Lily Evans
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Als Lily sich umsah, fiel ihr auf, dass die Große Halle nur noch spärlich mit älteren Schülern besetzt war. Der Lehrertisch war fast geleert und all ihre Klassenkameraden waren bereits verschwunden, lediglich die Überreste vom Frühstück zeichneten sich an den Haustischen ab. Es war unschwer zu erkennen, wo Potter und Black gesessen hatten, dachte sie ein wenig angewidert, als sie einen Haufen an Tellern entdeckte, die mit Ketchup und Ölresten vollgeschmiert waren. Wenn ihre Mutter sehen würde, dass sie den Essenstisch so hinterließ, dann würde Lily eine Standpauke erwarten, die sich gewaschen hatte. Manchmal war es kaum zu glauben, dass Potter und Black aus gutem Hause kamen und eigentlich mit Manieren aufgewachsen waren, so kindisch und unsinnig sie sich die meiste Zeit verhielten.
„Ich bringe Pallas in die Eulerei“, sagte Lily, als sie sich wieder ihren Freunden zugewandt hatte. „Mary, kannst du –“
„Sicher“, erwiderte Mary. „Slughorn liebt dich doch eh, der wird dir das verzeihen.“
Sie gab zwar nur ungerne zu, dass das stimmte, aber die Wahrheit verleumden wollte sie auch nicht. „Richtig. Ich werd´ mich beeilen!“
„Ich komm mit dir“, sagte Severus leise, aber bestimmt. „Mir wird er es auch durchgehen lassen“, fügte er auf Lilys protestiert geöffneten Mund hinzu. Er lächelte schmal. „Hier, ich nehm deine Tasche.“
Lily bekam die rasch getauschten Seitenblicke zwischen Dorcas, Emmeline und Marlene sehr wohl mit, entschied sich aber dazu, sie zu ignorieren. Sollten sie doch wispern und kichern, sie wusste, was die Wahrheit war. Außerdem war Severus nur nett zu ihr, das hieß eh nichts. Es war ihr Geburtstag, fügte sie bestimmt in Gedanken hinzu. „Danke, Sev. Dann bis später!“
„Viel Spaß!“, rief Emmeline ihnen hinterher, als Severus und Lily den Gryffindor-Tisch entlang liefen. Kichern und Schnauben hallte zu ihnen, während die Mädchen ihre Sachen ebenfalls einpackten.
Die beiden Zweitklässler huschten aus der Großen Halle und hinaus in den Innenhof, wo ihnen glitzernder, weißer Schnee und eisige Januarluft entgegenwehte. Pallas plusterte sich auf und drückte dann ihren kleinen Körper gegen Lilys Umhang. Lily war sich nicht sicher, ob Eulen wirklich kalt wurde, so waren sie doch eigentlich nachtaktiv und hatten dichtes Gefieder, aber sie warf trotzdem ein Stück von dem weiten Stoff über ihre neue Gefährtin.
Sie hatten den Innenhof gerade hinter sich gelassen und waren in Richtung des Westturms gelaufen, als Severus ein wenig langsamer wurde und schließlich sagte: „Dem Tier ist nicht kalt.“
Lily stockte. „Was?“
Er deutete mit einem Finger auf Pallas, deren plüschiger Kopf unter Lilys Umhang hervorlugte. „Deinem Tier. Dem ist nicht kalt. Eulen sind Kälte gewohnt. Es ist unsinnig, sie zudecken zu wollen.“
Ein wenig geschockt über Severus´ Worte, öffnete Lily den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn ein weiteres Mal und blickte ihren besten Freund an, als hätte er sie gerade als dumm bezeichnet. „Sie ist noch klein“, erwiderte sie und, als hätte Pallas verstanden, was gesagt wurde, spürte, wie ihre Eule sich tiefer in den Stoff grub, die Krallen scharf an ihrem Unterarm. Es tat nicht weh, dachte sie, aber es war ein Gefühl, an welches sie sich gewöhnen musste.
„Na und“, meinte Severus achselzuckend. „Eulen wird nicht kalt, also ist es unsinnig, was du da machst.“
Schnaubend blickte sie an Severus vorbei. „Das ist mir egal. Du musst auch nicht mitkommen, wenn du denkst, es ist so unsinnig, sich für ein kleines Tier zu sorgen.“ Sie streckte eine Hand aus und erwartete das Gewicht ihrer Tasche darauf.
Es blieb aus.
Nach einigen unangenehm stillen Momenten ertönte ein leises Seufzen. „So war es nicht gemeint“, murmelte Sev.
„Was hast du dann gemeint?“, fragte Lily mit scharfer Stimme, den Kopf zu ihm wirbelnd, wobei ihr roter Pferdeschwanz wie eine Peitsche hinterher schwang.
Severus blickte sie an, die Finger im Schulterriemen von Lilys Tasche vergraben. „Nichts“, erwiderte er murmelnd, „vergiss es einfach.“
„Wenn es dir nicht passt, dass ich mich um meine neue Eule kümmere, dann kannst du gerne vorgehen und Slughorn sagen, was ich Unsinniges tue“, sagte Lily. Sie sollte es nicht, aber irgendwie genoss sie es, dass er ihren Blick mied, während sie ihn mit feurigen Augen ansah. „Wieso bist du überhaupt mitgekommen, wenn du denkst, ich bin dumm?“
„Das habe ich nie gesagt“, entgegnete er säuerlich klingend.
Als hätte er das Recht darauf, dachte sie bitter. „Vielleicht nicht, aber du hast es gedacht“, schoss sie zurück. „Und ich weiß nicht, warum du dann überhaupt hier bist. Sag es mir, Sev, ich will es gerne verstehen.“
Er schwieg, während er an ihr vorbei auf den Boden starrte, seine blassen Wangen mit kläglicher Röte gefüllt, seine dünnen Lippen zusammengepresst. Die dunklen Haare fielen ihm fast wie ein Vorhang über die Augen, sodass Lily kaum seine zittrigen Pupillen sehen konnte. „Weil“, fing er mit zerknirschter Stimme an, „ich Zeit mit dir verbringen wollte. Nur dir“, fügte er an, als Lily die Augenbrauen zusammenzog.
„Wir verbringen ständig Zeit miteinander, Sev“, erinnerte sie ihn. Sie hatten doch erst gestern zusammen in der Bibliothek gelernt, oder nicht? Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte.
„Aber nie allein“, murrte er, wobei er noch immer nicht den Mumm hatte, sie auch anzublicken. Sein dunkles Paar Augen war fest auf den Boden hinter ihr gerichtet, als würden dort die Antworten auf all die Fragen stehen, die Lily im Kopf schwirrten.
Tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn. „Ich verstehe nicht, was du meinst“, sagte sie wahrheitsgemäß.
Severus seufzte. „Es ist – ich meine, wir sind nie allein. Immer sind deine – Freundinnen dabei.“ Das Wort Freundinnen sagte er, als wäre es etwas Abstoßendes, etwas, vor dem man sich in der Dunkelheit fürchten musste. „Jedes Mal, wenn ich mit dir lernen will oder wenn ich mit dir beim Mittagessen sitzen will, ist irgendjemand anderes dabei.“
Lily musste sich zusammenreißen, nicht zu lachen. „Das ist dein Problem?“, fragte sie mit ungläubiger Stimme. „Und dir ist nie in den Sinn gekommen, mich einfach mal zu fragen, ob wir nur was zu zweit machen können? Ich dachte, du bist mein bester Freund, der mit mir reden kann, wenn ihm was auf dem Herzen liegt. Gott, Sev“, sie ignorierte, wie er zusammenzuckte, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasste, „irgendwann wirst du akzeptieren müssen, dass ich auch andere Freunde habe außer dich.“
Es gab einen Moment der Stille, in der Severus auf den Boden starrte, Lily Severus anstarrte und Pallas wie ein Ball aus Federn in Lilys Armbeuge saß und nicht wusste, was geschah, bevor der Junge schließlich den Blick hob. Er sah nicht mehr an Lily vorbei, sondern traf direkt ihren Blick. Seine dunklen Augen zitterten kaum merklich, als würde es ihm schwerfallen, seiner besten Freundin in die Augen zu sehen, während diese die Augenbrauen hob. „Aber“, fing er an und Lily rüstete sich bereits dafür, sich verteidigen zu müssen, „müssen es denn Leute wie Meadows und Vance sein? Und Macdonald?“
Lily fasste jede Unze an Selbstbeherrschung auf, die sie hatte und presste die Lippen fest aufeinander, bevor sie einen Schritt nach hinten tätigte, weg von Severus, weg von der Art, wie er die Namen ihrer Freunde sprach, weg von dem Zittern in seinem Blick und seiner Stimme. „Was“, sagte sie, ihre eigene Stimme ruhig, aber fest und kühl, „soll das heißen?“
Severus seufzte, als würde er denken, Lily würde sich absichtlich dumm stellen. „Du weißt schon. Sie sind so … laut. Macdonalds hat keine Ahnung von Magie und Meadows und Vance tun so, als wären sie unfehlbar. Die solltest hören, wie sie manchmal reden, wenn sie allein sind, es ist echt …“
„Was soll das werden?“, fragte Lily mit scharfer Stimme, wodurch Sev ein wenig die Augen aufriss und den Mund schloss. „Soweit ich mich erinnern hat, habe ich ebenfalls keine Ahnung von Magie, immerhin sind sowohl Mary als auch ich Muggelgeboren. Oder hast du das vergessen, Sev?“
„Nein!“, rief er sogleich aus. „Nein, so meinte ich das nicht! Ich meine nicht, dass sie – du weißt schon, so nicht. Es ist eher – “
„Ich glaube“, unterbrach sie ihn, „wir hatten dieses Thema bereits, nicht wahr? Ich finde es nicht gut, wenn du meinen Freundinnen gegenüber abweisend und herablassend bist, ob sie dabei sind oder nicht und noch weniger finde ich es gut, dass du so über Mary redest, wenn du wirklich keine Ahnung von ihr hast.“
Eine blasse Röte kroch über sein gesamtes Gesicht und hinterließ ein paar unangenehm aussehnende Flecken auf seiner Haut. Severus sah aus, als würde er an einem schlimmen Fieber leiden. „Lily, so meine ich das doch überhaupt nicht!“
„Nein, wie meinst du es denn? Du sagst, Mary hätte keine Ahnung von Magie, aber Mary ist genauso weit wie ich, was Magie angeht. Also, was willst du aussagen, Sev? Was willst du sagen?“ Sie musste sich zurückhalten, um nicht laut zu werden oder einen der vielen Zauber zu verwenden, die sie bisher gelernt hatte. Sie konnte nicht glauben, was sie dort hörte, noch konnte sie glauben, dass er sowas in ihrer Gegenwart sagen würde. Es war ihr Geburtstag, um Gottes Willen, und trotzdem hatte Severus nichts Besseres im Kopf, als ihre Freundinnen zu kritisieren. Lily wütete in ihren eigenen Gedanken. „Wenn du so reden willst, dann möchte ich, dass du jetzt gehst.“
Erneut streckte sie die Hand aus.
Severus starrte sie an.
Sie wartete, die Gedanken in Flammen gesetzt und ein wütendes Glühen in ihren Augen, während ihr bester Freund vor ihr stand, als würde er nicht verstehen, wieso sie reagierte, wie sie es tat. Manchmal konnte sie nicht glauben, dass er sowas sagen würde.
„So meinte ich es nicht“, murmelte er erneut.
„Dann erklär mir, was du gemeint hast“, verlangte Lily, „oder lass mich für heute in Ruhe.“
„Ich“, fing er an, stockte, schloss den Mund. Einmal mehr öffnete er die Lippen, versuchte zu reden, versagte aber und blieb ruhig. Es verging eine mehr als unangenehme Minute. Schließlich sagte Severus: „Es war nicht als Angriff gemeint. Ich – es irritiert mich manchmal nur, wie sehr Macdo-“, er räusperte sich vernehmlich, „ich meine Mary zurückliegt. Du hast Recht, sie hat mit dir angefangen, aber du wesentlich weiter als sie.“
Lily reckte das Kinn in die Höhe. „Warum bietest du Mary dann nicht an ihr Nachhilfe zu geben, wenn es dich so stört?“, fragte sie kühl. „Nicht jeder kann ein Zaubertränkegenie sein, weißt du.“
Ein Schnauben entkam ihm. „Das habe ich nie behauptet, Lily.“
„Du tust aber so.“
„Tu ich nicht. Ich sage dir nur, dass du auf einem anderen Level bist als die Leute, mit denen du abhängst.“
„Das bist du ebenso.“
Severus blickte sie erstaunt an. „Was soll das denn heißen?“
„Ach?“, fragte sie und konnte die Höhne nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Willst du mir etwa sagen, du bist auf dem gleichen Level wie Avery, Mulciber oder die anderen Slytherins, mit denen du befreundet bist? Wir wissen beide, dass du dich nicht auf deren Level hinablassen musst und trotzdem tust du es.“
Ein wenig der fleckigen Röte verdunkelte sich. „Du weißt nicht, wovon du redest, Lily.“
„Dann weißt du auch nicht, wovon du redest, wenn du meine Freunde kritisierst und beleidigst, also würde ich es in Zukunft vorziehen, wenn du das nicht mehr tun würdest.“ Sie funkelte ihren besten Freund an, wartete und wartete auf eine Reaktion und als keine kam, seufzte sie. „Wars das dann? Können wir weiter? Ich wollte zumindest noch einen Teil des Unterrichts mitbekommen.“
Severus bewegte sich im ersten Moment nicht, als Lily an ihm vorbeiging und sie war drauf und dran, ihre Tasche aus seinem Griff zu ziehen und ohne ihn zur Eulerei zu gehen, als er endlich die Füße bewegte und Lily langsam, aber sicher folgte. „Ich will nicht mit dir streiten“, sagte er, zwei Schritte hinter ihr.
„Ich auch nicht, aber manchmal machst du es mir sehr schwer.“
„Tut mir leid“, murrte er. „Ich – deine Eule ist wirklich süß.“
Lily biss sich auf die Innenseite der Wange. „Ist sie.“
„Ich wollte deine Freunde nicht beleidigen.“
„Danke“, sagte sie.
„Vielleicht können wir trotzdem was allein machen“, fügte er an.
„Vielleicht“, gab sie zurück.
Der Rest des Weges war mit Stille und Schweigen gepflastert, ruhige Zwillinge, die sie bis zur Eulerei führten, einem großen Turm im Westen des Schlosses. Hunderte Fenster ohne Scheiben waren in den Stein gehauen, sodass es zugig und kühl war. Der Boden war mit Körnern, kleinen Knochen und Dreck beschmutzt, und aus in den Turm gefressenen Kuhlen konnte man gelbliche Augen entdecken, die die beiden Zweitklässler beobachteten. Dutzende Eulen saßen auf den Fensterbänken, hatten sich tief in die Schatten des Turms gepresst oder verschlangen Nagetiere beim lebendigen Leib, Eulen, die alle wesentlich größer als Pallas waren.
Lily fühlte sich im ersten Moment nicht sehr wohl damit, ihre neue Eule hier allein zu lassen, doch Pallas schien andere Pläne zu haben. Kaum hatten sie eine der steinernen Treppen erklommen und eine höhere Etage des Turms erreicht, hüpfte der kleine Vogel aus ihrem Umhang, flog zu einem mit klammem Stroh ausgelegtem Nest und klackerte mit dem Schnabel, als sie sich niederließ. „Gefällt es dir hier?“, fragte Lily leise, sich der Blicke der anderen Eulen sehr wohl bewusst. Sie hatte das Gefühl, als würden die anderen Vögel sie misstrauisch betrachten.
Pallas klackte erneut mit dem Schnabel und als Lily vorsichtig eine Hand ausstreckte, reckte sie ihren Kopf dagegen, um sich streicheln zu lassen, bevor der Vogel sich tiefer in ihr neues Nest zurückzog. Im Schatten sah sie noch kleiner aus.
„Na schön“, murmelte Lily. „Ich komme so schnell wie möglich vorbei, versprochen, und dann bekommst du ein paar von diesen Eulenkeksen, die jeder immer hat, ja? Und wenn es dir hier doch nicht gefallen sollte, dann musst du bei mir im Schlafsaal wohnen, verstanden? Mary und Marlene haben bestimmt nichts dagegen und ich würde mich dann auch ein bisschen besser fühlen, wenn ich wüsste, du wärst die ganze Zeit bei mir.“
Die Eule gab zwar keinen Laut von sich, schloss aber die Augen, sodass sie fast gänzlich mit den Schatten verschmolz.
Lily seufzte. Sie wusste, Severus starrte sie an, aber sie wollte sich nicht umdrehen. Stattdessen sah sie ihrer neuen Gefährtin dabei zu, wie sie in ihrer Höhle einschlief, kleine braune Federn, die sich immer wieder aufplusterten, wenn Pallas atmete und der Glanz ihres Schnabels, der das wenige Licht der Eulerei wie ein eierschalenfarbener Spiegel auffing. Es hatte etwas hypnotisierendes, fand Lily. Es war einfach, die Zeit zu vergessen und einfach nur in dem zugigen Turm zu stehen und so zu tun, als wäre nichts falsch mit Severus und ihr, als wäre er nicht eifersüchtig auf jede andere Freundschaft und als würde Lily sich nicht vor einigen vor seinen Freunden fürchten, wenn sie ihr giftige Blicke in den Korridoren zuwarfen.
Lily wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, deswegen tat sie das, was ihr am besten erschien: Sie ignorierte, dass etwas vorgefallen war.
„Okay“, sagte sie mit etwas hektischer Stimme und drehte sich zu Severus um. „Lass uns zurückgehen, bevor ich es mir anders überlege und Pallas in meiner Tasche verstecke.“
Severus blickte sie einen Augenblick an, als wäre sie vor seinen Augen zum Geist geworden, dann zuckte sein Mundwinkel. „Slughorn würde es bestimmt durchgehen lassen.“ Er schulterte ihre Tasche und schenkte ihr ein Lächeln.
Lilys Magen vollführte einen Purzelbaum. Vergessen war der Streit und stattdessen konnte sie es kaum erwarten, Severus´ Geschenk in der Zaubertrankstunde auszuprobieren. Sie hoffe, dass sie beide einfach vergessen würden, was passiert war, nicht mehr darüber nachdachten und nie wieder darüber reden mussten.