Regulus Black
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Regulus war sich nicht klar, wie er auf die Idee kam. Er wusste nur, dass es eine einfache Lüge war, sich von Evan und Barty zu entfernen und sich allein auf die Suche zu machen. Wo auch immer sein Bruder die ganze Zeit steckte, Regulus hoffte, dass er sich dort noch etwas länger aufhalten würde, damit er ungestört sein würde. Seine Füße trugen ihn rasch über den Innenhof, über die Brücke und hinauf auf die Ländereien. Der kühle Wind war mittlerweile wärmer geworden, die Sonne stand höher und ein paar Wolken formten sich am Himmel. Regulus hatte kaum Blicke für die Natur übrig.
In der Ferne konnte er noch sehen, dass das Gryffindor-Quidditchteam immer noch trainierte. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie lange sie mittlerweile schon auf ihren Besen saßen, aber es konnte bestimmt nicht angenehm sein. Allein die Tribünenbänke waren schon ungemütlich genug, da konnte ein Besenstil nicht gerade luxuriös sein.
Regulus fand seinen Weg zurück zum Stadion, gerade als ein greller Pfiff durch die Luft schnitt. Einer der älteren Schüler deutete alle an, dass sie sich bei ihm sammeln sollten, was für Regulus hoffentlich bedeutete, dass Training endlich beendet war. Er wartete im Schatten des Eingangs, bis alle Schüler sich wieder auf dem Boden eingefunden hatten. Es herrschte eine seltsam lockere Stimmung, die er nicht erwartet hatte; alle lachten und rissen Witze, als hätten sie nicht gerade Stunden damit verbracht, ihre Körper zu quälen. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie die Jungs und Mädchen ihre Besen schulterten, die Bälle einsammelten und sich auf den Weg zu den Umkleidekabinen machten.
James Potter bildete mit einem anderen Zweitklässler dessen Namen Regulus nicht kannte und dem älteren Jungen mit der Pfeife das Schlusslicht. Sein Grinsen war bereits von Weitem zu erkennen, was Regulus nur die Augen verdrehen ließ.
Als er die Umkleide betreten wollte, stieg Regulus aus den Schatten. „Kann ich mit dir reden?“, fragte er, seine Stimme ruhig und neutral gehalten, während seine Augen die von James Potter suchten. Von Nahem sah er weniger beeindruckend aus, als er sich selbst fand. Auf dem Besen konnte Potter mit einigen spektakulären Bewegungen angeben, aber auf dem Boden waren seine Füße still und seine Fähigkeiten gewöhnlich. Regulus verstand nicht, was Sirius an ihm fand.
„Mit mir?“, erwiderte James einen Moment später.
„Mit dir“, gab Regulus zurück. „Allein, wenn´s geht“, fügte er an, die neugierigen Blicke von Potters Teammitgliedern in seinem Nacken ignorierend.
„Äh – klar. Sicher. Geht schon vor.“
„Bist du sicher?“, fragte der ältere Junge mit einem besorgten Ausdruck, über den Regulus am liebsten die Augen verdrehen würde. Als ob er Potter am helllichten Tage verhexen würde.
„Sicher“, erwiderte James. „Ich komm klar.“
„Alles klar.“ Der ältere Junge schulterte seinen Besen wieder, ehe er die Umkleide betrat und James und Regulus endlich allein ließ.
„Womit verdiene ich diese Ehre?“
„Bild dir nichts ein. Ich will nur etwas mit dir besprechen, Potter.“
„Ah, verstehe, wir sind noch bei Nachnamen.“ Potter schenkte ihm ein Lächeln, das Regulus nicht erwiderte. Es flackerte einen Moment, ehe es ihm von den Lippen tropfte. „Na schön. Flieg mit mir.“
„Wie bitte?“, fragte Regulus ehrlich überrascht.
„Du willst reden, oder?“ James zuckte mit den Schultern. „Dann nimm dir ´nen Besen und flieg ´ne Runde mit mir, sonst rede ich vielleicht nicht.“ Ohne darauf zu warten, was Regulus tat, schwang er die Beine über seinen Besen und stieg dann ein paar Schritte in die Luft. „Du hattest doch schon Flugunterricht, oder?“, fügte er an, als Regulus sich nicht bewegte.
„Selbstverständlich“, entgegnete Reg säuerlich. Er hatte keine Lust auf dämliche Spielchen und wollte sich eigentlich auch nicht in die Luft bewegen, sah aber keinen Weg, wie er Potter sonst zum Reden bringen konnte. Mit einer flüssigen Bewegung ließ er seinen Zauberstab in die Hand rutschen, dann sagte er: „Accio“, ehe er das vertraute Rauschen von Luft vernahm. Einen Augenblick später blieb ein lädiert aussehender Schulbesen vor ihm ein paar Fuß über den Boden schwebe. Regulus stieg auf und kam sich wie ein Idiot vor.
„Nicht schlecht“, bemerkte James, als Reg sich ein paar Fuß hoch zu ihm bewegt hatte. „Also“, sagte er, ehe er sich leicht vorbeugte und weiterflog, „was willst du von mir?“
„Es geht um Sirius“, sagte Reg, der keinen Sinn darin sah, es hinauszuzögern oder um den heißen Brei herumzureden.
„Natürlich tut es das“, erwiderte James einige Schritte vor ihm. Das verschwitzte Haar klebte ihm am Hinterkopf. „Was hat er ausgefressen?“
„Noch nichts“, entgegnete Regulus. „Aber ich weiß, dass er das tun wird. Und dass wird meinen Eltern nicht gefallen.“
„Nun, euren Eltern gefällt nichts, was Sirius tut.“
„Richtig. Da kommst du ins Spiel.“
James warf ihm einen überraschten Blick über die Schultern, während sie um einen der Tribünentürme flogen. Er tat eine kräftige, rasche Wendung, bei der Regulus Mühe hatte, mitzukommen. Wenn er es nicht besser wüsste, dann würde er vermuten, dass James ihn versuchte abzuhängen. „Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du sagen willst.“
„Sirius wird auf dich hören“, sagte Regulus – rief es vielmehr, als der Flugwind in seinen eigenen Ohren rauschte. „Wenn du mit ihm redest, dann reißt er sich vielleicht zusammen.“
„Worauf willst du hinaus, Regulus?“
Sein eigener Name schnitt ihm wie eine zweischneidige Klinge in die Brust, als hätte James ihm mit einem Dolch mitten ins Herz getroffen und würde nur darauf warten, einen weiteren zu werfen. James Potter sollte es nicht zustehen, seinen Namen zu nennen, es sollte ihm nicht zustehen, seinen Namen mit seiner Zunge zu schmecken und doch hatte er es getan und Regulus … Regulus war sich nicht ganz sicher, ob er es ihm verbieten wollte. Ob er es konnte.
Es klang gut. Unschuldig. Neugierig. Regulus schluckte.
„Wenn meine Eltern glauben, dass Sirius für sie nicht mehr zu retten ist, dann machen sie mich zum Erben. Was sie dann mit Sirius tun, muss ich dir nicht sagen, oder?“ Regulus versuchte ruhig zu bleiben, aber er konnte nicht anders; James vor ihm, der Wind in seinen Haaren, die Gedanken an seine Eltern, an Sirius, an seine Zukunft – es brachte seine Lippen zum Zittern, seine Hände zum Beben. „Du musst ihn überzeugen, dass er aufhört.“
„Womit aufhört?“ James hielt abrupt mit seinem Besen in der Luft an, sodass Regulus ein paar Schritte zu weit schoss und plötzlich vor ihm war. „Wenn du mich fragen willst, ob ich Sirius dazu bringe, dass er euren Eltern glaubt und gehorcht, dann bist du an der falschen Adresse, Regulus.“
Schon wieder. Sein Name brannte, sein Name brannte Löcher in Regulus´ Seele und ließ ihn leer zurück. Alles, was ihn ausmachte, floss aus ihm heraus, bis er nur noch eine Hülle war, die vor James in der Luft schwebte. „Wir wissen beide, dass Sirius nur auf dich hört“, versuchte er es erneut.
„Und wir wissen beide, dass ich nicht will, dass er zurück in dieses Haus geht“, entgegnete James mit scharfer Stimme. „Ich weiß nicht, ob du einfach nur so tust, als würde alles vollkommen normal sein, aber Eltern sollten ihr Kind nicht so behandeln – sollten ihre Kinder nicht so behandeln“, fügte James hinzu.
Regulus reckte das Kinn ein wenig an. „Ich maße mir nicht an, dass du irgendetwas von dem verstehst, was mit einherkommt, wenn man Erbe einer altehrwürdigen Familie ist.“
„Du brauchst nicht so tun, als wäre ich irgendein Vollidiot, der noch nie etwas von Reinblütern gehört hat“, sagte James. „Ich weiß, dass man als Erbe Pflichten zu erfüllen hat, dass man die Familie repräsentiert und was noch, aber das heißt nicht, dass Sirius einfach tun muss, was von ihm verlangt wird und bestraft werden kann, wenn er es nicht tut. Hast du auch nur einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, an seiner Stelle zu sein?“
Ein schreckliches Stechen fuhr durch Regulus´ Brust, als er die harten Worte James´ vernahm. „Darum geht es mir“, erwiderte er leiser als zuvor. „Wenn Sirius sich weiterhin so benimmt, dann wird meine Mutter ihn aus der Familie … entfernen. Dann bin ich der Erbe. Dann bin ich an seiner Stelle.“
James betrachtete ihn einen Moment lang, ehe er kaum merklich den Kopf schüttelte. Die verschwitzten Strähnen klebten an seiner Stirn und fielen hinter die Gläser seiner Brille, die das Sonnenlicht reflektierte. Auf dem Besen hielt er sich, als bräuchte er ihn gar nicht, als wäre er in der Luft geboren. „Dann verstehe ich nicht, was du von mir willst. Ich werde dir nicht helfen, Sirius in einen perfekten Erben zu verwandeln, damit eure Mutter ihn weiterhin misshandeln kann.“
„Also willst du ihn retten, damit ich leiden kann?“, fragte Regulus, bevor er sich daran hindern konnte. Die Worte klebten ihm noch auf der Zunge, als James ihn ruckartig ansah. „Vergiss es“, fügte er an. Regulus versuchte sein Bestes, seinen Besen zu Boden zu manövrieren, aber seine Hände zitterten dermaßen, dass er sich nicht sicher war, ob er den Besen steuerte, oder ob der Besen ihn einfach nur in der Luft hielt, damit er nicht stürzte.
„Niemand verlangt von dir, dass du der Erbe bist“, meinte James.
„Oh, wirklich?“, schnaubte Reg ihn lautstark an. „Du scheinst dich ja gut mit meiner Familie auszukennen, Potter.“
Kopfschüttelnd sagte James: „Du benimmst dich wie Sirius.“
„Wage es nicht –“
Aber James unterbrach ihn, indem er eine Hand hob (dabei nicht einmal auf dem Besen wackelte, wie Regulus säuerlich feststellte) und dann anfügte: „Sirius wird genauso verteidigend, wenn es darum geht. Ich kann dir nur sagen, was ich ihm gesagt habe, aber niemand verdient es, in so einer Familie aufwachsen zu müssen. Ich meine, ihr könnt nicht mehr ändern, wer eure Eltern sind, aber ich glaube, ich könnt verändern, ob ihr so werdet, wie sie es wollen. Ihr habt eine Wahl.“
„Niemand im Haus Black hat eine Wahl“, sagte Regulus.
James betrachtete ihn erneut, ein stechend ehrlicher Blick, der sich hinter seinen Brillengläsern versteckte. „Dann hast du deine bereits getroffen, nehme ich an.“ Ohne ihm eine weitere Chance zu lassen, drückte James seinen Besen mit einem Bein nach unten, sodass er Richtung Boden glitt.
Regulus konnte nicht anders, als ihm zuzugucken, wie er auf dem Boden aufkam, absprang und keinen Blick zurückwarf, als er sich in Richtung Umkleidekabinen machte. Er presste die Finger so fest ins Holz des alten Schulbesens, dass er sich sicher war, dass es jeden Moment bersten würde. Was bildete sich dieser Trottel überhaupt ein? Wie kam er darauf, dass er so mit Regulus reden konnte, dass er so etwas zu Regulus sagen konnte? Offensichtlich hatte er keine Ahnung, was er redete, oder er würde nicht solch dümmliche Dinge von sich geben.
Regulus wusste, wie man sich im Haus benehmen musste, um nicht den Zorn der Ahnen zu wecken. Und er wusste, dass er keine Wahl hatte, wenn er leben wollte.
Regulus Black hatte keine Wahl.
Und James Potter würde das noch früh genug erkennen.