Remus Lupin
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Sirius, so stellte Remus fest, fand seinen Weg nicht zurück durch die Vorhänge von Remus' Bett. Die Nächte blieben ruhig, die Tage blieben laut, aber keine Anzeichen waren zu finden, dass Sirius darüber reden wollte, was ihn plagte. Remus konnte es in seinem Blick sehen: die sonst so sturmgrauen Augen Sirius', die bei jeder Gelegenheit mit Schalk und Witz glühten, waren trüb und dunkel.
Der Januar schenkte Hogwarts noch mehr Schnee und Stürme. Kräuterkunde war bis aufs Weitere abgesagt und Schüler hatten selbst in den Korridoren und Klassenzimmern dicke Schals umgewickelt, um sich gegen die zischende Kälte zu wappnen, die durch die Risse strömte. Professor Flitwick unterbrach sein übliches Programm, damit er seinen Klassen etliche Wärmezauber beibringen konnte und Professor Slughorn stellte extra heiß brennende Kessel voll mit Butterbier bereit, die seinen Klassenraum aufheizten und außerdem süße Belohnungen für die Schüler am Ende jeder Stunde waren.
Am Abend thronten riesige Töpfe voller duftender Suppen und deftigen Eintöpfen auf den vier Haustischen und die Kaminfeuer knisterten ein wenig heller. James erleichterte die Hauselfen in der Küche am ersten Tag um einen ganzen Vorrat an Süßkram, Kuchen und Kürbissaftflaschen, die er stolz im Gemeinschaftsraum verteilte. Selbst Lily griff dankbar nach einem Muffin, als er ihr mit freundlicher Stimme einen anbot. Alles in allem hatte sich eine gemütliche, winterliche Stimmung im ganzen Schloss verbreitet, aber Sirius sah weiterhin so aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Remus wollte nicht derjenige sein, der unerwünschte Erinnerungen hochbrachte oder Sirius' Privatsphäre durchbrach, konnte aber trotzdem nicht mitansehen, wie sein Freund nicht einmal motiviert genug war, um den Slytherins eins auszuwischen, obwohl James und Peter mit ein paar grandiosen Einfällen angekommen waren. Und zu dritt machten die Rumtreiber keinen Sinn, wie James beteuerte.
Sirius hatte bisher nicht einmal Hunky Dory hören wollen und dabei war David Bowie laut Remus' Meinung die Lösung für fast alles.
„Wir brauchen einen Plan“, sagte James am Frühstückstisch. Er hatte seinen Teller mit Bergen an Rührei beladen und aß bereits sein drittes Toast mit Bacon. Auf Marys verstörten Blick hin hatte er nur“ „Proteine“, gesagt und dann weitergegessen. „Es kann so nicht weitergehen.“ Die ganze Woche über hatte Sirius nicht mehr gesagt, als nötig war und auch in den Klassenzimmern zog er kaum Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte nicht mal etwas gesagt, als Slughorn Snapes perfekten Heiltrank gegen Furunkel vor der Klasse gepriesen hatte.
Zwar zerrte der kommende Vollmond an Remus' Nerven, aber er musste James zustimmen. So ein Sirius Black war ihm nicht geheuer. „Was sollen wir tun?“, fragte er. „Er redet nicht mit uns darüber.“
James wedelte mit seiner Gabel umher. „Ich weiß, das ist es ja. Ich wette, wenn er darüber reden würde, dann würde es ihm besser gehen, so wie die letzten Male, aber irgendwas muss passiert sein, dass ihn - keine Ahnung, verängstigt oder so.“ Er zog eine Grimasse, als würde ihn der Gedanke an einen verängstigten Sirius physische Schmerzen bereiten.
„Hast du schon versucht mit seinem Bruder zu reden?“, fragte Peter, der auf der anderen Seite saß und nachdenklich auf seinen Teller blickte. „Der müsste doch wissen, was los ist, oder?“
„Ich hab’s versucht“, erwiderte James mürrisch. „Jedes Mal, wenn ich ihn ansprechen wollte, waren entweder ein Dutzend Slytherins um ihn oder er hat sofort mit seinen Freunden das Weite gesucht. Bin ich angsteinflößend?“, fügte er hinzu.
Remus schnaubte. „Für einen Niffler vielleicht. Keine Sorge, James, ich glaube nicht, dass Regulus Angst vor dir hat.“
„Was ist es denn dann?“
„Vielleicht kann er dich einfach nicht leiden?“, überlegte Peter.
James fiel der Mund auf. „Warum sollte er mich nicht leiden kann? Ich würde sagen, ich bin überaus liebenswert! Witzig, loyal, ein guter Flieger, intelligent natürlich und offensichtlich gutaussehend -“
„Vergiss arrogant und ignorant nicht“, klinkte Mary sich ein. Sie saß James gegenüber und hatte zuvor nur stumm an einer Hausaufgabe gearbeitet, die nun vergessen neben dem Kürbissaft lag. „Sieh es ein, Potter, nicht jeder ist deinem unmöglichen Charme erlegen.“
James öffnete den Mund, schloss ihn wieder und dann grinste er Mary mit blitzenden weißen Zähnen an. „Du denkst also auch, ich wäre wahnsinnig charmant?“
Mary verschränkte die Arme vor der Brust, mied aber seinen Blick. Sie ignorierte, was er gesagt hatte und fragte stattdessen: „Habt ihr denn schon versucht ihn abzulenken? Ich kann mir vorstellen, dass er den Kopf einfach mal richtig frei bekommen muss, dann ist er bestimmt auch bereit zu reden.“
„Wir haben schon versucht -“, fing Peter an, aber Mary unterbrach ihn mit einem Zungenschnalzen.
„Nicht mit Streichen oder was auch immer ihr ständig macht. Etwas, dass ihn komplett ablenkt und auf etwas anderes fokussieren lässt. Wisst ihr, mein Dad nimmt sich immer eine Karte und fährt in die umgehenden Wälder, wenn er zu gestresst von der Arbeit ist. Ein paar Stunden Wandern helfen ihm immer, damit er klar denken kann.“
„Wir können ihn schlecht auf eine nächtliche Wanderung in den Verbotenen Wald nehmen“, sagte Peter mit hochgezogenen Brauen.
„So abwegig finde ich das - okay, tut mir leid.“ James wurde durch einen intensiven Blick Marys ruhig gestellt.
„Aber vielleicht ...“, sagte Remus langsam. „Vielleicht ist das gar keine blöde Idee. Natürlich nicht im Wald“, fügte er schnell hinzu, „aber immerhin redet ihr beiden doch immer davon, dass ihr jeden geheimen Winkel des Schlosses finden wollt, oder nicht?“ Er blickte zu James, der zur Antwort nickte. „Dann sollten wir genau das tun. Uns im Schloss herumtreiben und Geheimnisse finden.“
James und Peter strahlten über Remus' Vorschlag, während Mary lediglich seufzte. „Wenn ihr erwischt werdet und Nachsitzen aufgebrummt bekommt, ist das aber nicht meine Schuld“, sagte sie, ehe sie sich wieder ihrem Aufsatz widmete.
Sirius davon zu überzeugen, nachts im Schloss herumzuwandern, war nicht schwierig. Regeln zu brechen lag ihm im Blut und wenn er schon keine Lust hatte, ausgeklügelte Streiche auszuhecken, konnte man ihn für eine schöne Runde Speerstunde missachten immer begeistern.
Das Portrait der Fetten Dame war zwar wenig erfreut, als sich die vier Gryffindor-Zweitklässler in dieser Nacht herausschlichen („Warum weckt ihr mich denn andauernd?“), aber das reichte lange nicht, damit sie ihre Mission abbrechen würden.
Remus musste zugeben, dass es ihm irgendwie gefiel. Das Adrenalin pumpte durch seine Venen, als er sich hinter James durch die ausgestorbenen Korridore schob, sein Herz klopfte bei jedem entfernten Echo etwas schneller und er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen (wobei das auch der Wolf in seinen Adern sein könnte, der sich im Mondlicht regte). Sein anfängliches Misstrauen, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, war bereits verflogen, da hatten sie den siebten Stock noch nicht verlassen. Remus antizipierte Großes für diese Nacht.
„Das ist genial“, flüsterte Sirius, als sie den Treppenaufgang erreichten. Das Echo von eintausend schnarchenden Portraits hallte wie ein einstimmiger Chor durch die marmorne Halle. „Das ist einfach genial.“
James grinste sie über seine Schulter hinweg an, gleißendes Licht an der Spitze seines Stabes, das seine braune Haut wie Gold glänzen ließ. „Das ist erst der Anfang, mein Freund. Stell dir nur vor, was wir alles finden können, wenn wir die Gänge für uns haben!“
„Geheimhänge und versteckte Schätze und einen lebenslangen Vorrat an Schokofröschen“, hauchte Peter in die Nacht.
„Das ist die richtige Einstellung, Pete“, erwiderte James.
„Und wo fangen wir an?“, fragte Remus, den es in den Fingern juckte, hinter jede unbekannte Tür zu gucken. „Darüber hätten wir uns vielleicht Gedanken machen sollen.“
„Ah, Lupin, Legenden werden nicht auf Plänen errichtet. Sie werden aus Zufall und Glück und Hingabe geboren. Und ich würde fast behaupten, dass heute die Legende der Rumtreiber geboren wird.“ James' Enthusiasmus war ansteckend genug, damit Remus sein Grinsen erwiderte.
„Aber ich schätze mal, es kann nicht schaden, wenn wir festlegen, wo es losgeht“, meinte Sirius.
„Die Kerker“, schlug Peter vor. „Stellt euch die Gesichter der Slytherins vor, wenn wir alle Geheimgänge in ihrem Revier gegen sie ausnutzen können.“
„Genial“, antwortete Sirius mit glänzenden Augen. Das Licht von James' Zauberstab reflektierte sich in seinen dunklen Pupillen. „Das wird die beste Nacht meines Lebens.“
James voran, Remus und Peter hinter ihm und Sirius als Schlussschlicht, schlichen die Rumtreiber sich über die vielen Marmortreppen nach unten. Sie bewegten sich auf Zehenspitzen, damit sie keins der schlafenden Gemälde wecken würden und damit sie hören würden, wenn sich irgendwo eine Tür öffnen würde. Die Lehrer und Vertrauensschüler patrouillierten nachts das Schloss, als würden sie den Schülern nicht zutrauen, keine Regeln zu missachten („Eine bodenlose Frechheit“, wie James fand. „Kein Vertrauen wird uns entgegengebracht.“), und würden jedem Nachsitzen aufbrummen, der ihnen nach der Sperrstunde unterkam.
Im dritten Stock trafen sie auf den Geist des Fetten Mönches, der mit geschlossenen Augen und vor sich hin murmelnd durch eine der Wände glitt und in der Eingangshalle mussten sie sich alle eng in die Schatten drücken, als Professor Sprout mit ihrem hell erleuchteten Stab in die Große Halle schlenderte. Dabei summte sie fröhlich vor sich hin, was Remus schließen ließ, dass es ihren kälteempfindlichen Pflanzen mittlerweile besser ging.
„Wir könnten -“, fing James an, aber Remus brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen, als in der Entfernung Schritte erklangen.
Sirius drückte sie alle nacheinander in die Besenkammer, verschloss die Tür, sodass sie einen Spaltbreit offen war und lauschte. Die Schritte kamen langsam näher und mit ihnen wehte die Stimme von Professor McGonagall zu ihnen.
„- Ihnen versichern, dass Sie sich keine Sorge um Ihre Schwester machen müssen, Mrs. Malfoy.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, fragte die verstopft klingende Stimme einer Frau. „Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihr gehört.“
Sirius versteifte sich hinter Remus, seine Finger gruben sich in Remus' Schulter. „Narzissa“, hauchte er in die Besenkammer.
„Mrs. Malfoy, Sie können meinem Wort Glauben schenken. Andromeda und auch Ihrem Mann geht es gut. Sie sind sicher dort, wo Sie sich jetzt befinden und es gibt nur wenig, dass Ihnen jetzt schaden könnte.“
„Sie wissen nicht, was Sie da sagen“, erwiderte Narzissa schnaubend. „Es gibt Zauberer, die es auf sie abgesehen haben und sie werden Andy und Edward nicht verschonen, nur weil sie meine Schwester ist. Sie ist ungefähr genauso sicher wie jeder andere Blutsverräter.“
Professor McGonagalls Stimme erklang laut und streng neben ihnen. „Ihre Schwester hat eine Wahl getroffen, Mrs. Malfoy, eine, die ihnen auch bevor steht. Es ist kein gut gehütetes Geheimnis, dass unsere Welt vor einigen schwerwiegenden Veränderungen steht. Jeder, der Voldemort unterstützt, trägt dazu bei, dass der seit Jahren erhaltene Frieden brüchiger wird.“
Narzissa sog scharf die Luft ein, als McGonagall diesen Namen aussprach - Remus konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gehört zu haben -, dann antwortete sie gefährlich leise: „Mich interessiert dieser ganze Konflikt nicht. Ich will nur nicht, dass meiner Familie etwas zustößt.“
Ein seltsamen Geräusch wehte zu ihnen und Remus einen Augenblick später, dass Professor McGonagall gelacht hatte. Eine Gänsehaut rann ihm den Rücken hinab.
„Das ist wahrscheinlich schwieriger, als Ihnen lieb ist, Mrs. Malfoy, immerhin ist es doch Ihre Familie, die diesen Konflikt herbeisehnt.“
Lange war es leise und auch die Schritte der beiden Frauen hatten ausgesetzt. Remus spürte Sirius' heißen Atem in seinem Nacken und seinen eigenen Herzschlag in den Ohren. Es war so still, er war sich sicher, sie würden jeden Moment durch ihre rasenden Herzen erwischt werden.
„Vielen Dank, Professor“, sagte Narzissa letztlich. „Vielleicht“, sie stockte, holte Luft. „Vielleicht könnten Sie eine Nachricht für mich an meine Schwester weiterleiten?“
„Das ließe sich bestimmt einrichten, Mrs. Malfoy. Kommen Sie gerne morgen in mein Büro, wenn Sie etwas aufgeschrieben haben.“
„Vielen Dank“, wiederholte Narzissa. „Gute Nacht, Professor.“
„Gute Nacht, Mrs. Malfoy. Ach und - Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Hochzeit.“ Professor McGonagall wartete nicht, bis Narzissa antwortete. Die Schritte der Professorin hallten in der leeren Eingangshalle wider.
Die Rumtreiber verharrten in der Besenkammer, bis auch Narzissa sich endlich in Bewegung setzte. Sie warteten ab, bis das letzte, entferne Echo verschwunden war, dann atmeten sie kollektiv aus.
„Was war das denn?“, fragte James leise.
„Das ...“ Sirius' Stimme versagte. Er räusperte sich. „Ich schätze, meine Cousine hat grad bewiesen, dass sie doch ein Herz besitzt.“