Regulus Black
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Niemand beachtete den Jungen, der sich auf dem niedrigsten Sitz der Tribünen versteckte und die fliegenden Gestalten am Himmel beobachtete. Einer der Gestalten war ein Zweitklässler mit chaotischem schwarzen Haar und einer Brille, die bei jedem anderen sicher von der Nase gerutscht wäre, so schnell sauste er auf seinem Besen durch die Luft.
Regulus hatte die Hände im Schoß vergraben und den Blick stur auf James Potter gerichtet, der einen roten Lederball zwischen den Fingern hielt und mit seinen Teamkameraden redete. Ein älterer Schüler, wahrscheinlich sechste oder siebte Klasse, rief Anweisungen übers Feld, ehe er mit dem Finger auf Potter deutete. Über die Distanz konnte Regulus nicht ausmachen, was gerufen wurde, aber er war sich fast sicher, dass er es nicht wissen wollte. Quidditch, dachte er grimmig, war noch nie etwas gewesen, für dass er sich interessiert hatte.
Er hielt die Augen auf James Potter gerichtet, als dieser den Ball an seinen Teamkollegen weitergab und dann mit gebeugter Haltung durch die Luft sauste, als würde ihm der Himmel gehören. Regulus hatte keine Ahnung, was die Gryffindors dort trieben, aber er hatte auch nicht den Drang, es herauszufinden. Es war kaum hell genug, damit er die Gesichter der Spieler erkennen konnte, kaum hell genug, damit er sehen konnte, wie die Spitzen der Bäume im Verbotenen Wald sich voneinander unterschieden, und trotzdem waren diese sieben Schüler schon so lange auf ihren Besen unterwegs, dass man ihnen die Erschöpfung an den Bewegungen absehen konnte.
Regulus reckte das Kinn ein wenig. Er wusste nicht so recht, wieso er hier war. Vielleicht hatte er gehofft, dass er seinen Bruder sehen würde, nicht unbedingt auf dem Besen, aber zumindest auf der Tribüne. Was auch immer er sich von seinem Bruder dann erhoffen würde. Er und Sirius hatten seit Weihnachten nicht mehr miteinander geredet und es schien nicht so, als würde sein älterer Bruder darauf brennen, jetzt wieder damit anzufangen.
Es war fast April. Der Wind war angenehm kühl, die Luft roch süßlich und von allen Seiten aus konnte Regulus dutzende Vögel hören, die durch die Gegend flatterten und sangen. Eigentlich war es ein zu schöner Tag, um so früh wach zu sein und trotzdem saß er auf der Quidditchtribüne eines anderes Hauses, beobachtete ein anderes Haus beim Trainieren und hatte keine gute Ausrede, wieso er es tat. Sirius war nicht hier.
Sirius würde nicht mit ihm reden.
Regulus drückte die Hände fester in den Schoß.
„Da bist du, Reg“, ertönte eine Stimme neben ihm und ließ Regulus zusammenfahren. Evans müdes Gesicht tauchte in seinem Blickwinkel auf und einen Moment später ließ der Junge sich neben ihn fallen, die dunkelblonden Haare ungekämmt, das Gesicht noch mit Falten vom Schlaf bestückt. Die meisten Knöpfe an seinem Hemd standen offen und der Kragen seines Umhangs war unsauber und schlampig, sodass Professor Slughorn sicherlich wieder mit der Zunge schnalzen würde, wenn er das sehen würde.
„Was bei Merlins Bart machst du hier?“, fragte eine zweite Stimme, ehe auch dessen Sprecher sich mit einem lauten Gähnen niederließ. Bartemius Junior (der von allen nur Barty genannt wurde, weil er ihnen sonst ein paar Flüche auf den Hals hetzen würde), sah nicht weniger müde als Evan aus. Barty war blass und hatte eine ganze Menge Sommersprossen auf dem Gesicht, noch dazu war sein strähniges Haar strohblond, sodass Evan mehr als einmal gesagt hatte, Barty würde aussehen, als würde er in den Sommerferien bei den Muggeln auf dem Acker schuften. Barty hatte ihm beim ersten Mal die Zunge an den Rachen gehext. „Es ist arschkalt.“
Das war übertrieben, was alle von ihnen wussten. Regulus schüttelte den Kopf. „Das könnte ich euch fragen“, gab er zurück. „Verfolgt ihr mich?“
„Es war Evans Idee“, murrte Barty, ehe erneut gähnte und nicht den Anstand besaß, sich eine Hand vor den Mund zu halten.
„Was soll ich sagen, ich kann einfach nicht ohne dich leben, Reg“, grinste Evan ihn an, bevor er ebenfalls an den Himmel blickte. James Potter vollführte gerade einen gewagten Trick, bei dem er sich nur mit den Füßen am Besen hielt und kopfüber den Ball fing. „Angeber“, fügte er murmelnd hinzu.
„Was macht ihr hier?“, fragte Regulus erneut.
„Wir haben dich gesucht“, gab Evan zurück. „Dein Bett war leer und in der Großen Halle und in der Bibliothek warst du nicht.“
„Warum glaubt ihr dann, dass ich hier bin?“, stellte er die Gegenfrage. Er war nicht überrascht, dass Evan und Barty nach ihm suchen würde, aber er war überrascht, dass sie ihn gefunden hatten. Das Quidditchstadion war nicht unbedingt ein Ort, an dem er sich selbst vermuten würde.
„Weil du vorhersehbar bist“, entgegnete Barty. „Ständig maulst du davon rum, dass dein Bruder nicht mehr mit dir redet, da war es doch logisch, dass du irgendwo bist, wo du ihn vermutets. Wo ist er?“
„Nicht hier“, erwiderte Regulus kühl, bevor er den Blick abwandte. „Und ich maule nicht ständig über Sirius, danke auch.“
„´Türlich nicht“, murmelte Barty und Evan lachte.
„Sei nicht so mies drauf, Reg, du hast jetzt uns.“ Evan stieß ihm gegen die Schulter. „Aber ehrlich mal, was willst du hier überhaupt, wenn Sirius nicht hier ist?“ Evan folgte seinem Blick in den Himmel, bis auch er an der sportlichen Gestalt von James Potter hängen blieb. „Nicht dein Ernst, oder?“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte Regulus wahrheitsgetreu.
Evan machte ein Gesicht, als hätte er Strafarbeiten bekommen. „Du kommst um diese Zeit her, nur um Potter hinterherzugucken? Was ist mit dir, findest du ihn gut, oder was?“
„Nein“, spuckte Regulus ihm entgegen. „Ich – keine Ahnung, okay? Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich dachte, ich finde Sirius, aber hab ihn nicht gefunden, aber konnte auch nicht wieder gehen und jetzt habe ich die letzte Stunde damit verbracht, seinem – vergiss es einfach. Los, lasst uns –“ Regulus´ Versuch aufzustehen und die ganze Sache hinter sich zu lassen, wurde unterbrochen, als Evan ihn mit der Hand zurück in seinen Sitz zwang.
„Es ist doch mehr als offensichtlich was hier los ist.“
„Oh ja“, murrte Barty, der sich die Hände aneinanderrieb.
„Wenn es so offensichtlich ist, dann könnt ihr mich bestimmt aufklären“, sagte Regulus, der noch nicht ganz verstand, was Evan und Barty andeuteten. Es war absolut absurd, dass Regulus James Potter gut finden würde – Regulus war viel zu jung, um überhaupt irgendjemanden gut zu finden und selbst wenn er es nicht wäre, dann wäre Potter bestimmt nicht auf der Liste. Eher würde er vom Viadukt springen.
„Du bist eifersüchtig“, sagte Barty. „Auf ihn“, fügte er an, deutete mit dem Finger auf James Potter, der in der Luft hing und lachte, bevor er die Augen auf Regulus richtete. „Weil du sicherlich glaubst, dass er dir deinen Bruder weggenommen hat, oder?“
„Unsinn“, erwiderte Regulus.
„Ich wusste, er würde es nicht anerkennen wollen“, meinte Evan. „Hör zu, Reg, es ist vollkommen in Ordnung, dass du dich so fühlst.“
„Ich fühle mich aber nicht so“, erwiderte Regulus knurrend.
„Wie du meinst. Jedenfalls ist es in Ordnung, wenn du dich so fühlen solltest, immerhin ist der Kerl dein Bruder und egal was für eine Flachpfeife er eigentlich ist, du kümmerst dich irgendwie um ihn und hast das Gefühl, Potter hat ihn dir geklaut.“
„So fühle und denke ich nicht“, sagte Reg.
„Bitte“, schnaubte Barty. „Dann gib mir einen anderen Grund, warum du ihn versuchst mit deinem Blick umzubringen, Reg.“
„Das tue – wisst ihr was? Lassen wir das einfach. Kommt schon, ich hab Hunger.“ Regulus erhob sich von seinem Platz, wich Evans Hand aus und trat dann eine Sitzreihe weiter. „Kommt ihr mit?“
Evan und Barty tauschten einen vielsagenden Blick, in den sie Regulus nicht mit involvierten, dann zuckte Barty mit den Schultern. „Was du auch sagst, Black. Nächstes Mal suchen wir dich einfach nicht.“
„Es wird kein nächstes Mal geben“, versprach Regulus. „Und wenn doch, dann könnt ihr mich in Ruhe lassen.“
„Meine Güte“, murmelte Evan hinter ihm, „da ist aber jemand echt mies drauf, wenn er noch keinen komischen Tee am Morgen hatte.“
„Brennnesseltee ist nicht komisch, sondern ziemlich gesund“, erwiderte Regulus.
„Ja, dafür schmeckt er aber auch wie Koboldpisse.“
„Warum weißt du, wie Koboldpisse schmeckt, Evan?“, fragte Barty mit hörbarem Grinsen in der Stimme.
„Du kannst mich mal, Barty.“
Regulus schüttelte den Kopf, erhaschte vor dem Verlassen des Quidditchfeldes einen weiteren Blick auf James Potter in der Luft, bevor er die Augen fest aufs Schloss richtete. Lächerlich, sagte er sich. Es war doch lächerlich, dass er auf diesen Typen eifersüchtig sein sollte. Was sollte James Potter schon haben, was Regulus nicht hatte? Er unterdrückte ein Schnauben. Selbst wenn es eine Millionen James Potters geben würde, würde Regulus trotzdem Sirius´ einziger Bruder sein. Das konnte Potter ihm nicht nehmen und schon gar nicht versuchen zu ersetzen.
Beim Frühstück saß er sich demonstrativ mit dem Rücken zum Gryffindortisch, sodass er nicht in Versuchung geraten würde, seinen Bruder oder dessen dämliche Freunde zu sehen. Evan lächelte schmal, als er beobachtete, wie Regulus stur in seine Teetasse starrte, bevor er ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstupste und sagte: „Er ist nicht hier.“
„Wer?“, fragte Regulus.
„Bitte.“ Evan verdrehte die Augen. „Dein Bruder. Du kannst also aufhören so zu tun, als wärst du plötzlich an Wahrsagen interessiert. In dem Ding wirst du ihn auch nicht finden.“ Mit einem Kopfzucken deutete er auf Regs leere Teetasse, in der lediglich ein kleiner Rest Teesatz übrig geblieben war.
Regulus konnte nicht anders, als zu lachen. „Was, glaubst du etwa nicht, dass ich ein Seher sein könnte?“
„Nicht mit der Einstellung“, grinste Evan. „Also, was siehst du denn, oh großer Seher?“
„Klappe“, erwiderte Reg, bevor er die Tasse aus seinen Fingern schob. „Ich weiß nicht, warum es mich so interessiert, wenn ich ehrlich bin.“
„Kann dir auch egal sein“, meinte Barty, der den Mund mit Würstchen und Toast gefüllt hatte. „Du – oh, ups“, murrte er und wischte das Stück Toast vom Tisch, das ihm aus dem Mund gefallen war, bevor er heftig schluckte. „Du bist besser ohne ihn dran, wenn du mich fragst. Ich meine, stell dir mal vor, du hättest auf ihn gehört und wärst jetzt auch in Gryffindor gelandet?“ Barty schüttelte sich übertrieben. „Ein Albtraum, nicht?“
Reg lächelte schmal. „Vielleicht. Kommt ganz drauf an, ob ich dann normale Mitbewohner hätte, die ihre Socken nicht auf mein Bett werfen.“
„Das war einmal“, konterte Barty.
„Einmal zu viel. Weißt du überhaupt, was das für ein traumatisches Erlebnis für mich war?“
„Du hast sie nicht mal wegnehmen müssen, das war Evan.“
„Ja und niemand redet darüber, wie es mir damit ergangen ist“, fügte dieser an. „Ich habe mir bestimmt zehn Minuten lang die Hände gewaschen.“
„Ihr könnt mich beide mal. Aber ehrlich mal, Reg, nicht mal du kannst sagen, dass es eine gute Entscheidung war, mit eurem Namen nicht nach Slytherin zu kommen.“
Regulus zuckte mit der Schulter. „Jeder Black war in Slytherin“, meinte er. „Außer Sirius.“
„Dann weiß ich nicht, warum du dich noch so lange damit aufhängst“, sagte Barty, der sich erneut Toast in den Mund schob. „So wie ich das sehe und so, wie ich euch Reinblüter verstehe, wird dein Bruder sicherlich nicht lange der Erbe bleiben.“
Seufzend bettete Regulus sein Kinn in eine Hand. „Das befürchte ich auch“, murmelte er, wofür er immerhin eine symphytischen Blick von Evan erntete. „Meine Mutter hat jetzt schon angefangen, mir Pläne für die Sommerferien zu machen. Ich soll die ganzen Familiennamen und Mitglieder auswendig lernen, anfangen, die innerfamiliären Verbindungen zu verstehen und darüber hinaus will sie auch, dass ich Magie direkt von ihr lerne. Sie traut Hogwarts nicht, mich nicht zu verweichlichen“, wiederholte er die Worte seiner Mutter, als sie ihn nach Weihnachten wieder zur Schule geschickt hatte.
„Ich würde liebend gern Magie von deiner Mutter lernen“, erwiderte Barty. „Mein Dad lässt mich nicht einmal in die Nähe von Büchern, in denen auch nur ansatzweise Magie erklärt werden würde, die er nicht für angemessen hält. Wenn es nach ihm ginge, dann würde ich wahrscheinlich nur Expelliarmus kennen und mehr nicht.“
Regulus und Evan tauschten einen raschen Blick; es war keine Seltenheit, dass Barty sich über seinen Vater beschwerte. Bartemius Senior, ein angesehener Zauberer, der im Ministerium arbeitete und sich mittlerweile einen ziemlichen Namen dafür gemacht hatte, dass er alles, was mit dunkler Magie zu tun hatte, verabscheute, war kein Mann, den man leicht ertragen konnte. Dass er es überhaupt zugelassen hatte, dass sein einziger Sohn in Slytherin bleiben konnte, grenzte schon an ein Wunder.
„Oh bitte, guckt nicht so“, meinte Barty augenverdrehend. „Ich benehme mich ja und bin ein guter kleiner Junge, wenn ich zuhause bin.“
„Sicher tust du das.“
„Zumindest meine Mutter glaubt, ich wäre ein perfekter kleiner Engel“, antwortete er.
„Meine Mutter trinkt den ganzen Tag nur Butterbier, damit sie es mit meinem Vater überhaupt aushalten kann“, sagte Evan nonchalant klingend. „Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, wann ich sie das letzte Mal überhaupt in meinem Zimmer gesehen habe.“
„An Weihnachten hat sie sich immerhin gut gehalten“, sagte Regulus. „Ich glaube, sie hat fast den ganzen Abend lang kein Wort gesagt, was wir wohl als Sieg für sie gelten lassen können.“
„Du hättest sie danach sehen sollen“, meinte Evan. „Kaum waren wir zuhause, hat sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und ich hab ihre schrecklichen Platten die ganze Nacht gehört. Dad hat sich geweigert einen Stummzauber über ihre Tür legen“, fügte er erklärend an. „Keine Ahnung, wie lange sie das noch durchhält, ehe sie durchdreht und abhaut, um bei ihrer Schwester zu leben.“
„Darüber wäre Tante Druella bestimmt glücklich“, schnaubte Regulus.
Barty gab ein schnalzendes Geräusch von sich. „Ich vergess immer, wie seltsam eure Familien sind und dass ihr eigentlich verwandt seid.“
„Cousins zweiten Grades, glaub ich“, grinste Evan. „Wobei ich da auch nicht ganz durchblicke. Aber ist ja auch egal, wir waren eigentlich dabei zu bereden, wie wir dich zum perfekten Erben modellieren können.“
Regulus zog die Augenbrauen zusammen. „Ich bin mir sehr sicher, dass wir nicht darüber geredet haben.“
„Na, dann wollten wir es eben. Also, schon Pläne, was du machst, wenn du der alleinige Erbe bist?“
„Ich glaube nicht, dass es so weit kommt.“
„Komm schon“, sagte Barty mit seiner Gabel in der Hand, die er auffordernd in Regulus´ Richtung hielt. „Du glaubst doch wohl nicht, dass deine Eltern einen Gryffindor zum Erben haben wollen.“ Er schüttelte den Kopf, schob sich etwas Bacon in den Mund und sagte: „Ich versteh vielleicht nicht viel von euch komischen Reinblüterfamilien, aber so viel habe ich mitbekommen.“
„Unsinn“, murmelte Regulus leise. Er wusste, dass Barty Recht hatte, aber er wusste auch, dass es die Möglichkeit gab, dass er sich irrte und dass seine Eltern sich irgendwann Sirius´ Willen zumindest ein wenig beugen würden. Zwar glaubte er nicht daran, dass sie ihm alles verzeihen würden, was er getan hatte, aber es gab die Chance, dass es ein paar Änderungen geben könnte. Vielleicht könnte Sirius sich ein wenig zusammenreißen, den Erben spielen und dann, wenn er wirklich Oberhaupt der Familie war, dann könnte er Dinge ändern. Dann könnte er dafür sorgen, dass zukünftige Erben nicht so leiden müssen.
„Wie du meinst, Reg“, sagte Evan. „Aber du solltest dich lieber darauf vorbereiten, dass du irgendwann Einzelkind sein wirst.“