Mary Macdonald
____________________________
„James“, sagte Mary und verkniff sich das Lachen. „James, du hast nach Sirius gezogen, oder?“
Es war James' Zug zu erröten. „Kann sein“, murmelte er. Durch seine braune Haut bekam man es kaum mit, dass er peinlich berührt war, aber sein Stammeln und die nervös zuckenden Augenbrauen verrieten selbst ihn.
Mary kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, wann seine Cooler-Typ-Fassade bröckelte, aber selbst ohne dieses Wissen konnte sie erkennen, wie er mit schwächlich wackelnden Fingern nach einem sorgfältig eingepackten Geschenk griff. Die Farbkombination dunkelrot und grün verriet nur noch mehr, für wen das Päckchen war.
„Frohe Weihnachten, Evans“, sagte James Potter, ohne Lily dabei in die Augen zu sehen und schob ihr das Geschenk in die Hand.
„Oh.“ Für jemand so Intelligenten wie Lily, hatte sie eine erschreckend geringe Auffassungsgabe. „Äh, danke, Potter.“ Vorsichtig, als hätte sie Angst, das Päckchen würde jeden Moment zwischen ihren Fingern explodieren, entfernte sie die roten und grünen Papierschichten, bis eine schmale, kleine Box übrigblieb, ungefähr so groß wie eine geballte Faust. Lily bedachte James mit einem kalkulierten, nachdenklichen Blick, dann holte sie tief Luft und öffnete die Box. „Oh, lieber Gott...“
Mary, Marlene und Dorcas beugten sich erwartungsvoll vor, während Lily das Gesicht in den Händen vergrub und James die Lippen so fest zusammenpresste, dass seine Mundwinkel weiß wurden.
In der Box lag eine, wenn Marys krude Pflanzenkenntnis sie nicht täuschte, Lilie mit weiß-rosanen Blüten, platt gedrückt und getrocknet. Kaum hatte Lily sie enthüllt, strömte ein süßlicher Geruch von der Blume aus.
„Das“, sagte Marlene langsam, die Augen misstrauisch verengt, „ist überraschend süß. Nicht nur der Geruch.“
„Es sind nur ein paar einfache Zauber“, murmelte James verlegen. „Ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen.“
„Das ist“, Lily stockte. Sie berührte die eingelegte Blume mit einem Zeigefinger, als müsste sie sichergehen, dass sie echt war. „Ich bin nicht sicher, was ich sagen soll, Potter.“
„Ein Danke würde reichen“, schnaubte Sirius, woraufhin Lily, Mary und Marlene ihm giftige Blicke zuwarfen. Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Danke“, knirschte Lily. „Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Wirklich, danke.“
James' Lippen zierte ein schmales Lächeln, keine Spur des arroganten Grinsen war zu sehen und er neigte den Kopf ein wenig an, als würde er sich verbeugen und antwortete: „Ist mir eine Ehre, Evans.“
Nur ein Dummkopf würde den liebeskranken Blick in James Potters Augen nicht bemerken und Mary schätzte, Lily war der einzige Dummkopf in diesem Raum.
Unangenehme Stille legte sich über ihren Tisch; James nahm die Augen nicht von Lily, die überall aber in seine Richtung blickte. Eine unmögliche Sehnsucht lag in seinem Blick, lag in der Art, wie er Lilys gesamtes Gesicht musterte und nicht einmal blinzelte, wenn sie sich eine verirrte Strähne hinters Ohr schob. James war ein liebeskranker Volltrottel, Lily war ignorant und Mary seufzte. Sie riss die Augen von James Potters unmöglich chaotischen Haaren und den haselnussbraunen Augen, die nur für Lily bestimmt waren.
Emmeline räusperte sich und legte ihre Hände lauter als nötig auf der Tischplatte ab, dann sagte sie: „Wollen wir dann weiter machen?“
Dankbar für die Ablenkung, nickte Mary. „Ja, wer ist als nächstes?“ Sie warf einen erneuten Seitenblick auf James, bekam kribbelnde Handinnenflächen und biss sich auf die Zunge. Nur ein Dummkopf, dachte sie, und verkniff sich ein Schnauben. Vielleicht war sie auch ein Dummkopf.
„Ich, oh, ich!“ Dorcas setzte sich aufrechter hin, ein breites Grinsen auf den Lippen, welches ihre perlweißen Zähne zeigte. Sie hatte einen tuchähnlichen Schal um ihre schwarzen Haare gebunden, sodass sie einen dicken Zopf hatte, der hin und her wackelte, als sie ein dickes Päckchen aus dem Stapel zog und es auf Emmelines ausgestreckte Hand fallen ließ.
„Uh, uh, ist es das, was ich denke, was es ist?“, fragte diese aufgeregt, offensichtlich nicht überrascht, dass ihre Kindheitsfreundin das Glück gehabt hatte, sie beim Wichteln zu ziehen.
„Weiß ich nicht“, grinste Dorcas.
Emmeline fackelte nicht lange und begann das goldgelbe Papier vom Päckchen zu reißen. Zum Vorschein kam ein unscheinbares, schwarzes Kästchen mit einem Logo in Form eines Pinsels, welches die aufgeregte Ravenclaw sich sofort an die Brust drückte. Ein quiekendes Geräusch entkam ihr, ehe sie sagte: „Danke, danke, danke!“
„Was ist das?“, fragte Peter neugierig vorgebeugt.
„Eine magische Schminkschatulle“, erklärte Dorcas, die immer noch grinste. „Die wurde letztes Jahr in der Hexenwoche vorgestellt. Egal was für ein Make-Up man will, die Schatulle bereitet es für einen vor.“
„Ein paar der älteren Schülerinnen haben auch so eine und haben mir gezeigt, wie sie funktioniert“, fügte Emmeline glücklich an, „und seitdem wollte ich so eine haben. Meine Mutter glaubt Make-Up und Kleider würden mich dumm machen.“ Sie verdrehte die Augen.
„Deine Mutter glaubt aber auch, unsichtbare kleine Feen würden ihr die Schuhe klauen und verstecken“, sagte Dorcas trocken.
Mary konnte ein Lachen nicht verhindern. „Warum würde sie sowas glauben?“
„Keine Ahnung“, Emmeline zuckte mit den Schultern, während sie ihre neue magische Schminkschatulle mit sanften Fingern streichelte, „ich glaube ja, sie hat zu viele Zaubertrankdämpfe eingeatmet oder Gras geraucht oder so.“
„Gras?“, fragte Benjy mit zusammengezogenen Augenbrauen hinter seiner drahtigen Brille. „Wie kommt deine Mutter an Muggel-Drogen?“
„Sie kennt genug Leute“, seufzte Emmeline. „Das findet sie auch nicht verwerflich oder so, aber ein wenig Lippenstift ist ganz klar ein Zeichen von Hirnverlust.“
Benjy schnaubte belustigt, während James und Sirius verwirrte Blicken tauschten. (Reinblüter, dachte Mary feixend.) „Ihr magischen Leute seid echt komisch.“
„Du sagst das so, als wärst du nicht selbst magisch“, sagte Peter grinsend, woraufhin Benjy dunkelrot anlief.
„Ich meine – ich bin, aber ich –“
„Ich weiß, was du meinst“, meinte Lily laut, die Peter einen bösen Blick zuwarf. „Manchmal kommt es mir selbst noch unwirklich vor, dass ich eine Hexe bin, obwohl ich vorhin erst eine Obstplatte dazu gebracht hab, eine Tanznummer aufzuführen.“
Benjy lächelte dankbar.
Mary senkte den Blick. Sie wusste genau, was Lily und er meinten, wenn sie das sagten. Selbst nach über einem Jahr in der magischen Welt und Hogwarts, mit all den magischen Dingen, die sie mittlerweile selbst konnte, war es manchmal einfach, sich vorzustellen, sie würde nur einen sehr langen, detaillierten Traum leben. Jeden Moment war sie sicher, würde sie aufwachen und sie wäre wieder zehn Jahre alt und ihre Mutter würde sie zum Frühstück in den Garten rufen. Magie war ihr nicht mehr fremd, aber würde sie jemals wirklich vertraut werden? Wie konnte sie denn Magie verstehen, wie jemand wie James oder Sirius oder Marlene, die mit Magie aufgewachsen waren und nicht jeden Tag hinterfragen mussten, ob nicht vielleicht doch ein Fehler vorläge? Manchmal, ganz selten, wenn Mary nachts wach lag und nicht schlafen konnte, dann überlegte sie, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wäre sie nicht nach Hogwarts gekommen, wäre sie ein Muggel geblieben.
Vielleicht wäre es besser gewesen.
„Quatsch“, ließ James' Stimme sie den Kopf heben. „Ihr seid genauso sehr magisch wie wir es sind. Ist doch egal, wo wir herkommen, wir sind magisch und nur das sollte zählen.“
„Richtig“, sagte Remus müde lächelnd, ein Ausdruck in seinen verschatteten Augen, als würde er jeden Augenblick einschlafen. „Mein Dad hat mir erzählt, dass meine Mum mal darüber gesagt hat, dass magisch zu sein nichts anderes sei, als Mensch zu sein. Manche sind einfach nur ein wenig magischer, im Grunde sind wir aber alle gleich.“
Marlene schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Deine Mutter klingt wie eine sehr intelligente Frau“, sagte sie langsam, als müsste sie jedes Wort genau abwiegen.
Remus lächelte und die Müdigkeit verblasste ein wenig aus seinem vernarbten, blassen Gesicht. „Das ist sie.“
„Oh Gott“, murmelte Benjy, die Wangen noch dunkler und die Augen noch weiter gesenkt. „Tut mir leid, ich hab die Stimmung voll runtergezogen.“
Mary wollte bereits zu einer Antwort ansetzen, aber von allen Leuten kam ihr Sirius Black zuvor: „Glaub mal nicht, so ein kleiner Realitätscheck würde uns runterziehen. Dazu fehlt noch so einiges, damit man hier die Stimmung versaut.“
„Ha, ganz genau!“ James Potters Grinsen war wie eine ansteckende Krankheit; man musste nur in seiner Nähe sein und schon fühlte man sich direkt davon betroffen. „Falls es dich aufheitert, wir haben, bevor wir hergekommen sind, ein paar Dungbomben in der Nähe des Slytherin-Gemeinschaftsraums platziert.“
Benjy lächelte verschmitzt. „Ihr habt's echt drauf.“
„Nächstes Mal kommst du einfach mit“, fügte Peter an. „Ich wette, du bist richtig gut darin, Slytherins zu ärgern.“
„Ich kann nicht glauben, dass ihr unseren unschuldigen Benjy in eure fiesen Pläne miteinbringt“, meinte Dorcas kopfschüttelnd. „Und dann nutzt ihr auch noch unsere schöne Wichtel-Runde dafür. Ich bin enttäuscht.“ Nicht einmal der gutmütige Professor Slughorn hätte diese absurde Lüge geglaubt, schon gar nicht mit dem versteckten Grinsen gepaart, das Dorcas hinter ihrer Hand versuchte zu verstecken.
„Du bist entweder für den Kampf gegen die Slytherins oder dagegen“, sagte James. Er schaute kurz irritiert, schüttelte dann den Kopf und fügte an: „Wie auch immer, jeder ist willkommen, den Schlangen eins reinzuwürgen.“
„Genau deshalb wird es nie innerhäuslichen Frieden geben“, zischte Lily mit roten Ohren. „Wenn ihr immer wieder und wieder zuschlagt, ist es kein Wunder, dass die Slytherins sich das nicht gefallen lassen.“
„Ach, Evans“, meinte Sirius kopfschüttelnd. „Du missverstehst uns doch komplett. Wir greifen ja niemanden an, der es nicht verdient hätte oder der nicht auch jede Chance eines Angriffes nutzen würde. Oder willst du mir sagen, du wärst lieber mit Blutfanatikern wie Avery und Mulciber befreundet?“
Mary biss sich auf die Zunge. So sehr sie Lily unterstützen wollte, konnte sie nicht anders, als in diesem Fall den selbsternannten Rumtreibern zu glauben. Sie konnte sich nur zu gut an die giftigen Blicke und noch giftigeren Wörter erinnern, die Mulciber ihr in Zaubertränke in den Nacken zischte, wenn Slughorn grad beschäftigt war, oder wie Avery ihr versucht hatte, einen Brandzauber auf den Hals zu hetzen, als sie auf dem Weg in die Große Halle gewesen war. Es wäre nur zu schön, wenn alle Häuser sich so vertragen würden, wie sie es mit den Leuten aus Ravenclaw und Hufflepuff konnten, aber sie vermutete, dass es einige Dinge gab, die zu sehr in manchen Schülern verankert waren; wie sollten sie auch keine fanatischen Reinblüter mit mittelalterlichen Ansichten sein, wenn sie es direkt von ihren Eltern so gelernt hatten?
Die Stille, die Lily als Antwort gab, war allen genug. Keiner hatte vergessen, wie Avery und Mulciber Lily zum Weinen gebracht hatten, als sie mit ihrem Slytherin-Freund Snape gegessen hatte.
James und Sirius tauschten ein gewinnendes Grinsen miteinander, als hätte Lily ihnen damit ihre persönliche Erlaubnis erteilt, den idiotischen Häuser-Krieg weiterzuführen.
Mary legte einen Ellbogen auf dem Tisch ab, bettete ihr Kinn in ihrer Handinnenfläche und seufzte lächelnd.
„Was ist?“, fragte Marlene neben ihr.
„Nichts“, erwiderte sie. „Ich glaube, ich freu mich einfach nur, hier zu sein.“ Ein warmes Gefühl tränkte sie von innen heraus. So fehl sie sich manchmal am Platz fühlte, so sehr sie manchmal nicht glaubte eine Hexe zu sein und so sehr sie manchmal nicht wusste, ob sie nicht doch einen Traum durchlebte, hier und jetzt war Mary Macdonald sich mehr als sicher, dass sie dazu gehörte, dass sie am richtigen Ort mit den richtigen Leuten gelandet war.
Marlene lächelte sie an, griff unter dem Tisch nach ihrer freien Hand und drückte sie fest. „Das tun wir alle.“
„Genug davon“, sagte Emmeline laut genug, sodass alle Blicke auf ihr landeten. „Wir sollten weiter machen oder wir sitzen noch hier, wenn das Abendessen beginnt. Wer ist als nächstes?“
Das warme Gefühl verstärkte sich nur, als Mary glücklich grinsend beobachtete, wie Benjy in dem Stapel nach einem Päckchen suchte und es mit roten Wangen an Peter reichte.
Weihnachten war nach allem eben doch ihre liebste Zeit im Jahr und was gab es Besseres, als die Feiertage mit ihren Freunden einzuläuten?