (allein schon deswegen, weil sie noch gar nicht mit ihrem Frühstück fertig war), aber wusste, es war sowieso sinnlos gegen Marlene zu diskutieren. Wenn das Mädchen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war es unmöglich, sie von etwas anderem zu überzeugen – wahrscheinlich verstand sie sich deswegen am besten mit den Jungs. Sie war eine von ihnen.
Marlene zerrte Lily und Mary mit sich, aber nicht in Richtung der Türen, sondern weiter den Tisch runter. Lily erkannte zu spät, wo sie mit ihnen hinwollte, da waren sie bereits vor dem lachenden Quidditch-Team angekommen. „Hallo, Patrick“, sagte Marlene über das Lachen hinweg.
„Ah. Hi. McKinnon, richtig?“, fragte der ältere Junge. Er hatte kurz geschorene Haare und ein ziemlich kantiges Kinn, sowieso unerträglich helle blaue Augen. Er sah aus, als hätte er vor kurzem eine Parfüm-Werbung gedreht, die Lily im Fernsehen ständig sah.
„Richtig.“ Marlene streckte ihm nicht die Hand entgegen. „Was sagst du eigentlich zu den Anschuldigungen, dass du deine eigenen Freunde fürs Team bevorzugt hättest und deswegen eine ziemlich miese Gleichberechtigungsquote hast?“
Die umsitzenden Schüler wurden ruhig, alle Augen richteten sich auf Marlene und Patrick. Der ältere Junge hatte immerhin den Anstand, den Blickkontakt zu halten. „Ich bin nicht sicher, was du meinst“, erwiderte er.
Marlene hob einen Finger und zählte laut die Köpfe des Quidditch-Teams. „Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs. Sechs Jungs. Und natürlich Danielle“, fügte sie mit einem raschen Lächeln auf die Sucherin hinzu, die ganz außen saß und so aussah, als würde sie am liebsten durch die Bank hindurch in die Küchen verschwinden. „Das ist keine sonderlich angenehme Quote, nicht wahr?“
Patrick wurde dunkelrot im Gesicht. „Ich versichere dir, dass ich niemanden aufgrund seines Geschlechts ausgewählt hätte und“, er zog die Brauen zusammen, „selbst wenn, dann wüsste ich nicht, warum es dich etwas anzugehen hätte.“
„Weil ich nächstes Jahr dem Team beitreten werde“, erwiderte Marlene selbstsicher.
Lily bewunderte sie dafür, dass sie so offen mit einem deutlich älteren Jungen redete und nicht einmal einen Schritt zurückging, als dieser endlich aufstand.
„Und du denkst, du hast die besten Chance aufgenommen zu werden, wenn du den Kapitän beleidigst?“, fragte Patrick.
„Oh? Ich weiß nicht, warum du dich beleidigt fühlst, ich hab doch nur ein paar Fakten genannt“, meinte sie unschuldig klingend. „Außerdem hast du gerade noch gesagt, dass du niemanden aufgrund des Geschlechts ausgewählt hättest, da solltest du dich eigentlich nicht angegriffen fühlen, oder?“
Patricks Gesicht wurde, wenn möglich, noch dunkler. „Hör zu, McKinnon“, knurrte er, beugte das Gesicht nach vorne, sodass er auf Augenhöhe mit Marlene war und presste die Lippen zusammen, „ich habe es nicht gerne, wenn man meine Autorität versucht zu untergraben oder mir Dinge vorwirft, die nicht stimmen, verstanden? Wenn du wirklich ins Team aufgenommen werden willst, dann solltest du vielleicht mal überlegen, wie du mit deinem zukünftigen Kapitän redest, kapiert?“
Marlene lächelte ihn an. „Selbstverständlich, Kapitän. Ich bin mir sicher, du hast dann auch nichts dagegen, dass du nächstes Jahr allen Teilnehmern die gleichen Chancen gibst, nicht wahr?“
„Das tue ich bereits“, knurrte Patrick bedrohlich.
„Dann hast du ja nichts zu verlieren“, antwortete sie mit süßlichem Unterton. „Also dann. Viel Glück beim Spiel. James, Monty“, sie nickte den beiden zu, die sie mit offenen Mündern anstarrten, „Danielle. Mach mich stolz.“
Die peinlich berührte Sucherin konnte gar nichts anderes machen, außer nicken, da hatte Marlene sich bereits umgedreht und war mit wehendem blonden Pferdeschwanz davongelaufen.
Mary und Lily verblieben für einen Herzschlag („Äh, genau, viel Glück, Leute!“, sagte Mary mit nervösem Lachen), ehe sie ihrer Freundin eilig folgten.
An der Tür erreichten sie sie. „Was sollte das denn?“, zischte Mary, als sie in die Eingangshalle traten. „Ich dachte, du willst dem Team beitreten, Marlene?“
„Will ich auch“, erwiderte sie. „Aber nicht, wenn ich damit nur eine Quote erfülle. Ich glaube auch nicht, dass Patrick es wirklich mit Absicht macht oder dass er ein übler Sexist ist, aber bei den Auswahlspielen waren sicherlich nicht nur zufällig kaum Mädchen da.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Manchmal muss man ihnen einfach nur zeigen, dass sie gefährlich an der Grenze leben“, fügte sie an, ehe sie die Tür zum Innenhof aufstieß.
Sommerlich warme Luft strömte ihnen entgegen, sowie der Duft von frischem Rasen und Blumen. Marlene streckte die Arme über den Kopf.
„Das war trotzdem ziemlich dämlich von dir“, sagte Lily langsam. „Hättest du das nicht nach dem Spiel machen können? Was ist denn, wenn Patrick deswegen jetzt nicht richtig spielt?“
Mary grinste sie mit hochgezogenen Brauen an. „Ich dachte, du hältst nicht viel von dem Spiel?“
Lilys Wangen wurden heiß. „Tu ich auch nicht, aber – ich meine, ihr wisst doch auch, wie Potter ist, wenn er ein Spiel verliert. Er ist ein schrecklicher Verlierer und ich habe keine Lust darauf, dass er die letzten Wochen nur noch rummotzt.“
„Witzig, niemand von uns hat James erwähnt oder mit ihm geredet, aber trotzdem –“, fing Mary an.
„ – konntest du es nicht lassen, seinen Namen einzubringen, hm?“, endete Marlene lachend.
Lily presste die Lippen zusammen. „Ihr seid doch – ihr wisst genau, dass ich das so nicht meine!“ Wieso sollte sie es auch irgendwie meinen, dachte Lily säuerlich. Sie konnte James Potter immerhin nicht ausstehen und daran würde sich auch nichts mehr ändern, aber dennoch konnte sie bemerken, dass es für sie und alle Beteiligten eine schrecklich nervige Zeit bedeuten würde, wenn Potter sein letztes Quidditch-Spiel verlieren würde. Er war nun mal ein ätzender Verlierer und sie alle wussten das.
Mary und Marlene tauschten einen belustigten Blick zu dem Lily nur die Arme verschränkte, dann sagte Mary: „Schon gut, setz nicht gleich deinen Todesblick auf, Lily. War nur ein Witz.“
„Das will ich auch hoffen“, murrte sie als Antwort.