Lily Evans
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Es war bereits einiges an Arbeit, die Klassenräume zu finden, aber der eigentliche Unterricht war mit Nichts zu vergleichen. Lily hatte das Gefühl, als wäre sie in eine falsche Jahrgangsstufe gelaufen. Professor McGonagall, die Lehrerin für Verwandlung, begann ihren Unterricht damit, ihnen in vielen komplizierten Details zu erklären, worum es bei Verwandlung wirklich ging, wie diese Magie funktionierte und wie man sie sicher einsetzte. Danach schrieb sie eine ganze Menge an noch komplizierteren Formeln und Tabellen und Merksätzen an die Tafel, die sie abschreiben sollten. Als alle damit fertig waren, verteilte McGonagall mittels eines Schwenkers ihres Zauberstabes ein Streichholz an jeden Schüler.
„Versuchen Sie sich daran zu erinnern, was ich Ihnen erklärt habe und verwandeln sie das Streichholz in eine Nähnadel“, sagte McGonagall in einer Stimmlage, als würde sie von ihnen erwarten, eine simple Additions-Aufgabe zu lösen.
Lily konzentrierte sich so sehr, dass sie die Augen zusammenpresste. Sie stellte sich eine schmale, silberne Nähnadel vorstellte, wie ihre Mutter sie in ihrem Arbeitszimmer hatte und tippte dann mit dem Zauberstab auf ihr Streichholz, die Beschwörungsformel murmelnd, die McGonagall ihnen beigebracht hatte. Es hatte sich rein gar nichts getan. Lily schielte zu Mary, die neben ihr saß und war erleichtert, dass sich bei ihr auch nichts getan hatte. Marlene war ebenfalls nicht sehr weit gekommen, auch wenn sie Lily mit voller Überzeugung ihr Streichholz zeigte und meinte, es wäre auf jeden Fall schon viel spitzer als zuvor.
„Sehr gut, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall nach ungefähr einen halben Stunde konzentriertem Übens. Sie zeigte der Klasse das Streichholz von James, nur war es kein Streichholz mehr. McGonagall hielt eine spitze silbrige Nadel in der Hand. „Zehn Punkte für Gryffindor.“
James Potter grinste die Professorin an, wobei er zwei Reihen weißer, gerader Zähne präsentierte. Etwas an seinem Blick störte Lily und sie wandte den Kopf herum, damit sie sich wieder auf ihr eigenes Streichholz fokussieren konnte. Sie tippte es ein weiteres Mal mit dem Stab an, presste die Augen zusammen und murmelte die Formel.
„Uhhh“, kam es von Mary. „Sehr gut, Lily!“
Lily öffnete die Augen. Auf ihrem Tisch lag eine silberne Nadel.
„Exzellente Arbeit, Miss Evans.“ Professor McGonagall war neben Lily aufgetaucht und begutachtete ihre Verwandlung. „Eine perfekte, erste Verwandlung. Weitere zehn Punkte für Gryffindor.“
Lily fing James‘ Blick durch den Klassenraum auf und sie wusste nicht, was in sie kam, aber sie reckte das Kinn und lächelte ihn hochmütig an, woraufhin er wieder sein breites Grinsen zeigte. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das machte sie wütend und sie schnaubte lauthals. Sirius Black klopfte James daraufhin auf die Schulter und sagte etwas, dass ihn lachen ließ.
Der Zaubertrankunterricht fand in den Kerkern der Schule statt. Es war dunkler als im Rest des Schloss und auch kälter. Die steinernen Wände gaben den engen Korridoren ein sehr beklemmendes Gefühl und obwohl die Klassenräume genauso groß waren, wie das Verwandlungszimmer, waren die Decken wesentlich niedriger. Ein gutes Dutzend an kleiner, bereits brodelnder Kessel stand an Arbeitstischen verteilt, deren dichter Qualm sich in einer Dunstwolke an der Decke sammelte. In den Regalen, die an den Wänden verteilt ständen, befanden sich Einmachgläser und Fässer voll mit ekligen Dingen, so wie Froschaugen, Rattenlebern oder Schlangenhautschuppen. Obwohl die Atmosphäre im Zaubertränkezimmer düster und kühl und erdrückend war, fühlte Lily sich seltsam wohl zwischen all den kleinen, knisternden Feuern und den seltsamen Zutaten, die in ihren Gläsern lagen, schwammen oder schwebten. Es half außerdem, dass sie den Unterricht zusammen mit den Slytherins hatten und Lily und Severus sich sofort an einen Tisch setzten, damit sie nebeneinander arbeiten konnten.
Professor Slughorn war ein in die Jahre gekommener Mann. Er hatte fast eine Glatze, aber einen sehr prächtigen Schnurrbart, der ihm Ähnlichkeit mit einem Walross verpasste. Sein dicker Bauch war unter seinen feinen Roben zu erkennen und auf seinem Pult am Ende des Klassenzimmers stand eine grellpinke Verpackung mit kandierten Ananasstücken. Zucker klebte an seinem Zauberstab und Slughorn wischte ihn hastig an seinem Umhang ab, bevor der Rest der Klasse eintrudelte. James Potter und Sirius Black nahmen einen Tisch nahe Lily und Severus ein und Mary und Marlene saßen in der vordersten Reihe neben zwei Slytherin-Jungs, die Severus feixende Blicke zuwarfen.
„Beachte die beiden nicht“, murmelte Sev neben ihr und legte seine Pergamentstücke gerade vor sich. „Sie finden sich sehr lustig.“
Lily schoss den Slytherins einen bösen Blick zu, drückte dann aber ihren Rücken durch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrer, als Professor Slughorn mit dröhnender Stimme anfing zu sprechen.
„Willkommen“, sagte er laut, „im ersten Jahr Zaubertränke.“ Er lächelte und sein Schnurrbart vibrierte dabei. „Zaubertränke ist, meiner bescheidenen Meinung nach, einer der schwierigeren Zweige der Magie, eine Kombination aus Geduld, Präzision und einer Prise an Talent ist von Nöten, damit man wunderschöne Tränke mit wahnwitzigen Wirkungen kreiert. Sollte man auch nur eines dieser drei Dinge nicht besitzen, dann werden voraussichtlich sehr viele unschuldige Kessel während dieses Unterrichts schmelzen.“ Slughorn kicherte über sich selbst, bevor er, wie schon zuvor Professor McGonagall, die Namensliste vorlas. Anders als die Verwandlungslehrerin allerdings war Slughorn sehr an den Schülern interessiert, oder besser gesagt an ihren Nachnamen.
Bei einigen von ihnen hielt er inne und erzählte Anekdoten über Familienmitglieder, die er kannte und unterrichtet hatte, bei wieder anderen fragte er, wie denn der Onkel, die Mutter oder gar der Cousin sei und ob es der Person noch gut ginge. Als er Sirius Black nach seiner Cousine Bellatrix befragte, wurde dieser sehr abweisend. James Potter allerdings konnte gar nicht genug von der Aufmerksamkeit bekommen. Beinahe zwanzig Minuten erzählten er und Slughorn sich Geschichten über James‘ Vater und am Ende wusste jeder aus der Klasse, dass Fleamont Potter der Erfinder von Sleakeazys Hair Potions war, einem mehr als erfolgreichen Haarserums, dessen Rechte der ältere Zauberer vor Jahren verkauft hatte, wodurch die Potter-Familie auf einem ganzen Batzen Gold saß.
Auch Remus Lupin und Marlene McKinnon mussten es ertragen, dass Slughorn sie nach Familienmitgliedern ausfragte und als der Professor endlich beim letzten Namen angelangt war, war die erste ihrer Doppelstunde bereits vergangen.
„Das macht gar nichts“, sagte Slughorn auf einem Blick auf eine vergoldete Taschenuhr, die an einer ebenso goldenen Kette an seinem Umhang festgemacht war. „Es ist gerade noch genug Zeit, damit ihr alle euch an eurem ersten Trank probieren könnt. Seite 21 im Lehrbuch und los geht’s!“
Severus neben ihr hatte das Buch schon aufgeschlagen und das Rezept für den Trank komplett durchgelesen, da hatte Lily ihres noch nicht einmal hervorgeholt. Als sie schließlich ebenfalls alle Zutaten für den Vergessenstrank beisammen gesucht hatte, war Severus schon mit einem knisternden Feuer unter seinem Kessel dabei. Er war am weitesten von allen, mit einem immensen Abstand zu Black und Potter, die beide noch nicht einmal ihr Buch aufgeschlagen hatten. Sirius schaute mit einem gelangweilten Blick im Klassenzimmer umher, während sein Kumpel neben ihm die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte und dümmlich vor sich hin grinste. Wahrscheinlich erwartete Potter Bestnoten, nur weil Slughorn sein Zaubertränke-Genie von einem Vater kannte, dachte Lily säuerlich, während sie Mistelzweigbeeren in ihrem Mörser pulverisierte.
Als Lily so weit war, ihre zwei Tropfen Lethe-Flusswasser in ihren Kessel zu geben, war Severus bereits mit seinem Trank fertig. Über einer heruntergebrannten Flamme brodelte der durchsichtige Zaubertrank wie Wasser und der Junge hatte sich zufrieden zurückgelehnt. Lily fand, dass sein Trank ein wenig milchig aussah, aber erwähnte es nicht.
Zehn Minuten später hatte sie einen fast identischen Trank vorzuweisen, allerdings hatte sie sich in ihrem Zaubertränkebuch schlaugelesen, während Severus mit gewinnendem Blick die anderen Tränke begutachtet hatte. Lily hatte ein paar zerhackte Blätter Baldrian in ihren Trank gemischt, etwas, das nicht im Rezept gestanden hatte, da sie eigentlich nur die Zweige der Pflanze nutzen sollten, aber die Wirkung war sofort eingetreten. Statt der leicht zu erkennenden milchigen Färbung war ihr Trank perfekt durchsichtig. Etwas, dass nicht nur sie bemerkte.
„Ein perfekter Trank beim ersten Versuch!“, dröhnte Slughorn ein paar Minuten später, als er an ihrem Kessel zur Begutachtung ankam. „Nein, Miss Evans, ich glaube, ich kann meinen Augen nicht trauen. Wie haben Sie ihren Trank so durchsichtig bekommen?“
Mit vor Scham gerötetem Gesicht erzählte sie von den Baldrianblättern, die sie zerrupft und eingeworfen hatte und erwartete bereits eine Standpredigt von Slughorn, weil sie sich nicht an die genaue Anweisung im Buch gehalten hatte, aber stattdessen strahlte der dickliche Mann sie nur an, als wäre Weihnachten vorverlegt worden.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass sie eine Muggelgeborene sind?“, fragte Slughorn, wohl im Versuch, schmeichelhaft zu sein.
Lily presste die Lippen zusammen. „Sehr sicher, Sir“, erwiderte sie knapp angebunden.
Slughorn eilte zum nächsten Trank und während er die schlampige Arbeit des Schülers kritisierte, beugte sich Severus zu Lily herüber. Mit zischender Stimme sagte er: „Hast es wohl nicht für nötig empfunden, deine Idee mit den Baldrian-Blättern zu teilen, was, Lily?“
Überrascht starrte sie ihren besten Freund an, dessen Gesicht eine fleckige, rote Färbung angenommen hatte. Seine Stirn war verschwitzt und die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Lily zog die Augenbrauen zusammen. „Bist du etwa –“, fing sie an, wurde aber vom Klingeln der Schulglocke unterbrochen.
Mit der Erinnerung daran, eine Zusammenfassung über die korrekte Brauweise des Vergessenstrank zu schreiben, entließ Slughorn seine Klasse und entleerte alle Kessel mit einem Schlenker seines Zauberstabs, sodass das Klassenzimmer wie unberührt wirkte. Im Flur drehte Lily sich wieder zu Severus um, wurde jedoch abermals unterbrochen, als die lauten Stimmen von James Potter und Sirius Black zu ihnen wehten.
„Hast du Schniefelus gesehen?“, fragte Sirius direkt hinter ihnen, die scharfen, dunklen Augenbrauen rabiat verengt. „Hat mit seinen schmierigen Haaren praktisch über seine Buchseiten gewischt, wahrscheinlich kann man jetzt nichts mehr lesen.“
„Das würde ich gerne vergessen. Zu blöd nur, dass sein Vergessenstrank nur `ziemlich gut` war und nicht perfekt wie der von Evans“, erwiderte James. „Hey, Evans, vielleicht kannst du uns den Trank nochmal brauen, dann können wir Schniefelus‘ Existenz vergessen.“
Sirius brüllte vor Lachen auf, genauso wie ein blonder, rundlicher Junge, der in James und Sirius‘ Schatten gelauert hatte. Der Junge mit den Narben schenkte den beiden lediglich ein amüsiertes Grinsen, bevor er sich entschuldigte und den Kerkergang davoneilte. „Ach komm schon, Lupin, ist doch lustig!“, rief Sirius ihm hinterher.
Lily wirbelte herum, ihre Augen Funken sprühend und deutete mit ihrem Finger auf Sirius‘ Gesicht. „Lass Severus in Ruhe!“, schrie sie, sodass ihre Stimme in den Kerkerkorridoren wie ein gespenstischer Chor widerhallte. „Ihr zwei seid solche Idioten, ihr seid ja nur neidisch, dass ich den Trank besser hinbekommen habe, obwohl ich nur von Muggeln abstamme.“
Die Belustigung verschwand sofort aus James‘ Gesicht und mit überraschend ernstem Ton antwortete er ihr: „Es würde mir im Traum nicht einfallen, zu glauben, jemand wäre besser oder schlechter, nur weil er von Muggeln abstammt.“
„Dann verhalte dich auch so“, zischte Lily, packte Severus‘ Handgelenk und zog ihn über seine Proteste hinweg den Gang entlang, von dem sie hoffte, dass er sie zur Eingangshalle führen würde.
Blacks Stimme hallten ihnen nach: „Hoffe du hältst Evans immer dicht bei dir, Schniefelus, dann kann sie dir den schmierigen Hintern retten!“
Lily hielt erst an, als sie mit Severus die Große Halle betrat. Schwer atmend ließ sie sein Handgelenk los und wirbelte zu ihm herum.
Der Junge, der noch auf die Stelle gestarrt hatte, an der Lilys Finger ihn umschlossen hatten, zuckte mit dem Kopf nach oben und sagte: „Du musst mich nicht verteidigen, Lily.“
„Ich weiß“, erwiderte sie atemlos. „Aber du bist mein Freund und ich mag es nicht, wenn man auf meinen Freunden herumhackt.“
Severus nickte. Dann, mit einem tiefen Atemzug, fügte er hinzu: „Tut mir leid, wie ich in den Kerkern reagiert habe. Das hast du echt gut mit dem Trank gemacht.“
Lily lächelte ihn dankbar an.