Lily Evans
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Lily konnte sich die nächsten Tage nicht damit abfinden, dass Remus in der Bibliothek saß und ganz normal an seinen Hausaufgaben und Aufsätzen arbeitete, als wäre nichts geschehen. Wie konnte er es wagen, in ihrer Bibliothek zu sitzen, wenn er noch Tage zuvor Severus gemeinsam mit seinen Freunden vor der halben Schule blamiert hatte? Lily sollte ihm hier und jetzt die Beine zusammenhexen und dann in die Große Halle rollen, damit alle über ihn lachen könnten, aber sie konnte es nicht über sich bringen. Remus war noch immer sowas wie ein Freund für sie. Außerdem sah er wirklich kränklich aus… eine unnatürliche Blässe zog sich erneut über sein Gesicht, sodass Lily die bläulichen Adern erkennen konnte, die unter seiner Haut lagen.
Lily hatte natürlich mitbekommen, dass ihr Klassenkamerad und (fast ehemaliger) Lernkumpane sehr oft krank war. Mal lag er mit einem Fieber für ein paar Tage auf der Krankenstation, dann wieder hatte er so schlimme Grippe, dass Madam Pomfrey niemanden in den Krankenflügel und seine Nähe lassen würde. Lilys Versuche, dem kranken Gryffindor ein paar Schokofrösche und die Hausaufgaben zur Aufmunterung zu bringen, wurden jedes Mal resolut von der Heilerin abgewehrt. Es waren jedes Mal dieselben, vagen Entschuldigungen gewesen. „Mr. Lupin ist nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen, Miss Evans“, oder auch: „Wenn Sie nicht sofort verschwinden und darauf bestehen, die Ruhe meiner Patienten zu stören, dann werde ich Ihrer Hauslehrerin Bescheid geben, Miss Evans, wahre mir Merlin!“
Es war nur allzu verständlich gewesen, dass Lily nicht die einzige gewesen war, die versucht hatte, Remus im Krankenflügel zu besuchen. Lily hatte seine schrecklichen, lauten Freunde in Verdacht, die ihr die ganze Tour mal wieder vermasselt hatten. Wahrscheinlich hatten James Potter und Sirius Black die arme Heilerin so lange genervt und getriezt, bis dieser die Geduld ausgegangen war und nur deswegen hatte sie auch Lily so sehr angefahren. Eine andere Erklärung wollte Lily nicht einfallen, die nicht viel zu unsinnig war, um sie zu glauben – von Drachenpocken bis hin zur unheilbaren Schüttelkrankheit, über die Lily viel gelesen hatte. Lily musste sich einfach eingestehen, dass Remus ein zu geheimniswahrender Mensch war, um herauszufinden, was ihn wirklich plagte.
Nicht, dass es sie im Moment sonderlich interessierte. Sie würde kein Wort an den anderen Gryffindor verschwenden, selbst wenn er so aussah, als würde ihn allein das Lesen seines Buches viel zu viel Kraft fordern. Sie beendete ihre eigenen Aufgaben an einem anderen Tisch, abseits von Remus und verließ dann allein die Bibliothek. So zu lernen machte ihr zwar weniger Spaß, als wenn sie es mit ihren Freunden zusammenmachen konnte, aber es musste so sein. Sie würde nicht zulassen, dass sie Remus für sein schlechtes Verhalten belohnen würde. Niemals!
Ein eiskalter Oktoberwind zog durch die Hallen Hogwarts‘. Der Herbst hatte sich das Land in wenigen Tagen angeeignet und bereits jetzt verloren die Bäume auf den Ländereien ihr Blätterkleid und Regentropfen fielen wie kleine Pistolenkugeln vom Himmel. Ein grauer Schleier lag über dem See und Lily war froh um den dicken Winterumhang, den sie an diesem Morgen angezogen hatte. Trotz der überall brennenden Fackeln war es eisig im Schloss. Überall quetschte sich der Wind durch undichte Fenster oder Risse in der Fassade und ließ die Haare an ihrem Nacken aufstehen. Sie beneidete die Slytherins überhaupt nicht – bei so einer Kälte würde sie nicht gerne in einen Gemeinschaftsraum unter dem See zurückkehren. Sev hatte ihr alles darüber erzählt und auch die unangenehmen Temperaturen nicht ausgelassen, gegen die nicht einmal die lodernden Kaminfeuer etwas ausrichten konnten.
Lily war gerade erst die Hälfte der Treppen zum Gryffindorturm hinaufgestiegen, da kamen ihr vier sehr bekannte Schülerinnen entgegen. Marys Gesicht hellte sich sofort auf, als sie Lily entdeckte und auch Marlene grinste sie breit an. Emmeline Vance und Dorcas Meadows hingegen waren nicht übermäßig erfreut, Lily zu sehen. Dafür kannten sie sich nicht gut genug, vermutete Lily, die zuließ, dass Mary sie kurz umarmte.
„Willst du nicht mitkommen, Lily? Wir wollten uns einen warmen Tee holen und dann ein paar Runden Schach in der Großen Halle spielen.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie auf das Brett, dass Emmeline sich unter den Arm geklemmt hatte.
„Oh, ich bin nicht sonderlich gut im Schach“, meinte Lily schnell. „Ich will euch auch gar nicht stören –“
„Quatsch“, sagte Dorcas. „Du störst doch nicht.“ Sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Je mehr, desto besser, nicht wahr?“
„Genau“, fügte Marlene aufgeregt an. „Außerdem bin ich ebenso grausig im Schach. Aber Dorcas und Emmeline müssen üben – weißt du, die beiden sind dem Schachclub beigetreten!“
Emmeline machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das hört sich aufregender an als es ist. Es gab nicht einmal ein Probespiel. Der Club hat so wenig Mitglieder, man hat uns praktisch auf erhobenen Händen eingeladen.“
„Bin mir sicher, sie hätten uns Geld geboten, hätten wir ein wenig auf stur gestellt“, murmelte Dorcas und Emmeline lachte.
„Ach – na gut, aber nur, wenn ich nicht störe“, sagte Lily, ehe sie sich den anderen Schülerinnen anschloss. In Schach mochte Lily zwar eine Niete sein, aber dafür konnte sie wirklich eine heiße Tasse köstlichen Früchtetee vertragen. Ihre klammen Finger würden es ihr sowieso danken.
Trotz der unpassenden Zeit – das Mittagessen war bereits vorbei und bis zum Abendessen dauerte es noch ein paar Stunden – waren die vier Haustische in der Großen Halle ordentlich gefüllt. Schalen voller Obst, Krüge voll mit Wasser, Säften und sprudelnden Brausen sowie Tabletts mit kleinen Küchlein bedeckten die Tische und überall standen die sehnsüchtig erwarteten dampfenden Tee- und Kaffeekannen. Um das bittere Starkgetränk machten die Mädchen vorerst einen großen Bogen und widmeten sich lediglich den köstlich duftenden Teekannen. Während Emmeline das Schachbrett aufstellte, gossen Lily und Mary allen eine Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit ein. Marlene und Dorcas hatten ein besonders großes Tablett mit Naschereien zu ihrem ausgesuchten Platz geschoben und prompt ließ sich die kleine Gruppe am hergerichteten Festmahl nieder.
Emmeline und Dorcas stürzten sich sofort in ihre Partie. Marlene und Lily waren zufrieden damit, den sich konzentrierenden Mädchen einfach nur zuzugucken, während Mary ihre beste Impression eines Quidditch-Kommentators von sich gab und jeden Zug der beiden Kontrahenten kommentierte, als würden sie gerade um den Titel der Weltmeisterschaft kämpfen.
„Wieso bist du überhaupt nicht in der Bibliothek?“, fragte Marlene. „Sonst kommst du doch auch vor dem Abendessen nicht mehr raus.“
„Ich war schon fertig“, erwiderte Lily, ehe sie einen seichten Schluck Tee nahm, der ihr sofort eine wohlige Wärme in den Körper sandte.
Marlene zog eine Augenbraue nach oben. „Aber das hält dich normalerweise nicht davon ab, Madam Pince mit deiner Anwesenheit zu beehren.“
Etwas zerknirscht antwortete Lily: „Ich wollte nicht allein weiterlernen und Sev war bereits mit seinen Freunden verabredet.“
„Bitte“, meinte Marlene. „Du kannst mich nicht mit so einer schlechten Lüge abspeisen, klar? Wir wissen beide, dass Snape keine andere Freunde außer dich hat.“
Lily überging den fiesen Kommentar auf ihren besten Freund und verschränkte die Arme. „Schön, ich wollte einfach nicht mehr allein sein.“
„Was ist mit Remus? War er nicht da?“
„Doch.“
„Wieso hast du dann nicht –“
„Weil ich immer noch sauer auf ihn bin.“
„Oh? Was hören meine tratschliebenden Ohren denn da?“, sagte Dorcas, die plötzlich aufgeblickt hatte. „Streit im Gryffindor-Paradies? Was ist los?“
„Ach“, meinte Marlene mit einer wegwerfenden Handbewegung, „Lily denkt, sie würde Remus genug damit bestrafen, wenn sie nicht mit ihm redet.“
„Für den Streich, den er und seine Kumpels Snape gespielt hatten?“, fragte Dorcas. „Witzig wie die Vorstellung auch ist, aber ich glaube auch, damit sind sie echt zu weit gegangen. Ich hab gehört, der Arme musste seine gesamten Klamotten wegschmeißen, stimmt das?“
Lily nickte grimmig. „Ja, weil Potter und Black nicht wissen, wann man aufhört. Und ich weiß einfach, dass sie das waren, auch wenn McGonagall mir nicht glauben will.“
„Sobald Potter und Black etwas aushecken, stecken Remus und Peter sowieso mit drin“, fügte Mary an.
„Aber keiner von ihnen will es zugeben“, fuhr Lily fort. „Und ich werde sicherlich nicht weiterhin mit Remus befreundet sein – oder zumindest weiterhin nett zu ihm sein, wenn er und seine Freunde nicht zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Und was hält dich davon ab?“, fragte Emmeline, die endlich auch vom Brett aufblickte. Sie hatte beide Augenbrauen angewinkelt und tiefe Falten belegten ihre Stirn.
„Wie bitte?“
„Naja, warum wartest du denn darauf, dass jemand anderes etwas dagegen unternimmt? Mach es doch selbst.“
„Ich – oh.“
„Sag mir nicht, daran hast du noch nicht gedacht“, meinte Dorcas lachend. „Also echt.“
Hitze wallte in Lilys Wangen. „Ich – also ich wollte mich nicht auf ihr Level begeben!“
„Was spricht dagegen, wenn es für eine gute, altmodische Racheaktion ist?“, fragte Mary.
„Genau!“, rief Marlene begeistert. „Du zahlst es den vier Jungs gleichermaßen heim, dass sie deinen Freund blamiert haben und dass Potter so gemein zu mir war. Ich bin auf jeden Fall dabei.“
„Was hat er denn gemacht?“, fragte Dorcas interessiert.
„Später“, murmelte Marlene in ihre Richtung, ehe sie sich wieder an Lily wandte. „Was ist? Bist du dabei?“
Lily biss sich auf die Lippe. „Ich weiß nicht“, sagte sie langsam.
„Du musst es nicht machen“, meinte Emmeline achselzuckend. „Aber dann hast du, finde ich, auch kein Recht darauf, dich darüber zu beschweren, dass niemand ihnen die Leviten liest. Entweder du wirst selbst aktiv oder du lässt es bleiben. Deine Entscheidung.“
Sie hatte Recht, das wusste Lily. Mit ihrem ewigen Warten und Hoffen, dass jemand anderes das tun würde, was eigentlich schon lange hätte getan werden müssen, würde sie nur ihre Zeit verschwinden. Wenn sie wollte, dass es jemand Potter, Black und ihren Freunden heimzahlte, dann müsste sie es selbst in die Hand nehmen. „Würdet ihr mir helfen, Potter und seiner Bande einen Streich als Rache zu spielen?“, fragte sie mit einem entschlossenen Blick.
Marlene seufzte lautstark, ehe sie einen Arm um Lilys Schulter warf. „Ich dachte schon, du fragst nie!“