Remus Lupin
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Schnee fiel in dicken, weißen Flocken vor dem Fenster des Hogwarts-Expresses, aber Remus hatte mittlerweile genug davon. Caerleon, das walisische Dorf, in dem er mit seinen Eltern lebte, war klein und idyllisch und der perfekte Schauplatz für Winterwunder. Sanfte Hügel und kleine, schmale Flüsse, bedeckt von Schnee, Eis und Frost, und mittendrin der einzige Werwolf in einem fünfhundert Meilen Radius. Die Weihnachtstage hatte Remus so verbracht, wie er sie die letzten Jahre verbracht hatte: im kleinen Häuschen seiner Eltern, der Duft von frischem Braten in der Luft und die liebste Platte seiner Mutter auf dem Spieler. Sein Vater hatte selbst zwischen den Feiertagen viel gearbeitet, sich aber dennoch die Zeit genommen, mit seiner Familie vor dem Kamin zu sitzen und heiße Schokolade zu trinken, verziert mit Mini-Marshmallows, die Hope aus dem örtlichen Muggelmarkt gekauft hatte.
Alles in allem gab es absolut keinen Grund für Remus, sich über seine Ferien zu beschweren, aber gegen zumindest ein wenig Abwechslung hätte er auch nichts. Er wollte keinesfalls undankbar wirken, immerhin wusste er, dass sein Vater Überstunden über Überstunden arbeitete, damit sie überhaupt genug Geld hatten, um über die Runden zu kommen, aber sie waren doch magisch, um Merlins Willen. War es wirklich zu viel verlangt, ein paar verhexte Schneebälle zu haben, die ihn durch den Garten jagen würden?
Das Rattern des Zuges schüttelte Remus auf der Sache nach seinen Freunden ziemlich durch. Der Hogwarts-Express war eindeutig zu groß für seinen Geschmack. Wie sollte er in der kobaltblauen Bahn denn jemals jemanden finden, den er kannte, wenn sich die Abteile bis ins Unendliche zogen? Wahrscheinlich war es ein freundlicher Wink des Schicksals, dass genau in dem Moment der dunkle Lockenschopf von Mary Macdonald aus einer Tür einige Meter vor ihm herauslugte.
Als sie ihn erkannte, lächelte Mary erleichtert auf. „Gott sei Dank“, sagte sie und winkte ihn heran. „Du musst mir helfen, Remus.“
„Muss ich das?“ Remus hatte allerdings nicht den Luxus, eine freie Entscheidung zu treffen, denn kaum war er in Marys Reichweite, griff sie nach seinem Ärmel und zog ihn zu sich ins Abteil. Statt, wie er erwartet hatte, Lily und Marlene zu sehen, wurde er mit einem blassem Sirius Black belohnt, der eine Hand an seinen Nacken gepresst hatte und aus dem Fenster starrte, als würde er Mary und Remus' Anwesenheit überhaupt nicht bemerken. Leise summend betrachtete er die Wiesen und Flüsse, die am Fenster vorbeizogen.
„Er reagiert auf gar nichts“, sagte Mary mit den Fingern an den Lippen, als könnte sie es kaum erwarten, an ihren Nägeln zu kauen.
Remus ließ sich auf dem Polster Sirius gegenüber nieder. „Sirius?“, fragte er vorsichtig, seine Stimme kaum mehr ein Flüstern. „Kannst du mich hören?“
Der Junge vor ihm zuckte zusammen, als Remus ihm sacht eine Hand auf den Oberschenkel legte. „Merlin“, zischte Sirius mit krächzender Stimme, räusperte sich und schluckte schwer. „Was machst du hier?“
„Was machst du hier?“, entgegnete Remus. „Mary sagt, du hast auf nichts reagiert. Alles okay bei dir?“
„Alles bestens“, erwiderte Sirius. „Sorry, MacDonald, war nicht mit Absicht.“ Er wischte sich über die blasse Haut und forcierte ein Lächeln. „Sind wir schon da?“
„Wir sind gerade erst los“, sagte Mary mit zweifelhafter Miene. „Was ist mit dir?“
„Mit mir? Gar nichts. Warum sollte denn was sein?“ Sirius setzte sich aufrechter hin, aber auch das half nicht darüber hinweg, dass seine Haut so aussah, als hätte er wochenlang kein Sonnenlicht gesehen, dunkle Ränder seine Augen zierten und er so wirkte, als würde er jeden Moment vor Erschöpfung einschlafen.
„Sirius“, sagte Remus langsam, bevor er Mary einen raschen Seitenblick zuwarf. Wie viel wusste sie überhaupt über Sirius' Situation und wie viel war er bereit preiszugeben, wenn sie dabei war? Er senkte die Stimmung, in der Hoffnung, dass Mary ihn nicht hörte und fragte dann: „War das deine Mutter? Was hat sie gemacht?“
Sirius schüttelte kaum merklich den Kopf. „Schon gut, mir gehts gut, wirklich. Macht euch - macht euch keinen Kopf um mich. Wie waren die Ferien, Mary?“
Mary war vom plötzlichen Themenwechsel genauso überrascht wie Remus. „Ähm - sie waren gut. Ereignislos schätze ich. Meine Mutter hat ein paar neue Platten aus dem Second-Hand-Shop geholt und die haben wir angehört. Wir war es bei dir?“
„Ah, du weißt schon. Das Übliche“, erwiderte Sirius, wobei er es vermied, in Remus Richtung zu blicken. „Bei den Blacks gab es noch nie wirklich Weihnachtsstimmung, also ...“
Remus war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Bisher war Sirius weitestgehend offen gewesen, was seine Zeit mit seiner Familie anging, deswegen war es irritierend, dass er auf einmal so kryptisch davon redete. War es nur, weil Mary dabei war? Es wäre nicht das erste Mal, dass einer von seinen Freunden sich in der Gegenwart eines Mädchens verstellte.
„Wie geht es deinem Bruder?“, fragte Remus und wurde mit der genau erwarteten Reaktion belohnt.
Sirius' Kopf zuckte herum, seine scharfen Augenbrauen zogen sich zusammen und er presste die Lippen zusammen. „Gut“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Reg geht's gut. Warum fragst du?“
„Ich weiß ja, wie nahe ihr euch standet, deswegen dachte ich, ihr habt in den Ferien bestimmt einiges an Zeit miteinander verbracht.“
„Nicht wirklich“, erwiderte Sirius mit blanker Stimme. „Er spielt den perfekten kleinen Erben, wann immer meine Eltern in der Nähe sind, und sonst hockt er in seinem Zimmer und schreibt seinen Freunden.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Fast schon niedlich wie sehr er an den anderen Reinblütern hängt.“
Remus versuchte zwischen Sirius' scharfen Worten zu erkennen, was er wissen wollte, aber genauso gut hätte er nach den Antworten für die Hausaufgaben suchen können. Sirius war unwillig, über seinen Bruder zu reden, denn Sirius hasste es, ehrlich über seine Gefühle zu sein. Remus vermutete, dass es im Moment nicht viel gab, dass er tun oder sagen konnte (nachts, wenn James und Peter und Monty schliefen und der Mond hinter den Wolken leuchtete, vielleicht würde er dann die Vorhänge für Sirius öffnen und der andere Junge würde ihm ein Stück Wahrheit überlassen, die er im Licht nicht aussprechen konnte), deswegen lehnte er sich in seinem Sitz zurück. Er sagte: „Ich hab das Bowie Album mit, von dem ich dir erzählt hab“, und es reichte aus, damit Sirius' trüber Blick ein wenig mehr glänzte.
Mary hatte zwar mit der ganzen Sirius-Sache nicht abgeschlossen, gab sich nach einem ausgiebigen Seufzen aber ebenfalls zufrieden. Sie setzte sich auf einen der Sitze neben Remus und überschlug die Beine. „Ich werde wohl nie aus euch schlau werden“, sagte sie. „Weder euch noch Potter und Pettigrew.“
Sirius grinste, womit er etwas von seinem üblichen Rumtreiber-Schalk zurückgewann, den sie alle laut James besaßen. „Ein Mann muss eben mysteriös und begehrenswert sein.“
„Wer hat was von Männern gesagt?“, fragte Mary mit zuckenden Mundwinkeln. „Bitte, du bist grad mal dreizehn, Black“, fügte sie auf seinen empörten Ausdruck hinzu.
„Eh, ja. Auf einer Skala von eins bis zehn sicherlich.“
„Auf einer Nervtöt-Skala vielleicht“, brummte Mary. „Ihr habt für den Rest des Jahres bestimmt wieder eine ganze Menge an dämlichen Streichen geplant, die uns Hauspunkte kosten werden, oder?“
Remus lächelte vage. „Als du uns mit Lily reingelegt hast, waren Streiche plötzlich nicht mehr dämlich.“
„Das war auch etwas anderes. Ihr hattet es immerhin verdient.“
„Ah, Macdonald, der Tag wird noch kommen, an dem auch du unser großes Genie erkennen wirst“, sagte Sirius.
„Ja, das wird wahrscheinlich der Tag sein, an dem ich mich unsterblich in Snape verliebe.“
„Über sowas solltest du lieber keine Witze machen“, sagte Remus.
„Genau, sonst werden sie irgendwann noch wahr und am Ende musst du dich um seine fetthaarigen Babys kümmern“, fügte Sirius grinsend hinzu.
Mary blickte einen Augenblick lang wie zu Stein erstarrt, dann schüttelte sie sich. „Das war ein wirklich widerwärtiger Gedanke.“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. „Oh Gott, das war gemein. Warum bin ich so gemein? Ich weiß doch, dass Lily ihn gut leiden kann? Oh Gott, ich bin eine schreckliche Freundin.“
„Woah, das ist jetzt aber schnell passiert.“ Sirius winkelte ein Bein an, wobei es ihn nicht sonderlich zu interessieren schien, dass er dabei getrockneten Matsch auf das Sitzpolster schmierte, als er den Fuß hochzog. „Was ist los?“
„Gott, nein, du wirst jetzt nicht fragen, was los ist, wenn du selbst nicht darüber reden kannst“, maulte Mary. „Es ist nur“, führte sie fort und hielt sich damit nicht an das, was sie eben noch predigte, „ich kann ihn nicht wirklich leiden, dabei kenne ich ihn gar nicht, aber muss ich das? Außerdem ist Lily mit ihm befreundet und sie redet ständig davon, wie genial er ist.“ Sie blickte erst zu Sirius, dann zu Remus, dann wieder zurück zu Sirius. „Severus Snape, genial! Ich weiß doch auch nicht. Ich mag es einfach nicht, wie er guckt. Und das macht mich offensichtlich zu einer schlechten Freundin.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so funktioniert“, erwiderte Remus. „Du denkst zu viel darüber nach. Nur weil du Snape nicht leiden kannst, heißt das nicht, dass du eine schlechte Freundin bist.“
„Genau, das zeigt eher, dass du gute Menschenkenntnis besitzt“, funkte Sirius dazwischen. „Ich hab von Anfang an gesagt, dass Schniefelus nicht zu trauen ist.“
Remus hob die Augenbrauen. „Wann hast du das jemals gesagt?“
„Na, von Anfang an. Willst du ein genaues Datum, oder was?“
Kopfschüttelnd wandte Remus sich wieder zu Mary. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin auch nicht Snapes größter Fan und trotzdem noch mit Lily befreundet.“
„Hm, stimmt“, sagte sie mit schief gelegtem Kopf. „Und ihr habt Snape vor Lilys Augen verhext und trotzdem redet sie noch mit dir. Schätze, ich hab einfach etwas überreagiert.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Okay, ich bin also keine schreckliche Freundin!“
„Hätten wir das auch geklärt“, murrte Sirius. „Wer hat Lust auf eine Runde Zauberschnippschnapp?“
„Ist das das, wo die Karten explodieren und dir die Augenbrauen versengen?“, fragte Mary mit skeptischer Miene.
„Nur wenn du zu nah dran gehst“, erwiderte er. „Komm schon, Macdonald, wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?“
„Also schön“, seufzte sie. „Aber wenn auch nur ein Haar an meiner Augenbraue fehlen sollte, dann hexe ich deine ganz ab, kapiert?“