Remus Lupin
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Remus konnte sich an keine Verwandlung erinnern, die schlimmer war. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos, er fühlte sich schwach und ausgelaugt, sein Körper war geschunden und übersäht mit neuen Wunden und Verletzungen. War es der Wolf, der seine menschlichen Gedanken gespürt hatte, oder war es der Mensch in ihm gewesen, der den Wolf dazu gebracht, so zerstörerisch zu sein?
Madam Pomfrey brauchte an diesem Morgen länger als üblich, um seine vielen Verletzungen zu heilen. Sie tat ihr Bestes, damit Remus halbwegs gesund aussah, aber auch ihre Kräfte hatten ihre Grenzen. Eine neue, feingliedrige, rote Narbe zog sich über seinen Hals bis zur seiner Brust, ein Mark des Wolfs. Die Klaue hatte seine Haut tief eingerissen. Blut klebte am Boden und an den Wänden. Die Heilerin hatte mehrere Zauber anwenden müssen, damit der widerlich metallische Geruch aus der Luft verschwunden war, bevor sie Remus einen Blutbildungstrank eingeflößt und seine Wunden behandelt hatte. „Nichts, was ich nicht schon gesehen hätte“, hatte sie gemurmelt, als Remus die Verletzung bedecke wollte.
Reden war zu anstrengend. Er hatte lediglich gegrunzt oder genickt, wenn sie Fragen gestellt hatte. War es auch der Wolf, der seine Gedanken übernahm, oder war Remus nur zu schwach? Er fühlte sich wie ein Besucher in seinem eigenem Körper. Vor der Verwandlung hatte Remus es akzeptiert, dass nichts mehr so sein würde, wie er es gewohnt hat und als sie endlich wieder im Krankenflügel waren und er sich in eines der Betten legen konnte, war er der festen Überzeugung, dass es das letzte Mal sein würde, dass er dazu die Chance hatte.
„Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte Madam Pomfrey gesagt. „Der Schulleiter hätte deine Freunde nicht gehen lassen, wenn er nicht glauben würde, dass sie ein Geheimnis für sich bewahren können.“ Sie hatte ihm einen Schlaftrank gereicht und Remus hatte nicht die Kraft gehabt, ihr zu sagen, dass das nicht der Grund für seine Sorge war.
Ein paar ruhige, traumlose Stunden später fühlte sich der Junge zwar besser und hatte endlich wieder genug Kraft zum Sprechen, aber seine Gedanken waren noch immer dieselben. Wie sollte er seinen Freunden jemals wieder in die Augen sehen können, jetzt wo er wusste, dass sie wussten, was er war? Remus war ein Monster, eine Bestie in Menschengestalt. Er würde jeden von ihnen reißen und töten und fressen, wenn sie ihm in seiner wahren Form begegnen würden. Er wusste, es war eine schlechte Idee gewesen, Hogwarts zu besuchen. Sein Vater hatte nicht umsonst gesagt, es würde nicht sicher genug sein.
Remus hatte lang genug versucht, mit der Lüge zu leben, dass er so war, wie alle anderen, aber nichts konnte ihn davon überzeugen, dass das tatsächlich stimmte. Ein Monster wie er war nicht dazu geschaffen, inmitten von hundert anderen Kindern zu leben und zu lernen. Die kurze Zeit, die er Freunde gehabt hatte, drei wunderbare Freunde, die ihn als einen der ihren akzeptiert hatten, war wunderbar gewesen, wie ein wahrgewordener Traum. Remus hätte sich nicht einmal träumen lassen können, jemals solch wunderbare Freunde zu haben, aber jeder Traum musste irgendwann ein Ende finden. Wenn dieser doch nur etwas länger hätte anhalten können.
„Remus, Schatz, bist du schon wach?“, flog die sanfte Stimme Madam Pomfreys durch den Saal. Ihre leisen Schritte näherten sich seinem Bett, welches noch immer hinter den Vorhängen verdeckt war.
Er hätte die Zeit, sich wieder schlafen zu legen, könnte der Heilerin vorspielen, dass er nicht wach war und sie würde wieder gehen. Ein paar Mal würde er damit durchkommen, dann würde selbst die sanftmütige Madam Pomfrey einen Schlussstrich ziehen. Remus seufzte lautlos und bereitete sich darauf vor, von der Heilerin untersucht zu werden.
„Ah, gut“, sagte sie lächelnd, kaum hatte sie seinen Vorhang beiseitegezogen. „Du hast Besuch, Remus. Der Schulleiter und deine Freunde.“
Es war unausweichlich gewesen, dachte er. Nach einer Nacht voll Bedenkzeit waren James, Sirius und Peter sicherlich zu der Entscheidung gekommen, dass es besser wäre, wenn Remus verschwinden würde und der Schulleiter war endlich auch zu dieser Erkenntnis gekommen. Es war töricht gewesen, einen Werwolf nach Hogwarts zu holen, egal wie sehr dieser Werwolf es sich gewünscht hatte.
„Du musst nur etwas sagen, dann schicke ich sie wieder weg“, meinte die Heilerin vorsichtig. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, ihre weiche Haut brannte wie Feuer. Schnalzend fügte sie an: „Immer noch Fieber. Ich sollte sie wegschicken und du ruhst dich aus.“
„Nein“, krächzte Remus und räusperte sich. Dankend nahm er den Wasserkrug an, den Madam Pomfrey ihm reichte und nach einem ausgiebigen Schluck, der seinen Hals befeuchtete, sagte er: „Ich will es hinter mich bringen.“
„Hinter dich – Remus, du musst nicht gehen“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Niemand wird dich wegschicken.“ Sie hätte genauso gut mit dem Wasserkrug reden können. Kopfschüttelnd zog sie den Vorhang ein wenig weiter auf, dann sagte sie etwas lauter: „Er kann jetzt Besucher empfangen, Professor Dumbledore, aber nicht für lange. Eine halbe Stunde, mehr nicht, dann muss er sich weiter erholen.“
„Selbstverständlich, Poppy“, sagte Albus Dumbledore. Er sah wie am Vorabend aus; langer, weißer Bart, ein Funkeln in den Augen, ein bunter Umhang. Neben ihm standen drei recht verloren wirkende Gryffindor-Zweitklässler.
James zuckte die ganze Zeit über nervös mit seinen Händen hin und her, zog am Stoff seines T-Shirts oder fuhr sich durch die ohnehin chaotischen Haare, Sirius sah blasser als sonst aus und schien die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben und Peters Augen wollten die von Remus‘ nicht ganz treffen.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Lupin?“, fragte Dumbledore, als er neben seinem Bett angekommen war. „Ich hoffe, Ihre Nacht war erträglich.“
„Sie war okay, Sir“, erwiderte Remus und tat sein Bestes, niemanden in die Augen zu sehen.
„Verdammte Scheiße, Lupin“, sagte Sirius atemlos klingend. „Du siehst schrecklich aus.“
„Du sahst auch schon besser aus“, murmelte Remus trüb, was Sirius tatsächlich zum Lachen brachte.
„Ja, naja, mein Schönheitsschlaf musste ausfallen, weil ich mir Sorgen um meinen Mitbewohner gemacht habe, der sich irgendwo in einen Werwolf verwandelt hat. Wie geht’s dir?“, fügte Sirius leise an.
„Blendend“, sagte Remus zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Kannst du uns angucken?“, fragte James so plötzlich, dass Remus aufblickte. Seine braunen Augen waren voller Sorge verzogen und es fehlte das allgegenwärtige Glänzen in ihnen. „Kannst du ehrlich sein?“
„Ehrlich, James?“ Remus fühlte sich, als wäre ihm die Luft aus dem Körper gepresst worden. „Okay, ich werde ehrlich sein. Ich hasse euch dafür, dass ihr mein Geheimnis herausgefunden habt“, sagte er lauter als beabsichtigt. „Aber ich kann euch nicht hassen, weil ihr – weil ihr meine Freunde seid. Und ihr“, er schluckte schwer, guckte jeden von ihnen an, sah die zusammengezogenen Brauen in Sirius‘ Gesicht und die nervös hüpfenden Pupillen von Peter, „und ihr seid trotzdem hier, obwohl ich ein Monster bin.“
„Remus“, murmelte James etwas erschlagen.
„Spiel hier jetzt nicht das Opfer“, sagte Sirius laut, womit er Remus unerwartet erwischte. „Wir haben vielleicht keine Ahnung, wie es ist, wenn man ein Werwolf ist und wie man darunter leidet, aber wenn du jetzt denkst, wir würden dich armes kleines Würstchen allein lassen, weil du uns plötzlich zu viel bist oder weil du nicht mehr der unschuldige Bücherwurm bist, den wir kennen, dann hast du dich aber gewaltig geschnitten. Wir sind hier, weil wir weiterhin deine Freunde sein wollen und wir wollen dir helfen. Wir sind gestern Abend nicht einfach nur ins Bett gegangen und haben so getan, als wäre das alles nicht passiert, okay? Wir haben darüber geredet und –“
„Oh, toll, ihr habt sofort über mich geredet“, unterbrach Remus. „Kaum war ich weg, habt ihr darüber geredet, was für ein Monster ich doch bin!“
„Mr. Lupin!“ Keiner von ihnen hatte bisher gehört, wie Dumbledore die Stimme erhoben hatte und für einen Moment hatte Remus sogar vergessen, dass Schulleiter noch immer dagewesen war. „Ihre Freunde sind vertrauenswürdiger, als Sie denken und ich bin mir mehr als sicher, dass Sie nicht hinter Ihrem Rücken über Sie reden. Die Enthüllung eines solchen Geheimnisses betrifft leider nicht nur Ihr Leben, Mr. Lupin. Sie sind vielleicht der Leidtragende in dieser ganzen Geschichte, aber Ihre Freunde stecken nun mittendrin. Und ich wage mich daran zu erinnern, was Mr. Black mich auf dem Weg hierher gefragt hat. Ich zitiere: Gibt es denn nichts, womit wir Remus helfen können?“ Dumbledores hellblaue Augen brannten sich tief in Remus‘ Blick. „Wir alle verstehen, dass Ihnen diese Situation unwohl ist, aber Ihre Freunde sind nicht die richtige Zielscheibe für Ihre Wut, Mr. Lupin.“
Remus starrte den Schulleiter an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen, dann wandte er beschämt den Blick ab. „Tut mir leid, Sir.“
„Ich verdiene keine Entschuldigung, Mr. Lupin.“
„Tut mir leid, Sirius“, murmelte Remus.
„Wir wollen dir helfen, Lupin“, erwiderte Sirius ein wenig säuerlich klingend, aber ein schiefes Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt. „Ich hab vorgeschlagen, dass wir Montys Bett einfach in einen Kauknochen verwandeln, den du mitnehmen kannst.“
Dumbledore gluckste belustigt. „Ich bin mir sicher, Mr. Fortescue wäre nicht gerade glücklich damit, wenn er sein Bett dafür opfern müsste.“
„Madam Pomfrey“, meldete sich Peter endlich zu Wort, „gibt es denn gar nichts, womit man Remus dauerhaft helfen kann? Kann man seine Verwandlung nicht stoppen?“
„Ich befürchte nicht, Mr. Pettigrew“, erwiderte die Heilerin mit einem traurigen Blick.
„Oh.“
„Ist schon okay, Pete“, sagte Remus. „Ich hab mich dran gewöhnt.“
„Aber es tut weh, oder? Die Verwandlung? James hat uns gestern was aus dem Buch vorgelesen und da stand, dass die Verwandlung echt weh tut.“ Peter kaute nervös auf seiner Lippe herum. „Kann man da denn gar nichts machen? Gibt es keinen Zaubertrank oder so dagegen?“
„Es gibt kein Heilmittel“, meinte Remus müde. Es brach ihm das Herz, dass er Peter enttäuschen musste, obwohl er sich damit eher selbst enttäuschte. „Ich muss damit klar kommen.“
„Das ist doch sch- das ist doch blöd“, verbesserte sich Peter schnell mit einem Seitenblick auf den Schulleiter. Er war nicht mutig genug, wie Sirius, dass er vor Dumbledore tatsächlich fluchen würde – oder vielleicht war er schlau genug, Remus wusste es nicht ganz.
„Dann können wir gar nichts tun?“, sagte James vorsichtig. „Wir können ihm gar nicht helfen?“
Remus schämte sich, als seine Augenwinkel anfingen zu brennen. Er wischte sich mit einem Räuspern über die Augen, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt hätte.
„Ich befürchte, was seine Verwandlungen angeht, nicht“, erwiderte Professor Dumbledore mit einem traurigen Lächeln. „Aber sicherlich würde Mr. Lupin es gutheißen, wenn seine Freunde ihm dabei helfen würden, verpassten Schulstoff nachzuholen oder eine helfende Hand bei Hausaufgaben zu sein. Auch höre ich, dass Mr. Lupin sich manchmal weigert, nach seinen Verwandlungen richtig zu essen“, fügte der Schulleiter mit einem Nicken in Richtung Madam Pomfrey hinzu.
„Ich habe einfach keinen Appetit“, murmelte der junge Werwolf.
„Unsinn“, sagte Madam Pomfrey. „Du musst essen, Remus.“ Sie strich über seine Bettdecke, um ein paar Falten wegzuwischen, dann klopfte sie vorsichtig gegen sein Kopfkissen. „Die Vollmondnächte sind kräftezehrend, das sehe ich. Du kannst mir nicht vorspielen, dass du keinen Hunger hättest.“
„Damit helfen wir“, sagte Sirius mit schneller Stimme, sodass er sich beinahe verhaspelt hätte. „Wir helfen Remus mit all den Sachen. Wir können – wir können Notizen für ihn im Unterricht machen und dann hierher kommen und die Hausaufgaben machen und – und ihn zum Essen zwingen.“ Sirius‘ graue Augen bohrten sich beinahe aufgeregt in Remus. „Solange es Remus hilft.“
„Ich bin sicher, es ist bereits Hilfe genug, dass Ihr weiterhin seine Freunde seid“, sagte Dumbledore, „aber niemand hat etwas dagegen, wenn Ihr Mr. Lupin auch in anderen Dingen aushelft.“
„Ich komme gut mit meinen Schulsachen zurecht“, konterte Remus beinahe trotzig. Er wollte nicht, dass alle um ihn herumwuseln würden, als wäre er ein krankes, kleines Kind. Er konnte sehr wohl allein verpassten Stoff nachholen und bisher hatte er jede Hausaufgabe pünktlich abgegeben, egal ob Vollmond war oder nicht. Remus musste sich zusammenreißen, damit er nicht schmollte.
„Oh, stell dich nicht so an, Lupin“, erwiderte James. „Ein bisschen Hilfe tötet dich schon nicht. Außerdem würdest du das gleiche für einen von uns tun.“ Er lächelte schief, das berühmte Potter-Lächeln, von dem James so gerne Gebrauch machte. Mit den Fingern fuhr er sich die Haare, eine Geste, die Remus bisher mehr als nur bekannt war. „Wir wollen das nicht machen, weil wir nicht glauben, dass du es nicht allein kannst, weißt du?“
„Genau“, ergänzte Sirius. „Freunde helfen einander, ob sie es wollen oder nicht.“ Der Black-Junge zuckte kurz mit den Schultern. „Damit musst du wohl klar kommen.“
„Sieht nicht so aus, als hätten Sie eine großartige Wahl, Mr. Lupin“, sagte Professor Dumbledore belustigt. „Aber es ist wirklich beruhigend, dass Sie solch gute Freunde gefunden haben, meinen Sie nicht auch, Madam Pomfrey?“
„Oh, ich bin ganz Ihrer Meinung, Schulleiter. Es lässt mich nachts besser schlafen, wenn ich weiß, dass Remus nicht allein ist.“
Remus wurde rot im Gesicht – die brennende Hitze nahm zuerst seine Wangen ein, dann breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus. Er wollte das Gesicht in seiner Decke vergraben und am besten erst wieder hervorkommen, wenn er wieder allein war. Der Traum existierte weiter. Die drei Traumgestalten an seinem Bett würden nicht weggehen und er hatte das zu akzeptieren. Ob Remus nun wollte oder nicht, er hatte drei wundervolle, unglaublich perfekte Freunde, die ihn so mochten, wie er war. Es war genug, um einen erwachsenen Mann weinen zu lassen und es war definitiv genug, damit der zwölfjährige Remus sich erneut über die Augen wischen musste. Womit hatte er James, Sirius und Peter nur verdient? Seine Mutter hatte nach wie vor Recht behalten – Hogwarts würde die beste Zeit seines Lebens werden und er würde Freunde finden, die ihn liebten.
„Aww, nicht weinen, Lupin“, neckte Sirius ihn. „Sonst werde ich auch ganz emotional.“
„Und wenn Sirius anfängt zu heulen, dann muss ich auch“, sagte James lachend. „Komm schon, Remus, sei nicht so. Wir haben dich doch lieb.“
„Ihr seid echt der Hammer“, schniefte Remus. Dankbar nahm er das von Professor Dumbledore herbeigezauberte Taschentuch entgegen. Er schämte sich nicht, dass er vor dem Schulleiter, seinen Freunden und Madam Pomfrey weinte – er war sich sicher, dass er auch ein paar glitzernde Tropfen in den Augen seiner Freunde entdecken konnte und als Professor Dumbledore sich höflich abwandte, war er sich mehr als sicher, dass der Schulleiter sich selbst mit einem zweiten Tuch kurz die Augen trocknete. „Ich weiß nicht, wie ich euch jemals danken soll.“
„Du könntest mir den Aufsatz für Geschichte schreiben – nur ein Witz!“, sagte Sirius und hob die Hände in einer abwehrenden Geste, als Madam Pomfrey ihm einen zweifelhaften Blick zuwarf. „Mein Geburtstag steht bald an. Dir fällt schon was ein, Lupin“, fügte Sirius zwinkernd hinzu.
Remus konnte nicht anders, als zu lachen und gleichzeitig weiter zu weinen. „Abgemacht.“