Lily Evans
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Der Appetit auf einen guten Pudding verging Lily allerdings, als sie sich gemeinsam mit Sev an den Slytherin-Tisch setzte; die ganze Halle schien in Geflüster und Gemurmel unterzugehen, verstecktes Geraune und entsetztes Aufatmen ging durch die Decke und es dauerte nicht lange, bis Lily ebenfalls erkannte, warum das so war. Die neuste Ausgabe des Tagespropheten war im wahrsten Sinne des Wortes hereingeflattert – ein ganzes Parlament an Eulen hatte die Zauberer-Zeitung in die Große Halle gebracht und überall saßen Schüler und auch Lehrer nebeneinander, steckten die Köpfe zusammen und lasen die Schlagzeile.
Lily klaubte sich eine Ausgabe vom Tisch, schlug die Zeitung auf und fühlte einen ganzen Eimer Eis in ihren Magen rutschen.
MUGGELFAMILIE IN YORK TOT AUFGEFUNDEN – AUROREN HABEN SCHWARZE MAGIER IM VERDACHT
Der Abend des 27. Septembers wird den Leuten in York nicht gut im Gedächtnis bleiben. Familie Campell wurde in den frühen Abendstunden von ihrer Nachbarin tot in ihrem Haus aufgefunden. Es gab weder Einbruchsspuren noch Anzeichen von Gewalteinwirkungen, lediglich der Ausdruck von Terror auf den Gesichtern der vier Toten, darunter die Eltern sowie die beiden Kinder, vierzehn und sieben Jahre alt. Muggel-Gesetzesmänner (sie nennen sich Polizisten) untersuchten den Tatort, konnten aber keine Spuren finden – Auroren, die einige Minuten später dazustießen, fanden allerdings sofort die Hinweise, die sie gefürchtet hatten. Spuren von dunkler Magie und die Nutzung des Unverzeihlichen Todeszaubers. Bisher ist nicht bekannt, wieso die Muggelfamilie sterben musste, aber die Auroren gehen keinesfalls von Einzeltätern aus. Sie verbinden diesen Fall mit den überall im Land vorgefallenen Angriffen auf Muggel und Muggelstämmige sowie das Verschwinden der muggelgeborenen Ministeriumshexe Alana Morg, die im Mai diesen Jahres aus ihrer Wohnung in London verschwand.
Die Aurorenzentrale möchte zu Vorsicht aufrufen. Bisher ist nicht bekannt, wer hinter diesen Taten steckt oder was die Motive der Täter sind, es ist lediglich klar, dass sie keinem Schema folgen. Die Angriffe auf Muggelfamilien sowie muggelgeborene Hexen und Zauberer lässt eindeutig auf die Tat von schwarzen Magiern schließen. Sollte Ihnen etwas auffallen oder sollten Sie jemanden kennen, der sich verdächtig benimmt, dann zögern Sie bitte nicht, sich bei der zuständigen Aurorenzentrale zu melden. Das Ministerium ist auf die Mithilfe der Hexen und Zauberer angewiesen, damit diese Angriffe endlich stoppen.
Lily war schlecht, als sie die Zeitung beiseitelegte. Ihre Finger zitterten. Noch ein Angriff auf eine Muggelfamilie. Sie betrachtete das Bild der Familie, dass dem Artikel beigefügt war. Es war eine sehr ordinär aussehende Familie gewesen, ein Vater, eine Mutter, zwei Töchter. Lily wurde noch schlechter, als sie daran dachte, dass das genauso gut hätte ihre Familie sein können.
„Das ist grausam“, flüsterte sie mit fahler Stimme. „Wie kann man sowas nur tun?“
Severus, der den Artikel nur überflogen hatte, blickte von seinem Hackbraten auf. „Es gibt immer so Leute“, sagte er achselzuckend. „Keine Sorge, Lily, die werden die Zuständigen schon schnappen und dann musst du dir keine Sorgen mehr machen.“
„Dann muss ich – hast du überhaupt gelesen, was da stand?“, fragte sie aufgebracht. „Das sind keine Einzelfälle. Jemand geht mit einem direkten Hass auf Muggel und Muggelgeborene vor und tötet diese! Da draußen ist irgendein machtbesessener Zauberer, der seine Magie ausnutzt, um Menschen zu töten! Was würdest du tun, wenn ich das nächste Opfer bin? Auch einfach gemütlich weiteressen?“
Sev legte erschlagen die Gabel beiseite. „Lily, wie kannst du – natürlich nicht!“, sagte er schnell. „Ich meinte nur, dass du hier sicher bist. Hier, in Hogwarts. Niemand wird dir hier etwas antun können. Wer sagt denn überhaupt, dass es gezielte Angriffe auf Muggel und Muggelgeborene ist? Das könnten auch Zufälle sein.“
„Ich fass es nicht“, sagte Lily mit schriller Stimme, die ihr einige neugierige Blicke kassierte. Sie nicht beachtend, fuhr sie fort: „Hast du denn in Geschichte der Zauberei überhaupt nicht aufgepasst? Muggel und Muggelgeborene sind schon seit Jahrhunderten die Sündenböcke der Zauberer und Hexen, die an die Überlegenheit des Blutes glauben. Gellert Grindelwald gesamter Krieg gegen die Welt –“
„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest“, unterbrach Sev sie mit scharfer Stimme. „Das sind alles Gerüchte und vergangene Zeiten. Niemand denkt heute noch so. Außerdem ist das doch Unsinn. Überlegenheit des Blutes, also wirklich“, murmelte er säuerlich und nahm seine Gabel wieder auf. „Guck dich doch mal an. Du bist muggelgeboren und die beste Hexe in unserem Jahrgang.“ Ein roter Schleier schlich sich auf Sevs Wangen. „Wer auch immer daran glaubt, dass das Blut die magischen Fähigkeiten ausmacht, der hat dich noch nie dabei beobachtet, wie du einen Schwamm in ein Meerschweinchen verwandelt hast.“
Lily wusste nicht, was sie denken sollte. Versuchte Sev sie aufzumuntern, indem er ihr sagte, wie toll sie war – etwas, dass auch bei ihr heiße Wangen verursachte – oder wollte er nur von der schrecklichen Zeitung ablenken, die noch immer zwischen ihnen lag. Diese Todesfälle und das Verschwinden der muggelgeborenen Ministeriumshexe – Lily glaubte nicht an Zufälle. Es konnten keine Zufälle sein, dass diese Taten so kurz nacheinander passierten und selbst die Auroren vor schwarzen Magiern warnten. Sie wusste nicht, was Sev vorhatte, hatte aber auch keine Gelegenheit mehr, ihn darauf anzusprechen. Als hätten sie geahnt, was in ihrem Kopf vor sich ging, setzten sich Ennis Mulciber und Nestor Avery auf die Plätze neben Severus.
„Hiya, Snape“, sagte Avery. „Wie ich sehe, hast du mal wieder Evans an unseren Tisch gebracht.“
„Eine muggelgeborene Gryffindor am Slytherintisch“, fügte Mulciber mit seiner langsamen Art hinzu. Er lächelte Lily an, aber es half keineswegs, dass sie sich besser fühlte. Die Art, wie er beim Lächeln die Zähne zeigte, verpasste Lily eine Gänsehaut. „Ihr habt auch schon die Schlagzeile gelesen, nehme ich an?“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Tagesproheten.
„Haben wir“, presste Sev hervor, hielt seinen Blick aber auf seinem Hackbraten.
„Es ist schrecklich“, sagte Lily. „Einfach unmenschlich und widerwärtig.“
„Ah, Evans“, erwiderte Avery. „Sag das nicht allzu laut, es könnten dich die falschen Leute hören. Du willst doch nicht, dass man dein Bild als nächstes in den Schlagzeilen sieht, oder?“
„Soll das eine Drohung sein?“, fragte Lily mit zusammengebissenen Zähnen.
„Eine Drohung? Aber keineswegs.“
„Nenn es eine Warnung“, fügte Mulciber sanft an. „Wir wollen doch nicht, dass dir etwas zustößt, Evans. Du bist doch Snapes kleine Freundin und er hängt so sehr an dir.“
Schamesröte kroch in Severus‘ Wangen und er presste die Lippen zu einer blassen Linie zusammen.
„Lasst uns in Ruhe“, sagte Lily laut. „Geht einfach wieder weg.“
„Aber, aber“, entgegnete Mulciber. „Wir haben ein sehr gutes Recht, hier zu sitzen, Evans.“
„Immerhin sind wir tatsächlich in Slytherin“, sagte Avery.
Lily schnaubte. „Es gibt keine Regel, die besagt, dass man nicht an anderen Haustischen sitzen kann. Im Gegenteil – es wird sogar befürwortet und ermutigt.“
„Eher fresse ich eine Venemosa Tentacula, als dass ich mich zu den Schlammbl-“, fing Avery giftig an.
„Avery“, zischte Severus lautstark. „Lass das.“
„Sag du mir nicht, was ich tun soll, Snape“, spuckte Avery zurück. „Das ist ein freies Land, nicht wahr?“
„Und doch tätest du gut darin, deinen Mund manchmal ein wenig zu zügeln“, sagte Mulciber leise. „Oder willst du etwa, dass Leute den falschen Eindruck von dir bekommen?“
Avery legte seinen kleinen Augen auf Lily und grinste dann schief. „Selbstverständlich nicht. Absolut nichts wäre mir lieber, als mit Evans und ihren kleinen Muggelfreunden zu essen.“
„Dazu wird es sicherlich nie kommen“, sagte Lily und sprang gleichzeitig auf, wodurch ein Glas voll Kürbissaft umkippte. Hellorange verfärbte sich die weiße Tischdecke, aber sie kümmerte sich nicht darum. „Ihr seid nur zwei Widerlinge, die sich hinter einem ansehnlichen Namen verstecken. Keine Sorge, ich werde euch nicht weiter mit meiner Anwesenheit belästigen.“ Lily blickte zu Sev, der ihre Augen mied. „Wir sehen uns dann später, Snape.“
„Lily, warte!“
Lily hielt in ihrer Bewegung inne. Sie war drauf und dran gewesen, sich umzudrehen und mit wehendem Umhang aus der Halle zu laufen, aber Sev hatte sich letztlich doch erhoben.
„Ich komme mit dir. Mit denen will ich mich nicht abgeben, wenn sie dich so behandeln.“ Sev warf Mulciber und Avery einen giftigen Blick zu, der Lilys Herz erwärmte.
„Oh, Sev!“, sagte sie glücklich seufzend, dass ihr bester Freund sie dieses Mal doch verteidigte. Sie erinnerte sich lebhaft an die letzte Situation zurück, in der sie allein gegen die beiden Slytherin-Grobiane stand und Sev nicht zu ihrer Verteidigung gekommen war. Er hatte die beiden schlecht über sie und Mary reden lassen und lediglich zugehört. „Komm schon!“
Mulciber und Avery konnten ihr dümmliches Kichern nicht zurückhalten, aber Lily kümmerte sich nicht darum. Sie griff Sev an der Hand und zog ihn mit sich zum Gryffindor-Tisch. Ohne viel Federlesen drückte sie ihren besten Freund auf die Bank und setzte sich dann neben ihn. „Diese beiden“, murmelte sie säuerlich. „Die reden immer so ein blödes Zeug.“
„Beachte sie einfach nicht“, sagte Severus, der zwar sichtlich unwohl am Tisch der Löwen war, aber trotzdem ein Lächeln für Lily übrig hatte. „Sie wollen dich nur ärgern.“
„Sie machen mehr als das“, entgegnete Lily. „Du hast doch gehört, was sie sagen. Sie denken, Muggelgeborene wie ich sind weniger wert. Außerdem wollten sie das S-Wort gegen mich verwenden.“
Ein seltsamer Ausdruck fiel auf Sevs Gesicht, aber er schüttelte lediglich mit dem Kopf und sagte: „Du solltest einfach nicht auf sie eingehen. Irgendwann lassen sie dich dann in Ruhe.“ Er schnaubte düster. „Zumindest mach ich immer das.“
„Machen sie immer noch Witze über dich?“, fragte Lily mit besorgter Stimme. „Du hast doch erzählt, sie haben aufgehört!“
Sev murmelte: „Ich wollte nicht, dass du dich aufregst.“
Mit verschränkten Armen schnaubte Lily. „Das ist doof“, sagte sie. „Ich will doch nur nicht, dass die beiden dich ärgern.“
„Du musst mich nicht bemuttern“, sagte Sev mit einem zerknirschten Ausdruck. „Ich kann gut auf mich allein aufpassen. Ich habe mir ein paar Zauber ausgedacht…“
„Wirklich?“ Lily richtete sich auf. „Oh, wie aufregend! Hast du mit einem Professor schon darüber gesprochen?“
„Nein!“, rief Sev aus. „Nein“, sagte er etwas leiser. „Ich will nicht, dass sich da jemand einmischt. Keine Sorge, Lily, ich kann das schon gut allein. Ich pass auf mich auf, versprochen“, fügte er hinzu, als Lily bereits den Mund öffnete.
Sie drückte die Lippen zusammen. „Na schön. Aber sei weiterhin vorsichtig, ja?“
„Versprochen.“