Remus Lupin
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Es kam Remus so vor, als hätte er einmal geblinzelt und das Ende des Schuljahres wäre um weitere Wochen näher gerückt. Gerade noch war es Februar gewesen, mit wärmenden Sonnenstrahlen und kühler Frühlingsluft und einen Moment später war es Anfang Juni und nur noch einige Wochen trennten die Erstklässler vom Ende ihres ersten Schuljahres.
Je näher die Abschlussprüfungen kamen, desto eher redete James nur noch davon, dass er in den Sommerferien nichts anderes machen würde, als für das Quidditchteam zu trainieren. Es war sein eigener kleiner Traum, dass man ihn aufnehmen und direkt zum Kapitän ernennen würde, weil er so ein Naturtalent auf dem Besen war. Keiner von ihnen hatte es in sich, James zu sagen, dass er dafür zu jung war, nicht einmal Lily schien ihn aus seinem Luftschloss holen zu wollen, obwohl noch immer keine Woche verging, in denen sich die beiden nicht in den Haaren lagen.
Mittlerweile ließen es sich die Slytherins nicht mehr gefallen, dass einer von ihnen ständig das Ziel fieser Streiche wurde. Rachefeldzüge wurden in die Wege geleitet, die oftmals darin endeten, dass mehrere Schüler in den Krankenflügel mussten, weil ihnen Rettiche aus den Ohren wuchsen oder sie nur im Limerick reden konnten. Ein paar illegale Duelle mussten abgebrochen werden, als die Lehrer davon Wind bekamen und es verging kein Tag mehr, an dem ein Gryffindor mit einem Slytherin aneinandergeriet. Die ewige Hausrivalität hatte sich auf einen kleinen Krieg ausgeweitet und wurde erst dann beendet, als Dumbledore persönlich eine Ansprache hielt. Seine Rede über Gemeinsamkeit statt Zwietracht und gegenseitigem Helfen war vielleicht auf viele taube Ohren gestoßen (besonders Sirius schien nicht sehr angetan von der Idee gewesen zu sein, jemals einem Slytherin bei irgendetwas zu helfen), allerdings ließ die Drohung, die letzten Quidditchspiele der Saison ausfallen und den Quidditchpokal an Ravenclaw zu übergeben schließlich doch zu, dass die Schüler ihre Fehde in den Schulkorridoren beiseitelegten.
„Und das war alles nur wegen euch“, sagte Lily Evans aufgebracht, nachdem Dumbledore sich wieder gesetzt hatte. „Ihr und eure kindischen Streiche haben beinahe das ganze Haus in Schwierigkeiten gebracht!“
Sirius und James allerdings waren sehr stolz darauf, dass sie einen Krieg zwischen den Löwen und den Schlangen angezettelt hatten. „Nächstes Jahr gewinnen wir“, sagte James überzeugt. „Diese hinterlistigen Slytherins werden gar nicht wissen, was sie erwartet.“
Lily schnaubte lautstark und wandte sich an Marlene und Mary für Unterstützung. Marlene allerdings hatte andere Pläne. „Potter, falls du noch Inspiration für ein paar Streiche brauchst, dann hätte ich noch einige Ideen im Hinterkopf.“
„Marlene!“, sagte Lily empört.
„Was denn? Wäre doch schade, wenn meine Kreativität nicht genutzt wird, Lil. Es ist auch alles sehr jugendfrei und harmlos, ich schwöre.“
„Die Jungs hatten einen ganz schlechten Einfluss auf dich“, meinte Mary kopfschüttelnd, die aber ihr Grinsen nicht unterdrücken konnte. „Hoffentlich werdet ihr alle über die Ferien hinweg erwachsen.“
„Hoffentlich nicht“, sagte Peter. „Ich bin zu jung, um erwachsen zu sein.“
Die Abschlussprüfungen waren eine stressige Zeit für alle Schüler. Die Erstklässler mussten sich auf die ersten Prüfungen überhaupt vorbereiten, andere wiederrum mussten den Stoff von mehreren Jahren zusammenkratzen, Fünftklässler beschlagnahmten die Bibliothek und die guten Plätze im Gemeinschaftsraum für sich und Siebtklässler schienen überhaupt nicht mehr zu schlafen. Überall, wo man hinsah, konnte man Schüler am Lernen sehen, sei es beim Mittagessen mit einem offenen Buch an die Wasserkaraffe gelehnt, auf dem Weg zum Unterricht mit einem Zauberspruch auf den Lippen oder vor dem Schlafengehen in den Sesseln und auf dem Boden im Gemeinschaftsraum. Überall lagen Bücher und Lernzettel zusammen, das Schwarze Brett war voll mit verlorenen gegangen Pergamentrollen und Bibliotheksbüchern und es fand ein rigoroser Schwarzmarkthandel statt, von glücksbringenden Hasenpfoten, zu widerlich schmeckenden Leistungstränken, über Talismanen, die einen freien Kopf bringen sollten bis hin zu Ketten aus ekligen, nicht weiter identifizierbaren Materialen, auf die geschworen wurde, dass sie der einzige Grund waren, dass der Verkäufer das letzte Jahr die Prüfungen mit zwölf Ohnegleichen bestanden hatte.
Es war alles Humbug und Müll, das wusste Remus und trotzdem musste er eines Abends einem sehr aufgelösten Peter erklären, dass er gerade auf einen Trickbetrüger hereingefallen war, der sich mit seinen Galleonen wahrscheinlich Feuerwhisky oder Muggelzigaretten kaufen würde, die auf dem Hogwarts-Schwarzmarkt eine heißbegehrte Ware waren. „Pete, das ganze Zeug wirkt nicht“, erklärte er. „Die Leute verkaufen das nur an die Schüler, die Prüfungsangst haben, um ihre Nervosität auszunutzen. Außerdem brauchst du das alles nicht, um zu bestehen. Du hast doch super Noten.“
„Aber ich bin nicht so gut wie du oder James oder Sirius“, maulte Peter mit roten Flecken auf den Wangen.
„In Kräuterkunde bist du besser als wir alle“, erinnerte Remus ihn. „Und ich wette, du wirst in Verteidigung besser abschneiden als ich.“
Peter war allerdings nicht der einzige, den die Prüfungsangst plagte. Es gab keine freie Minute, in der man Lily Evans nicht in der Bibliothek fand und würde Madam Pince sie nicht zwingen, zurück in ihren Schlafsaal zu verschwinden, würde sie wahrscheinlich sogar zwischen den Regalen übernachten. Lily war die Tage vor den Prüfungen aggressiv und schnippisch geworden; sie meckerte jeden an, der ihrer Meinung nach zu viel Lärm machte, borgte sich einhundert Bücher gleichzeitig aus der Bibliothek aus, mit Themen, die nicht einmal in den ZAG-Prüfungen drankamen und war allgemein kein sehr angenehmer Zeitgenosse. Remus hatte einmal versucht, mit ihr zu lernen, aber hatte seinen Fehler schnell eingesehen, als sie ihn dafür gerügt hatte, dass er seine Feder zu laut in seine Tinte getunkt hätte.
Keiner der Lehrer war sehr hilfreich während dieser Phase. Entweder sie gaben ihnen die doppelte Menge an Hausaufgaben vor („Es dient zur Prüfungsvorbereitung, Mr. Black, und wenn Sie sie nicht abgeben, dann erhalten Sie ein T. Nein, Miss Evans, ich gebe Ihnen keine Extraaufgaben mehr“, hatte Professor McGonagall knapp und mit strenger Stimme erklärt.), ertränkten die Schüler in Wiederholungen von Themen und Zaubern oder verlangten, dass sie zwischendurch noch Extraaufgaben bewältigten. Hogwarts während der Prüfungszeit schien für niemanden ein schöner Ort zu sein.
Remus war sehr froh darüber, dass er sich bei all dem Prüfungsstress nicht auch noch über den nächsten Vollmond Gedanken machen musste, der Merlin sei Dank erst an der Reihe war, nachdem die gesamte Schule mit ihren Prüfungen durch war. Auch ohne den knurrenden Wolf in seinem Inneren, der ihn daran erinnerte, dass er bald wieder eine Nacht allein in der Hütte verbringen musste, fand Remus die Prüfungen anstrengend und auslaugend. Schüler wie James und Sirius und auch Emmeline Vance aus Ravenclaw schienen keine Probleme zu haben – sie kamen aus jedem schriftlichen Examen vollends entspannt, rissen Witze oder verglichen mit laxer Stimme ihre Ergebnisse miteinander, während andere nicht ganz so viel Glück hatten. Lily, Peter und auch Benjy Fenwick standen ganz oben auf der Liste von denjenigen, die sich vor jeder Prüfungen einen Beruhigungstrank von Madam Pomfrey geben lassen mussten, da sie sonst Panikattacken erleiden würden. Benjy erzählte Remus mit schweißgetränkter Haut nach der Verwandlungsprüfung, dass er noch nie so eine Angst vor etwas gehabt hatte.
Aber dann war es vorbei. Es war, als würde die ganze Schule nach Wochen der Tortur endlich wieder aufatmen können und der ganze Stress und die ganze Anspannung fiel gleichzeitig von allen Schultern. Gelächter nahm wieder die Korridore ein, es wurde sich lauthals beim Essen unterhalten und man konnte die Schüler wieder dabei beobachten, wie sich am Ufer des Schwarzen Sees entspannten, aus der Großen Halle mitgenommene Snacks verdrückten oder die Fangarme des Riesenkraken ärgerten, der immer wieder im seichten Wasser planschte und manchmal ein paar Brotreste mit sich in die Tiefe riss.
Vielleicht war es der ganze abgefallene Stress, vielleicht war es die Aussicht, endlich seine Eltern wiedersehen zu können, vielleicht war es auch die gesammelte Euphorie der Schule, aber der letzte Vollmond in Hogwarts fühlte sich weniger schlimm an. Freilich, Remus wachte noch immer mit schrecklichen Verletzungen auf, seine Knochen taten bei jeder Bewegung weh und seine Haut kribbelte noch Tage später, aber er war schneller auf dem Damm als üblich. Madam Pomfrey war das ebenfalls aufgefallen.
„Du bist so energiegeladen“, sagte sie ganz erstaunt am Morgen des zweiten Tages, der sonst für Remus ein Morgen voller dröhnender Schmerzen und pochendem Kopf war. „Interessant. Die äußeren Einwirkungen haben also doch Einfluss auf die Stimmung des Wolfes. Ich frage mich, ob er vielleicht spürt, dass das Jahr zu Ende geht.“ Kaum hatte sie das gesagt, war sie ganz rot um die Augen geworden. „Oh, es ist kaum zu glauben! Ein Jahr ist schon vorbei, Remus. Es fühlt sich noch an, als hätte ich dich erst gestern das erste Mal aus der Hütte geholt. Du bist so sehr gewachsen über die ganzen Monate, unglaublich.“
„So viel größer bin ich auch nicht geworden“, murmelte er peinlich berührt und musste weggucken, als Madam Pomfrey ihn mit Tränen in den Augen anblickte. Die Heilerin, so hatte er schnell gelernt, war zwar überaus resolut und hatte einen starken Magen, was seine Verletzungen und Wunden anging, war aber dennoch sehr nah am Wasser gebaut.
„Ich glaube, ich werde dich über den Sommer sehr vermissen, Remus. Mir hat unsere gemeinsame Zeit – wenn auch die Umstände, die dazu führen nicht angenehm sind – sehr gefallen und ich finde den Gedanken einfach schrecklich, dass du deine nächsten Verwandlungen nicht in der Hütte sein wirst. Du musst versprechen, dass du schreibst, sollte irgendetwas sein.“
Es war ihm sehr unangenehm, dass sie das sagte. „Versprochen“, log er. „Aber das wird nicht nötig sein. Meine Eltern sind auch sehr gut darin, sich um mich zu kümmern. Mein Vater hat extra Heilerstunden im St. Mungos für mich genommen, damit er meine schlimmsten Verletzungen behandeln kann.“
„Oh, das mag sein, aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn eine ausgebildete Heilerin nach dir sehen würde… ich könnte ja –“
„Nein!“, unterbrach Remus sie etwas zu laut. „Nein, wirklich“, fügte er leiser und sanfter hinzu. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, was Sie die letzten Monate für mich getan haben, Madam Pomfrey, aber Sie haben sich eine Auszeit verdient. Die Ferien sind für uns alle da, nicht wahr?“
„Das wird deine Verwandlung auch nicht aufhalten“, sagte sie, stimmte letztlich jedoch zu, dass sie nicht unangekündigt im Lupin-Haushalt auftauchen würde. Sie ließ sich damit zufrieden stimmen, dass Remus ihr hoch und heilig mit einem Merlinehrenwort versprach, dass er ihr nach jeder Verwandlung einen Brief schreiben und ihr berichten würde, was geschehen war. Der Heilern war zwar anzusehen, dass es ihr trotzdem lieber wäre, wenn sie selbst vor Ort sein würde, konnte sich damit aber zufriedenstellen. Sie gab Remus dennoch ein paar Phiolen mit Schlaftränken und anderen Heilungstinkturen mit. „Nur für den Fall“, sagte sie mit fester Stimme. „Du musst sie nicht nehmen, aber ich werde besser schlafen, wenn ich weiß, dass du sie bei dir hast.“
Remus konnte nicht anders, als zu lächeln.