Lily Evans
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Das metallene Gestell der Schaukel quietschte unheilvoll, als Lily einen weiteren Schwung nahm, die Beine nach vorne gebeugt und die Haare wie Peitschenhiebe um ihr Gesicht. Sommerlicher Wind tanzte über ihre Haut und rauschte durch die sattgrünen Blätter der schiefen Bäume, die noch im Cokesworth Park standen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis man die letzten Eschen und Lärchen ebenfalls fällen würde, um noch mehr Platz für kniehohe metallene Zäune und schmutzigen Asphalt zu schaffen.
Lily nahm einen weiteren Schwung, schaukelte noch ein wenig höher. „Komm schon, Tuni!“
Auf der zweiten Schaukel saß Petunia, die blonden Haare in ihrer neuen Kurzhaarfrisur und Zweifel auf dem Gesicht. Die Fingernägel waren grellpink lackiert. Sie fuhr sich durch die kurzen Fransen, dann sagte sie: „Ich weiß nicht, Lily. Diese Schaukeln sind uralt.“
„Früher hast du auch hier mit mir geschaukelt“, entgegnete Lily über den rauschenden Wind. Sie grinste und fragte sich, wie sie eigentlich so lange ohne Schaukeln hatte überleben können. Es war wirklich eine Straftat, dass es in Hogwarts sowas nicht gab. Vielleicht könnte sie einen Zauber finden, um einen Park entstehen zu lassen, überlegte sie, bevor sie die Hacken anwinkelte und sich tief in den Sand bohrte. Mit verringerter Geschwindigkeit kam sie schließlich zum Stehen. „Na los, ich schubs dich an.“ Sie war kaum von ihrer Schaukel aufgestanden, da hatte Petunia bereits mit einer überraschenden Kraft nach ihrem Arm gegriffen.
„Hör auf!“, sagte sie, aber sie konnte das Lachen in ihrer Stimme hören, auch wenn es das nicht auf ihre Lippen geschafft hatte. „Ich will einfach nicht, dass wir unter diesem Ding begraben werden. Außerdem gehe ich heute Abend aus, ich will nicht, dass der Lack abblättert.“
Lily unterdrückte ein Stöhnen. „Dann lackierst du halt neu“, erwiderte sie.
„Du verstehst das nicht, Lily.“
„Dann erklär es mir doch, Tuni.“
Petunia schüttelte den Kopf. „Dafür bist du noch zu jung.“
„Die zwei Jahre“, beschwerte Lily sich.
Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. „Wenn Mum mir vorher nicht erlaubt hat, mich zu schminken, dann fände ich es nur fair, wenn du es auch nicht darfst.“
Lily hatte große Lust, eine Grimasse zu ziehen, ließ es aber bleiben. Stattdessen setzte sie sich wieder auf ihre Schaukel, wobei das Gerüst erneut quietschte. Wenn sie wenigstens zaubern dürfte, dann könnte sie einen raschen Reparo auf das Gestell wirken, damit der Rost nicht wirklich noch dazu beitrug, dass es unter ihrem Gewicht einsackte. Lily hatte zwar ein wenig zugenommen, aber sie war sicherlich nicht so schwer, dass sie ein ganzes Schaukelgestell zusammenbrechen lassen konnte. Sie war sich sicher, dass das niemand konnte.
„Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt hier bin“, murmelte Petunia.
„Mum hat uns aus dem Haus geworfen“, erinnerte Lily sie.
Petunia verdrehte die Augen. „Das weiß ich ja wohl noch. Ich meinte, warum ich überhaupt mit dir gegangen bin. Ich hätte einfach den Bus nehmen und zu Tess fahren können.“
Lily versuchte den Stich in ihrem Herzen zu ignorieren; zwar verstanden sie und ihre Schwester sich wieder etwas besser, seit sie für die Ferien zurückgekehrt war, aber es war doch deutlich, dass ihre Beziehung noch immer vom Schatten von Lilys Magie verdunkelt wurde. Manchmal konnte Lily sehen, wie Petunia sie anfunkelte und dann schnell wegsah, in der Hoffnung, dass Lily es nicht bemerkt hatte. Lily bemerkte es immer. Lily bemerkte auch, wie sehr es wehtat, dass ihre Schwester lieber Zeit mit ihren Schulfreundinnen verbringen wollte als mit ihr. „Dann könntest du aber nicht sehen, wie ich einen Überschlag mache!“
„Das wirst du ja wohl auch bleiben lassen“, sagte Petunia und griff nach einer der Ketten von Lilys Schaukel. „Mum tötet mich, wenn du sowas nochmal machst.“
„Letztes Mal ist nicht mal was passiert“, meinte Lily schnaubend.
„Ja, weil – weil –“ Petunia brach ab. Sie ließ Lilys Kette los und starrte wieder nach vorne. „Mach es einfach nicht.“ Es war mehr als offensichtlich, was Petunia fast hätte sagen wollen. Weil du zaubern kannst, hatte Lily fast gehört. Weil du Magie hast und ich nicht. Vielleicht war es besser, dass sie es nicht ausgesprochen hatte.
„Na schön“, murrte Lily leise. „Aber gegen ein wenig normales Schaukeln ist nichts einzuwenden, oder? Ich wette, mittlerweile komme ich sowieso höher als du.“
In Petunias Augen trat ein Glitzern, das sie lange nicht mehr gesehen hatte. „Das denkst du, ja? Ich habe dich früher immer darin geschlagen.“
„Tja, dann kannst du es ja jetzt bestimmt noch mal tun, nicht wahr?“ Lily lief mit der Schaukel unter sich zwei Schritte nach hinten, dann knickte sie ihre Beine weg und nutzte den Schwung, um an Höhe zu gewinnen. „Oder sind dir deine Nägel etwa wichtiger?“
Für einen Augenblick blickte Petunia wirklich auf ihre frisch lackierten Nägel, dann grinste sie, zuckte mit den Schultern und packte ihre Ketten. „Warts nur ab, Lily!“
Ein Geräusch, das seit Jahren nicht mehr in diesem Park zu hören gewesen war, ertönte; das Lachen zweier Schwestern, die mit dem Wind rauschten und immer höher und höher schaukelten. Rotes Haar bei der einen, blondes bei der anderen, aber das Lachen war gleich. Hoch und glücklich und so, als wäre dort nicht der Schatten, der zwischen ihnen herrschte und die Beziehung der Schwestern ruinieren wollte.
Lily schlang ihre Finger fest um die Kettenglieder, die bereits jetzt warm von ihrer Haut waren. Der Wind peitschte um ihr Gesicht und immer wieder wirbelte ein wenig Sand auf, wenn sie mit den Fußsohlen auf dem Boden aufkam. Sie schaukelte höher und höher, schloss die Augen. Fast war es so, als wären sie wieder zwei Mädchen, die einfach nur wissen wollten, wer von ihnen höher schaukeln konnte.
Vollkommen furchtlos ließ Lily die Ketten los. Für einen Moment hing sie schwerelos in der Luft, der Wind wie eine Decke um sie gehüllt, dann öffnete sie die Augen und lachte.
Petunia schrie, Lily glitt über den Boden und kam dann auf sanften Füßen auf, als wäre sie auf Watte getreten. Das Blut rauschte in ihrem Kopf und sie grinste über beide Ohren, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte, die panisch ihre Füße in den Boden bohrte, sodass Sand und Dreck um sie herum gespritzt waren.
„Ich hab dir gesagt, du sollst das nie wieder machen!“, kreischte Petunia, stand von der Schaukel auf, die ohne Herrin ziellos umherwackelte und ging mit schnellen Schritten auf Lily zu. Ihr Gesicht war puterrot. „Wenn dich jemand gesehen hätte – wenn jemand gesehen hätte, wie du – wie du - wie du deine freakigen Kräfte benutzt hättest!“ Petunia atmete mit jedem Wort heftiger und wurde, wenn möglich, noch dunkler im Gesicht.
Jegliches Lachen tropfte aus Lilys Gesicht. Ein Gefühl, als würde jemand ihr Herz mit den Fingern zerdrücken, nahm sie ein. „Hier ist aber niemand“, sagte sie leise.
Ihre Schwester schüttelte so schnell den Kopf, dass ihre kurzen Haare wie wild durch die Gegend peitschten. „Das ist vollkommen egal“, schrie sie. „Du weißt genau, dass ich nicht –“
„Ich hab nicht gezaubert“, unterbrach Lily ihre Schwester wahrheitsgemäß.
„Was –“ Petunia brach ab und presste die Lippen zusammen. „Lüg mich nicht an, Lily. Ich hab´s doch gesehen!“
„Ich habe nicht gezaubert“, wiederholte sie. „Ich wüsste auch nicht wie. Es passiert einfach.“
Petunia starrte sie mit geweiteten Augen an, ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jedem schweren Atemzug, als wäre sie soeben durch ganz Cokesworth gerannt. Der sanfte Wind zerrte an ihrer luftigen Kleidung. „Was soll das bitte heißen?“, fragte sie laut. „Ich hab gesehen, wie du – wie du –“
Seufzend ging Lily einen Schritt auf ihre Schwester zu. Sie wusste, es war ein Fehler gewesen, vor Petunia zu zaubern – oder vielmehr, ihre Magie machen zu lassen – aber sie hatte sich nicht beherrschen können. Die Magie brodelte in ihr, loderte wie ein wunderschön knisterndes Kaminfeuer und Lily konnte es nicht ignorieren. Konnte nicht ignorieren, was in ihr war und was sie ausmachte. „Tut mir leid, Tuni“, sagte sie, auch wenn sie es nicht so meinte.
„Du kannst froh sein, dass dich niemand gesehen hat“, schnaubte Petunia, ehe sie die Arme fest um sich schlang, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. „Das hätten wir sicher nicht erklären können.“
Lily lächelte überrascht. „Wir?“
Bevor sie ihren Fehler hätte vertuschen können, seufzte Petunia. „Natürlich wir. Du hast mich ja einfach da mit reingezogen.“
„Das hab ich früher auch immer“, sagte Lily, „als wir Prinzessinnen gespielt haben.“
Petunia schnaubte belustigt. „Gott, ja. Ich musste dich drei Mal von Mrs. Appleworths Baum holen lassen, weil du allein nicht wieder runter kamst.“
Lily lachte und auch auf Petunias Lippen erschien der Hinweis an ein echtes Lächeln. „Und das eine Mal, als ich über den Zaun beim alten Bowling-Center geklettert bin, um unseren Ball zurückzuholen.“
Überraschenderweise schlug Petunia sich eine Hand vor den Mund. „Weil ich ihn rüber getreten hatte“, meinte sie. „Ich weiß noch, dass Dad damit gedroht hat, uns nächstes Mal von der Polizei abholen zu lassen, wenn wir wieder sowas anstellen.“
„Das hätte er sowieso nicht gemacht“, erwiderte Lily. „Dafür hat er uns zu gern. Du hast ihn immer schnell um den Finger gewickelt.“
Ein Kichern entkam Petunia. „Dafür hattest du Mum immer auf deiner Seite. Ich weiß noch, dass sie mir mal Hausarrest gegeben hat, weil ich dich zum Weinen gebracht hatte, obwohl das deine eigene Schuld war. Du bist vom Rad gefallen“, fügte sie erklärender Weise hinzu. „Aber Mum hat gesagt, ich wäre für dich verantwortlich gewesen.“
Lily verdrehte die Augen. „Das tut mir leid, ich hoffe es war nicht allzu schrecklich für dich.“
„Ich durfte drei Tage lang kein Fernsehen gucken“, erwiderte Petunia. „Es war keine einfache Zeit für mich.
Lily musste sich zusammenreißen nicht die Augen zu verdrehen. Wenn es eines gab, das Petunia schon immer mehr gemocht hatte, als alles andere, dann war es Fernsehen schauen. Lily wusste nicht einmal, was Petunia daran so toll fand – meist schaute sie irgendwelche Kochshows, obwohl sie es hasste zu kochen oder Shows über Jurys und Anhörungen, damit sie die Angeschuldigten anmotzen konnte. Den Sommer über hatte Lily Petunia sogar dabei erwischt, wie sie die Nachrichten geguckt und sich dabei die Nägel lackiert hatte. Es war ein wahrhaft seltsamer Anblick gewesen, zumal Petunia sich nie für etwas interessierte, dass sie nicht persönlich betraf.
Ein weiterer sanfter Windstoß zerrte an Lilys Haaren und brachte den losen Schmutz am Boden durcheinander. Einige losgerissene Blumen purzelten über die staubige Erde. Bevor sie sich hatte daran hindern können, bückte Lily sich und hob ein paar davon auf. Sie betrachtete die roten, gelben und weißen Blütenblätter in ihrer Hand, dann fragte sie Petunia: „Welche davon passt besser zu meinen Haaren?“
Die schnippische Bemerkung, die Lily sonst so von ihrer Schwester erwartete, blieb aus. Petunia zog die Augenbrauen zusammen und kam einen Schritt auf sie zu. „Die“, sagte sie und deutete auf eine kleine, runde weiße Blume, deren Blätter ein wenig zerknickt und eingerissen waren. „Hier, warte.“ Mit sanften Fingern nahm Petunia ihr die Blume aus der Hand, rückte sie ein wenig zurück und steckte sie ihr schließlich hinters Ohr. „Und ich nehme die.“ Sie deutete auf eine rote Blume und hielt Lily dann das Ohr hin.
Grinsend steckte Lily ihrer Schwester die Blume an und ließ die restlichen fallen. „Das haben wir früher auch immer gemacht“, sagte sie.
„Du hast davon mal eine Zecke bekommen“, erwiderte Petunia lachend. „Mum ist ganz verrückt geworden.“
Lily lachte ebenfalls. Sie erinnerte sich zwar nicht daran zurück, aber sie wusste noch, wie es vor ein paar Sommern war, als sie in genau diesem Park stand, Petunia auch nur ein paar Schritte von ihr entfernt, eine kleine weiße Knospe in ihrer Handinnenfläche. Noch bevor sie wusste, dass sie Magie in sich trug, hatte sie sich auf die kleine Knospe konzentriert und sie war in ihrer Hand aufgeblüht, als hätte sie die Zeit vorgespult. Lily war begeistert gewesen, ihrer Schwester den Trick zu zeigen, den sie konnte, aber Petunia hatte ihr die Blume aus der Hand geschlagen und sie einen Freak genannt. Sie war zu dem großen knorrigen Baum gelaufen, der seinen Schatten auf den Park warf und da …
Lily blickte zu ebenjenem Baum. Sie wusste nicht, was für eine Art Baum das war, denn er trug nie Blätter an sich. Die knorrigen, dunklen Äste woben sich wie Spinnenweben durch die Luft, bildeten ein eigenes, dichtes Netz und hinderten damit die Sonne daran, auf den Grasboden zu scheinen. Von ihrer Position aus konnte sie es nicht sehen, aber sie wusste, dass die Wurzeln des Baumes eine natürliche Höhle formten, groß genug, damit sich zwei Kinder darin verstecken konnten, mit kühler, fester Erde und einem abgeschotteten Blick, sodass man den ganzen Park sehen konnte, ohne selbst entdeckt zu werden.
Aus dieser Höhle war Severus das erste Mal geklettert, als sie ihn kennengelernt hatte.