Severus Snape
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Kein Geräusch drang an Severus' Ohren. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände fest in den rauen Sitz gekrallt und versuchte vehement, seine komplette Umgebung auszublenden. Er wollte nicht daran denken, dass seine Nägel schmerzten, weil er sie so fest in den Sitz grub und er wollte nicht dran denken, dass sein Rücken an der Sitzlehne unangenehm schmerzte. Er wollte nicht denken, nicht denken, nicht denken, aber es wollte einfach nicht klappen. Jedes Mal, wenn Severus versuchte seinen Geist zu leeren, dröhnten die Bilder auf ihn ein. Lily, wie sie mit geröteten Augen vor ihm davon lief, sein Vater, der mit Schweiß auf der Stirn die Treppe herunterkrachte, seine schreiende Mutter. Severus wollte nicht daran denken müssen.
Aber er musste.
Musste sich erinnern, dass er Lily verletzt hatte, musste sich noch mehr daran erinnern, weil sie nicht bei ihm saß, sondern mit ihren Freundinnen. Wahrscheinlich lachte sie. Vielleicht dachte sie an ihn. Wohlmöglich hatte sie nicht einmal überlegt, die Fahrt mit ihm zu verbringen. Sie hatte den gesamten Sommer nicht mehr mit ihm gesprochen.
Severus stöhnte frustriert auf und riss die Augen auf. Er blinzelte ein paar Mal aggressiv, bis das Zugabteil wieder klar wurde. Eins seiner Augen fing an zu tränen und er rieb sich heftig über die Haut, bis es juckte und sicherlich rot war. Mit der einen Hand tastete er blindlings zur Seite, bis er den dicken Rücken eines Buches zu fassen bekam. Severus zog das Bibliotheksbuch zu sich und schlug es grob bei der markierten Seite auf. In der Hoffnung einen wichtigen Tipp überlesen zu haben, überflog er die Seite erneut.
Okklumentik ist die Kunst des kompletten Schutzes des eigenen Geistes gegen unerwünschtes Eindringen von außen. Mithilfe der Okklumentik können Hexen und Zauberer verhindern, dass Legilimens gegen sie genutzt wird und sich ebenfalls darin üben, vollkommene Klarheit des Geistes zu erreichen. Wenn ein Zauberer oder eine Hexe seinen Geist kontrollieren kann, dann können ungewünschte Erinnerungen ausgeblendet oder sogar gesperrt werden. Mit einem rigorosen Training ist es möglich, den Geist so zu trainieren, dass alle -
Zornig blättere er weiter. Irgendwo musste es doch eine verdammte Anleitung dafür geben, wie man seinen Geist trainierte. Severus war es leid, dass er stundenlang am Tag daran erinnert werden musste, dass er Fehler gemacht hatte. Er war es leid, immer wieder Lilys verweintes Gesicht zu sehen, immer wieder daran erinnert werden, dass er ihr weh getan hatte. Er wollte die schlechten Zeiten nicht vor Augen haben. Alles, was er sehen wollte, war Lilys Lächeln, wenn sie ihn ansah. Dafür musste er lernen, seinen Geist zu entrümpeln und all die negativen Erinnerungen zu entfernen.
Er wollte nicht sehen, wie Lily weinte.
Alles, was zählte, war sie glücklich zu sehen.
Was war denn schon dabei, wenn er ein paar der blöden Momente verbannen musste? Solange sie glücklich war, war es das wert, sagte er sich. Es zählte sowieso nur, dass er Lily glücklich machte. Sie brauchte ihre dämliche Schlammblut-Schwester nicht und sie brauchte auch diese Freundinnen von ihr nicht. Früher waren er und Lily auch immer zusammen glücklich gewesen. Das würde er wieder holen.
Severus hielt inne und las.
Der Geist kann wie ein endloses Gefäß betrachtet werden. Um sich davor zu schützen, dass jemand die eigenen Gefühle oder Erinnerungen sieht, muss man das Gefäß lediglich verschließen. Das kann mit einem rudimentären Deckel geschehen oder mit einem starken Schloss. Solange der Wille stark genug ist, seine Gefühle und Erinnerungen zu schützen, kann jede Hexe und jeder Zauberer die Kunst der Okklumentik beherrschen. Um die Okklumentik zu beherrschen, ist es wichtig, in kleinen Schritten zu arbeiten. Den gesamten Geist zu schützen ist zwar das Ziel, aber dieses wird nicht nur in einem Schritt erreicht. Es gelobt sich, mit weniger starken Erinnerungen anzufangen und versuchen, diese wie mit einer Schöpfkelle in einen kleinen Kessel zu geben. Es sollte einfacher fallen, eine geringe Menge seines Geistes zu kontrollieren als alles auf einmal.
Endlich! Severus klappte den Wälzer mit einem zufriedenen Grinsen zu. Das war der Hinweis, den er gesucht hatte. Ein weiteres Mal presste er die Augen zusammen, nutzte allerdings dieses Mal den Tipp aus dem Buch. Erst stellte er sich einen breiten Kessel vor, der in seinem Kopf stand, dann dachte er fest an die Erinnerung, die er verbannen wollte. Er schob Lilys verweintes Gesicht in die vorderste Ecke seines Kopfes, dann stellte er sich vor, wie er es in einen Topf stopfte und wegschob. Vehement wiederholte er die magischen Formeln in Gedanken, die das Buch ihm gelehrt hatte, krallte die Finger erneut fest in den Sitz und wartete. Hoffte.
Das Resultat kam nicht sofort. Für mehrere viel zu lange Momente sah er nur noch Lily vor sich, die sich weinend von ihm abwandte, immer und immer wieder die gleiche Szene aus dem Sommer. Dann wurde Lilys Gesicht verschwommen, ihre Züge verblassten, dann erschienen sie wieder, dann verblassten sie erneut, dieses Mal länger. Das Ganze wiederholte sich, bis Severus Lilys Gesicht kaum noch ausmachen konnte. Es war, als würde sie wirklich langsam aus seinem Kopf verschwinden und nur die Lily übrig lassen, die sich am 1. September kaum noch vor Aufregung beherrschen konnte.
Severus öffnete die Augen und lächelte. Er hatte herausgefunden, wie er seinen eigenen Geist schützen und sich selbst vor den unschönen Momenten bewahren konnte. Er würde nie wieder daran denken müssen, dass Lily und ihre dumme Schwester ihn angeschrien hatten, nie wieder würde er sehen müssen, wie Lily ihn anschrie, weil er den Ast auf die Schlammblüterin geworfen hatte. Sie würde endlich wieder so sein, wie sie sein sollte, wie er sie immer kannte. Glücklich. Lächelnd. Ihre Augen würden glänzen, wenn er an sie dachte und daran würde sich nichts mehr ändern, denn das war die einzige Art, wie Lily existieren sollte.
Die Tür zu seinem Abteil wurde aufgerissen. „Yo, Snape, was hockst du hier allein rum?“, ertönte die schnarrende Stimme von Nestor Avery, der sich sogleich auf dem Sitz ihm gegenüber fallen ließ. Es schien, als wäre er über die Sommerferien gewachsen; seine Beine waren so lang, dass Severus die Füße einziehen musste, damit sie sich nicht berührten und auch Averys Haare waren länger geworden, sodass er ein wenig Ähnlichkeit mit einem nassen Hund hatte. Was sich nicht verändert hatte, waren das lahme Grinsen auf seinen Lippen und das Glitzern in seinen dunklen Augen.
„Also wirklich“, sagte Ennis Mulciber, der ebenfalls im Abteil erschien und sich ohne Einladung auf den Platz neben Severus setzte. Auch er war über den Sommer größer geworden, wobei sich das hauptsächlich auf seine Schultern ausgewirkt hatte, die jetzt breiter als der Rest seines Körpers waren. Im Gegensatz zu Avery hatte er die Haare kurz geschoren und wirkte bedrohlicher denn je, was für Severus noch immer lächerlicher als alles andere war, wenn er bedachte, dass Mulciber gerade einmal vierzehn war. „Man könnte fast meinen, du willst nichts mehr mit uns zu tun haben. Meinen letzten Brief hast du auch nicht beantwortet.“
Severus zuckte mit der Schulter, bevor er das Okklumentik-Buch vom Sitz in seine Tasche gleiten ließ. „Ich war beschäftigt“, antwortete er wahrheitsgemäß.
„Mit was“, verlangte Avery zu wissen. Es schien, als hätte er über den Sommer auch mehr Selbstvertrauen gewonnen.
„Ich weiß nicht, was dich das angeht“, entgegnete Severus mit angezogener Braue. Avery und Mulciber waren vielleicht seine Freunde, aber er würde ihnen sicherlich nicht von der Lily-Geschichte erzählen. Sie würden es sowieso nicht verstehen. Sie hatten es noch nie verstanden, wieso er so an Lily hing.
Avery grinste schief und hielt sich eine Hand auf den Brustkorb. „Autsch, Sevi, du tust mir weh.“
Severus zog eine Grimasse.
„Lass mich mal raten“, sagte Mulciber in seiner langsamen Art, ehe er den Kopf zu Severus drehte. Die Abteiltür stand hinter ihm weit offen. „Du hast dieses Buch bestimmt einhundert Mal durchgelesen, das du aus der Bibliothek geklaut hast.“
Avery pfiff beeindruckt. „Du Kleinkrimineller.“
„Ich hab´s nicht geklaut“, zischte Severus mit Blick auf die offene Tür. „Ich hab´s geborgt.“
„Was die alte Pince bestimmt weiß“, fügte Mulciber lächelnd an.
Severus spürte, wie die Hitze in sein Gesicht stieg. „Schön, ich hab´s geklaut. Aber ich bring´s ja zurück.“
„Weiß nicht, warum du dich so aufführst“, sagte Avery mit zuckenden Schultern. „Ist ja nicht so, als würden wir dich verpfeifen, Snape.“
„Genau. Wir sind doch alles Freunde hier, nicht wahr?“ Mulcibers Lächeln war wie ein Hai, der kurz davor war, seine Beute zu zerreißen.
„Klar“, gab er zerknirscht zu.
„Dann zeig mal, was du gelesen hast.“, forderte Avery auf.
Mulciber lachte spitz. „Als ob du lesen kannst, Nes.“
Avery überging ihn. „Komm schon, Snape. Was für Magie hast du dieses Mal studiert? Flüche?“
Widerwillen schob Severus eine Hand in seine Tasche und holte den dicken Okklumentik-Wälzer hervor. Er ließ ihn auf seinen Schoß sinken.
Beeindruckt hob Mulciber die Augenbrauen. „Okklumentik“, sagte er überrascht. „Das ist äußerst komplizierte Magie, Severus. Bist du sicher, dass du damit schon experimentieren solltest?“
„Ich experimentiere nicht“, schnaubte er zur Antwort. „Ich lese mich nur rein.“
„Natürlich tust du das. Wobei“, Mulciber nickte zum Buch, „es natürlich eine gute Fähigkeit ist, wenn man sie beherrscht. Was mich zur Frage bringt, warum du unbedingt Okklumentik beherrschen willst. Hast du etwa etwas zu verbergen, Severus?“
Er konnte nicht verhindern, dass seine Ohren heiß wurden. „Habe wir nicht alle unsere kleinen schmutzigen Geheimnisse?“, stellte er die Gegenfrage.
Für einen Augenblick starrten Mulciber und Avery ihn mit aufgerissenen Augen an, dann erschien dieses zähnezeigende, blitzende Lächeln auf Mulcibers Gesicht, vor dem jeder sich in Acht nahm. „Oh, Severus. Schlagfertig wie eh und je. Ich muss doch zugeben, ich habe es im Sommer ein klein wenig vermisst.“ Er lachte kurz auf. „Behalt deine Geheimnisse. Du wirst sie sowieso viel zu gut hüten, als dass ich sie herausfinden könnte, nicht wahr?“ Mulciber wartete nicht, bis Severus etwas sagte. „Aber lass dir zumindest gesagt sein, dass du gut daran tätest, der beste Okklumentiker jemals zu werden, wenn du dich darin üben willst. Andernfalls werden deine Geheimnisse dir auf unserem Pfad nur zum Verhängnis werden, Severus.“