Lily Evans
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Nicht jeder war sonderlich erfreut über Lilys Rückkehr nach Hause. Ethan Evans, Lilys Vater, hatte ihr Leibgericht gemacht und April Evans, Lilys Mutter, wollte jedes kleine Detail über ihren Hogwarts-Aufenthalt hören, das es zu erzählen gab, von den Unterrichtsfächern, zu Hausaufgaben und was sie mit ihren Freunden angestellt hatte, bishin zu Fragen nach Marys und Marlenes Wohlbefinden. Lily schätzte das Interesse ihrer Eltern sehr wert. Es war nicht selbstverständlich, dass sie so geliebt und gepflegt wurde, wenn sie an die schreckliche Situation in Severus' Haus dachte. Umso dankbarer war sie auch für ihre Familie, selbst für ihre Schwester, die nicht ein einziges, nettes Wort für sie übrig hatte, seit sie angekommen war.
Petunia hatte, kaum dass Lily mit ihrer Tasche über die Schwelle des Evans-Haushaltes getreten war, ihrer Schwester einen gehässigen Blick zugeworfen und war in ihr Zimmer gelaufen. Zum Abendessen hatte sie sich zwar wieder blicken lassen, aber es redlichst vermieden, in Lilys Richtung zu blicken. Um an das Salz zu kommen, das bei Lily stand, war sie extra aufgestanden und war um den gesamten Tisch gegangen, damit sie auf keinen Fall mit ihrer Schwester reden musste.
Tage später hatte sich daran nicht viel geändert, allerdings hatte sich Petunia dazu erweichen lassen, zumindest sporadisch mit ihrer Schwester zu reden. Sie hatten sogar ein für ihre Verhältnisse ausführliches Gespräch über die am Nachmittag laufende Gerichtsshow gehabt, die Petunia immer schaute. Zwei Tage vor Neujahr hatte sie sogar gelächelt, als Lily zum Frühstück kam.
„Guten Morgen, Tuni“, sagte Lily in einer vorsichtig-fröhlichen Art.
„Morgen“, erwiderte Petunia. „Reich mir bitte eine Tasse, ja?“
Lily tat, wie sie drum gebeten wurde und setzte sich danach auf ihren üblichen Platz.
„Ich wünschte, es würde mal wieder schneien“, sagte April Evans, die ihre Finger um eine Tasse mit brühfrischem Tee geschlungen hatte. „Dann könnten wir alle zusammen zur Eishalle und Schlittschuhfahren.“
„Hier hat es doch ewig nicht geschneit“, meinte Petunia, die sich Orangensaft eingoss. „Es regnet doch eh nur.“
„Auf Hogwarts liegt immer Schnee im Winter“, sagte Lily, bevor sie sich dran hindern konnte. „Bevor wir gefahren sind, bin ich mit Mary und den anderen Mädchen auf dem Schwarzen See Schlittschuh gelaufen.“ Augenblicke später biss sie sich auf die Zunge.
„Das muss herrlich gewesen sein“, seufzte April. „Ich wünschte, ich könnte es auch mal sehen. Das Schloss, meine ich.“
Petunia blickte vehement nicht in Lilys Richtung und hielt ihr Buttermesser mit solch einer Kraft umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen.
„Kannst du nicht ein Foto davon machen, Lily?“, redete April weiter. „Du könntest es mit einer dieser Eulen senden, ja? Oder gibt es vielleicht Postkarten oder Souvenire? Bestimmt gibt es in dieser Winkelgasse einen Souvenirladen, meinst du nicht auch? Dann ist es fast so, als wären - „
Ein lautes Klirren unterbrach sie. Petunia hatte ihr frisch gefülltes Glas umgeworfen, sodass es auf den weißen Fliesen zerbrochen war. Mit zusammengekniffenen Augen stierte sie Lily an, als wäre auch das irgendwie ihre Schuld gewesen. „Lily dies, Lily das, Hogwash dies, Hogwurt das, meine Güte. Ich bin auch noch da, aber mich hat niemand nach meiner Schule gefragt!“
April, die bereits aufgesprungen und Küchenpapier geholt hatte, erstarrte mitten in der Bewegung. „Petunia“, sagte sie tadelnd. „Du warst das ganze Jahr zuhause und hattest genug Zeit, uns von deiner Schule und deinen Freunden zu erzählen! Wir sehen deine Schwester nur noch selten und wollen deswegen alles wissen, was sie zu erzählen hat.“
„Ja, nun“, Petunia verschränkte die Arme hart vor der Brust und blickte ihre Mutter mit herausfordernd zusammengezogenen Augenbrauen an, „manche von uns wollen aber ihr Weihnachten nicht mit Details über irgendwelche Freaks auf der Freak-Schule ruiniert haben.“
„Petunia!“
„Es ist doch wahr!“, kreischte die ältere Schwester. „Immer, wenn Lily hier ist, dann redet ihr nur über ihre dämliche Freak-Schule und ich bin vollkommen egal! Weiß sie überhaupt, dass ich das ganze Schuljahr über die besten Aufsätze der ganzen Klasse geschrieben hab? Weiß sie, dass ich zur Klassensprecherin gewählt worden bin?! Natürlich nicht, denn keinen hier interessiert was ich kann, wenn die ach so tolle Lily hier ist!“
Es wurde still in der Küche, nur unterbrochen vom stetigen Ticken der Uhr an der Wand und dem mechanischen Surren des Kühlschranks. April starrte ihre Tochter an, die wütend und schwer atmend zurückstarrte. Die Küchentücher lagen vergessen auf dem Tisch, Scherben und Orangensaft glitzerten unschuldig unter der Deckenleuchte wie stille Beobachter.
„Das ist wirklich toll, Tuni“, sagte Lily mit belegter Stimme. Sie versuchte sich um jeden Preis nicht anmerken zu lassen, wie verletzend die Worte ihrer Schwester waren, wie tief sie sich in ihr Herz bohrten. „Klassensprecherin wolltest du doch schon lange werden, Glückwunsch.“
Lily hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Schwester ihr freudestrahlend um den Hals fallen würde, aber noch weniger hatte sie damit gerechnet, dass Petunia wie eine Warnsirene kreischte, aufsprang und die Treppen hoch in ihr Zimmer polterte. Das Zuschlagen ihrer Tür hallte wie ein Kanonenschuss in der Luft nach.
Lily standen die Tränen in den Augen. „Es tut mir leid“, sagte sie schluchzend. „Das ist alles meine Schuld.“
„Was redest du denn da?“ April ging neben ihrer Tochter auf die Knie und griff nach ihren Händen. „Wie kannst du denn Schuld daran haben, dass Petunia sich unmöglich verhält?“
„Weil ich so anders bin. Sie hat doch Recht“, schniefte sie, die bissigen Worte ihrer Schwester und die gehässigen Flüstereien von Leuten wie Mulciber im Ohr. „Wenn ich nicht diesen Brief bekommen hätte, dann wäre das alles nicht passiert.“
„Aber ich dachte, du liebst es, eine Hexe zu sein?“, fragte April vorsichtig, ihre warme Hand auf Lilys Fingern. „Du siehst so glücklich aus, immer wenn du von Hogwarts und all den wundersamen Dingen erzählst, von denen dein Vater und ich nur die Hälfte verstehen.“
„Das bin ich auch und - und ich liebe Hogwarts und Magie“, erwiderte Lily leise. Es stimmte natürlich, sie würde ihre Erfahrungen auf der Zauberschule gegen nichts in der Welt eintauschen, aber warum konnte sie nicht eine Hexe und eine Schwester gleichzeitig sein? Musste sie denn eine Wahl treffen, die nicht zu treffen war? Bevor Lily einen Fuß in die magische Welt gesetzt hatte, hätte sie Tuni über alles gewählt, weil sie ihre große Schwester war, aber heute würde sie ihre Magie nicht mehr aufgeben. Sie war ein Teil von ihr, den sie nicht aufgeben konnte, selbst wenn sie wollte.
„Petunia wird schon zu Sinnen kommen, Liebling“, sagte April. „Deine Schwester braucht Zeit, um sich damit anzufreunden, dass du nun mal etwas besonderes bist.“
„Tuni ist auch etwas besonderes“, antwortete Lily beinahe trotzig.
„Natürlich ist sie das“, meinte ihre Mutter nebensächlich klingend. „Ihr seid beide besonders, Lily, aber du bist nun mal eine Hexe. Damit wirst du immer etwas haben, das Petunia nicht haben kann. Verstehst du das?“
Lily nickte. Selbstverständlich verstand sie das, sie war ja kein Kleinkind mehr. Bald wäre sie schon dreizehn, sie hätte zwei Schuljahre an Hogwarts überstanden. Lily war auf dem besten Weg, erwachsen zu werden. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass sie sich auch wie eine fast Erwachsene benahm, oder?
Lily wischte sich die Tränen weg. „Wenn ich schon zaubern dürfte, dann könnte ich das Glas jetzt reparieren, weißt du? Professor Flitwick hat gesagt, mein Reparo wäre von allen Zweitklässlern am schnellsten.“
April lächelte ihre Jüngste an. „Das ist fantastisch, Lily. Ich kann es auch kaum erwarten, bis du mir endlich etwas zeigen kannst. Seit du erzählt hast, dass du Früchte zum Tanzen bringen kannst, muss ich beim Einkaufen im Supermarkt jedes Mal lachen, wenn ich in der Obst-Abteilung stehe.“
„Von all den Zaubern, die ich kann, willst du nur sehen, wie ich einer Mango Tango beibringe“, lachte Lily.
„Natürlich! Ein kaputtes Glas kann ich ersetzen, aber ich werde doch nur einmal im Leben sehen, wie meine Tochter Obst verzaubert, sodass es tanzen lernt!“ April stimmte in Lilys Lachen mit ein und erhob sich wieder. Sie griff nach den Küchentüchern. Seufzend betrachtete sie die Scherben und den verschütteten Saft auf den Fliesen. „Wenigstens ein Mal könnten sie dir eigentlich erlauben, zu zaubern, wenn du damit deiner armen Mutter helfen würdest.“
Lily zog eine Grimasse. „Ich könnte, aber dann würden sie mich bestimmt von der Schule werfen und nach Askaban schicken.“
„Askaban?“, fragte April verwirrt.
„Das ist -“, fing Lily an, aber eine andere Stimme unterbrach sie.
„Das ist dieses freakige Gefängnis, oder?“ Petunia stand am Fuß der Treppe, mit rot umrandeten Augen und sich ineinander verknotenden Fingern. „Ich hab mal gehört, wie du mit dem Snape-Jungen darüber geredet hast“, fügte sie auf Lilys überraschten Gesichtsausdruck hinzu. „Tut mir leid.“ Sie vermied es ihrer Mutter oder Schwester direkt in die Augen zu sehen. „Mit dem Glas.“
April schnalzte mit der Zunge. „Ich war der Meinung, dass ich dich nicht so erzogen hatte, Petunia.“
„Ich werde ein neues Glas kaufen“, sagte sie mit gesenktem Kopf. „Es wird auch nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich auch meinen. Wir haben nicht das Geld, uns ständig alles neu zu kaufen, das müsstest du wissen.“ April deutete auf den Boden. „Und jetzt hilf mir das sauber zu machen.“
Lily erwartete, dass Petunia protestieren und meckern würde, wurde jedoch ein weiteres Mal überrascht. Ohne zu murren, nahm Petunia ihrer Mutter die Tücher ab und machte sich daran, ihren verschütteten Orangensaft aufzuwischen.
„Es wäre wirklich praktisch“, sagte Petunia langsam, ohne aufzublicken, „wenn du schon zaubern dürftest, Lily.“
„Wir können das auch ohne Magie im Handumdrehen aufräumen“, sagte sie. „Wenn wir gemeinsam arbeiten.“
„Das lobe ich mir“, entgegnete April glücklich. „Ihr Schwestern solltet zusammenhalten und euch nicht übertrumpfen wollen. Und jetzt erzähl mir noch mal ganz langsam, was es mit diesem Askaban auf sich hat, ja?“
Lily und Petunia tauschten, auf Knien und mit vollgesogenen Küchentüchern in den Händen, einen belustigten Blick unter einander. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren fühlten sie sich wieder wie richtige Schwestern an.