Lily Evans
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„Er hat wirklich gar nicht reagiert?“, fragte Mary erstaunt.
„Naja, einmal ist er ganz blass geworden, aber nur weil James erwähnt wurde“, erklärte Lily geduldig zum wiederholten Male. „Ich weiß nicht, ob ihn das wirklich getroffen hat, wenn ich ehrlich bin.“
„Er redet nicht sehr viel von seiner Familie“, meine Marlene. Sie tippte sich nachdenklich mit der Federspitze ans Kinn und verteilte kleine Tintenflecken auf ihrer Haut. „Und wenn man den Gerüchten vertrauen kann…“
„Was für Gerüchte?“, fragten Lily und Mary gleichzeitig, woraufhin sie ein ärgerliches Zischen von Madam Pince ernteten. Die Bibliothekarin beobachtete die drei Erstklässlerinnen mit zusammengekniffenen Augen, als hätte sie Angst, sie würden ihre hochwertigen, seltenen Bücher beschmutzen, in dessen Nähe sie sich nicht einmal befanden.
Marlene beugte sich leicht über den Tisch. „Alle sagen, dass Sirius ein richtiger Rebell ist und er seinen Eltern wohl immer auf der Nase tanzt. Eigentlich hätte er als Reinbluterbe wichtige Verantwortungen und müsste ein gutes Bild abgeben, damit nichts auf den guten Namen seines Hauses zurückfallen könnte, aber wenn ich mir so angucke, wie er sich hier in der Schule benimmt und in welches Haus er gekommen ist… Ich glaube, da ist was dran, dass er nicht gerade glücklich in seiner Rolle ist.“
„Das wusste ich ja gar nicht“, sagte Mary. „Und ich hab ihn die ganze Zeit nur für einen nervigen Idioten gehalten, der nicht weiß, wann er die Klappe halten soll.“
Lily kaute auf ihrer Unterlippe. „Aber was passiert denn, wenn er nicht den Wünschen seiner Eltern entspricht? Alle schienen ja sehr darüber aufgewühlt zu sein, dass Sirius nicht nach Slytherin gekommen ist.“
„Seine ganze Familie war in Slytherin“, wiederholte Marlene lediglich die Worte von Walburga Black. „Ich glaube, für die Blacks ist es fast schon ein Staatsverbrechen, wenn du nicht nach ihren Regeln und Traditionen spielst. Habt ihr denn nicht gehört, was sie mit Sirius‘ Cousine Andromeda gemacht haben?“
„Nein, was?“, fragte Mary neugierig und vergaß dabei ganz, dass sie eigentlich keinerlei Ahnung von Reinblutfamilien hatte und einen Aufsatz über Koboldkriege beenden müsste.
„Ich hab von einem Siebtklässler gehört, dass Andromeda einen Muggelgeborenen gedatet hat. Ihrer Familie hat das überhaupt nicht gefallen und deswegen haben sie ihr damit gedroht, sie zu enterben und aus dem Stammbaum zu streichen! Soweit ich weiß, hat sie dann mit ihrem Freund deswegen Schluss gemacht.“
Lily schlug die Hand vor den Mund. „Das ist ja schrecklich“, flüsterte sie. „Aber warum machen die denn sowas?“
„Besessenheit“, sagte Marlene schulterzuckend. „Die Blacks und viele andere Familie sind absolut besessen damit, dass sie ihr Blut so rein halten, wie es geht. Deswegen heiraten sich auch bei denen untereinander Cousins und Cousinen. Irgendwie sind aus dem Grund glaube ich alle Reinblutfamilien miteinander verwandt. Sirius ist wahrscheinlich mein Cousin neunzehnten Grades oder sowas.“
„Unglaublich“, erwiderte Mary. „Echt unglaublich. Ich wusste ja, Zauberer sind alle ein bisschen bescheuert, aber dass die echt so durch sind?“ Kopfschüttelnd strich sie ihr Pergament wieder glatt. „Kein Wunder, dass Sirius so drauf ist, wenn er aus so einer Familie kommt.“
Marlene nickte, bevor sie ebenfalls wieder zu ihrem Aufsatz blickte. Für die beiden war das Thema damit beendet und in stiller Übereinkunft führten sie ihre Hausaufgaben weiter fort, Daten und Namen von Kobolden durcheinanderbringend und Geschehnisse vertauschend.
Lily allerdings konnte ihre Gedanken nicht mehr davon abbringen. Ständig hallten ihr die Worte von Walburga Black im Kopf herum, wie enttäuscht und teilweise angeekelt sie geklungen hatte, als sie Sirius adressiert hatte. Es war für Lily unverständlich, wie eine Mutter ihr Kind so verachten könnte – ihre eigene Mutter war das genaue Gegenteil von Walburga. Liebevoll, fürsorglich, glücklich und vor allem immer stolz auf ihre Kinder, sei es, dass Lily eine Hexe war, oder dass ihre Schwester Petunia eine Goldmedaille im Gedichtswettbewerb gewonnen hatte. Für Lilys Mutter gab es kein besser oder schlechter, es gab nur ein Kind, dass sein Bestes versucht hatte und eine Mutter, die stolz darauf war, egal wie das Ergebnis ausgefallen war.
Bisher hatte sie Sirius Black für einen ziemlich arroganten und idiotischen reichen Schnösel gehalten, aber wenn er aus einer Familie kam, die ihn nicht für das würdigte, was er war – nun, dann konnte Lily verstehen, wieso Sirius alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen musste, wenn er einen Raum betrat, wieso er Dungbomben und Fangzähnige Frisbees im Unterricht warf oder wieso er kleine Verwünschungen auf ein unschuldiges Opfer im Korridor schleuderte. Wahrscheinlich war es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, die komplette Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu ziehen, auch wenn sie ihn dafür bestrafen mussten. Lily konnte sich nicht vorstellen, wie sein Elternhaus sein musste. Sie hatte immer an ein großes Anwesen gedacht, vielleicht eine riesige Villa mit einem eigenen Pool und allem, was reiche Menschen noch so brauchten, aber jetzt… jetzt kam ihr lediglich ein verfallenes, düsteres Haus in den Sinn, ohne jegliche Liebe zwischen den Wänden. Eine laute Persönlichkeit wie Sirius Black war wie eine tickende Zeitbombe in solch einem Haus.
Auf einmal war sie sogar froh, dass er und James Potter immer zusammen lachten und Unsinn anstellten. Sie war froh, dass Sirius nicht allein war und dass er an Hogwarts jemanden hatte, der ihn unterstützen konnte. Und nicht einmal Lily – die Sirius und James für die nervigsten Volltrottel der Schule hielt – konnte verneinen, dass James Potter ein guter Freund war, so gerne sie es auch würde.
Nach einer Stunde stiller Arbeit waren Mary und Marlene fertig mit ihren Aufsätzen, aber Lily hatte kaum die Hälfte geschafft. Mary bot ihr zwar an, dass sie den Rest einfach bei ihr abschreiben könnte, aber Lily lehnte ab. Einerseits wollte sie ihre Hausaufgaben alle selbst schaffen, andererseits wusste sie, dass Mary nicht sehr viel Enthusiasmus in ihre Geschichte der Zauberei Aufgaben steckten. Natürlich war Professor Binns Unterricht wirklich langweilig und immer öfter erwischte Lily sich dabei, wie sie döste oder auf ihrem Blatt herumkritztelte, aber eher könnte man sie von der Schule werfen, als dass Lily ihre Aufgaben nicht ernst nehmen würde. Also hatte sie Mary und Marlene bereits vorgeschickt und – unter den wachsamen Augen Madam Pinces – ihren Aufsatz allein fertig gestellt. Sie hatte noch eine extra Stunde in der Bibliothek verbracht und in einem Buch über die alten Reinblutfamilien gelesen, bis die Bibliothekarin sie schließlich an die Sperrstunde erinnert und Lily aus der Bibliothek geworfen hatte. Nicht einmal das Buch durfte sie sich ausleihen, obwohl sie gerade mitten in der Ahnengeschichte der Blacks gesteckt hatte.
Es war bereits dunkel, als sie den Weg zum Gemeinschaftsraum antrat. Die meisten Fackeln in den Korridoren waren erloschen und ein kühler Wind zog durch die Flure, der sie leicht frösteln ließ. Ein Raunen und Flüstern ging durch die meisten Portraits, als Lily sie passierte, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und schreckte nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn einer der Bewohner des Bildes mit ihr sprach. Die wenigsten Portrait allerdings beachteten die Schüler des Schlosses und selbst wenn man mit ihnen reden wollte, war die Chance gering, dass sie auch antworteten. Die Fette Dame war immerhin erfreut Lily zu sehen. „Kurz vor knapp“, sang sie, als Lily ihr das Passwort nannte. „Dann mal rein mit dir, Liebes.“
Auf den ersten Moment war der Gemeinschaftsraum bereits ausgestorben – ein sanftes Flackern ging vom Kamin aus, der auf die letzten Holzreste niedergebrannt war und vor den Fenstern tobte der Regen durch den Himmel, die knuddeligen Sessel lagen alle verlassen und vergessene Tintenfässer, Aufsätze und Federkiele bedeckten die Tische, die rund im Raum verteilt standen. Lily war schon halb durch den gesamten Raum, als sie schließlich doch noch jemanden bemerkte.
In einen Sessel eingerollt, das Gesicht zum Feuer gerichtet, hatte es sich Sirius Black gemütlich gemacht. Er blickte nicht auf, als Lily überrascht vor ihm stehen blieb, starrte stattdessen weiter in die orangeroten Flammen, als erhoffte er sich eine Antwort auf eine stumme Frage in ihnen zu finden.
Lily glaubet erst, dass der Feuerschein ihr einen Streich spielte, aber bei genauer Betrachtung war sie sich sicher, dass Sirius‘ Gesicht rot und verquollen war, als hätte er lange Zeit geweint. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als er lauthals schniefte und sich über die blutunterlaufenen Augen wischte. „Sirius?“
Der Angesprochene schreckte zusammen und wäre beinahe aus dem Sessel gefallen. „Verdammt, Evans“, murmelte er, bevor er den Kopf abwandte. „Was musst du dich so anschleichen?“
„Alles okay?“, überging sie seine Frage. „Du bist – ich meine, ist es wegen dem Brief deiner Mutter?“
Sirius riss das Gesicht zu ihr, ein abgehetzter Glanz in seinen roten Augen. „Du – du hast keine Ahnung, wovon du redest, Evans“, zischte er.
„Du hast geweint“, stellte sie fest.
„Ich –“, Sirius stockte. Er schniefte und wischte sich wieder über die Augen. „Keine Ahnung, was du meinst. Ich hab Allergien. Meine dumme Mutter hat damit nichts zu tun. Nicht, dass ich überhaupt daran denken würde, was sie tut oder sagt. Soll sie doch an Dumbledore schreiben und sich beschweren, mir vollkommen egal. Diese ganze Familie kann mich mal.“ Als hätte er für einen Augenblick vergessen, dass Lily noch immer dort stand, riss er die Augen auf. „Evans, geh lieber schlafen. Es ist spät.“
Lily überlegte, ob sie nicht einfach wirklich gehen sollte, entschied sich aber dann dazu, sich auf den Sessel ihm gegenüber hinzusetzen. „Du kannst gerne mit mir darüber reden, Sirius. Über deine Familie, meine ich. Ich hab ein bisschen über euch gelesen und –“ Aber sie hatte das Falsche gesagt.
Sirius sprang auf, wobei er den Sessel ein paar Schritt nach hinten stieß. „Du sollst dich nicht einmischen, Evans“´, rief er laut. „Du hast keine Ahnung davon, du bist nur – du bist nicht – du hast keine Ahnung!“ Er ließ Lily keine Chance mehr und stürmte mit stampfenden Schritten davon.
„Sirius!“, konnte sie ihm gerade einmal hinterherrufen, aber da war die Tür zum Schlafsaal der Jungen auch schon wieder zugefallen und Lily blieb allein im Gemeinschaftsraum zurück. Sie seufzte und warf einen Blick auf das knisternde Feuer. „Idiot“, murmelte sie leise, bevor sie ebenfalls in ihren Schlafsaal einkehrte.