Mary Macdonald
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Aus einer Muggelfamilie zu kommen, hatte wesentlich mehr Vorteile, als diese hochnäsigen Reinblüter es sich vorstellen konnten. Zum einen hatte Mary Macdonald die schönste Handschrift von all ihren Klassenkameraden; sie hatte jedes Mal gemeckert und gequengelt, wann immer ihre Mutter mit ihr Schreibschrift geübt hatte und mit neun Jahren wäre Mary nie in den Sinn gekommen, dass sie diese Fähigkeit irgendwann mal sinnvoll nutzen könnte. Stundenlanges Üben hatte sich aber ausgezahlt und jetzt konnte sie sogar mit Feder und Pergament so schön schreiben, dass die meisten Lehrer ihr bereits Bonus-Hauspunkte dafür gegeben hatten. Besonders Professor McGonagall genoss es, wenn Mary ihr ihre Aufsätze in der schönsten Handschrift des ganzen Jahrgangs überreichte.
Zum anderen aber - und da war sie sich nicht sicher, ob das eine allgemeine oder persönliche Erfahrung war - hatte sie ein gutes Verständnis was Gefühle betraf. Vielleicht war es die seltsame Erziehung, die Zaubererkinder genossen (mehrmals hatte sie von persönlichen Hauselfen gehört, die die Kinder betreut und aufgezogen hatten), aber Mary war sich fast sicher, Zaubererkinder würden großartige Romanzen nicht erkennen, wenn man sie ihnen vor die Nase Wingardium Leviosa'n würde. Es war eine Schande, wirklich. Zu versessen waren sie mit Regeln, Verwandtschaftsbeziehungen und was auch immer für ein Kult die Heiligen Achtundzwanzig waren, als dass sie ein Auge für Romantik haben könnten.
Umso unverständlicher war es für sie, dass sie wohl die Einzige aus ihrer gesamten Freundesgruppe war, die genauestens erkannt hatte, was dort zwischen James Potter und Lily Evans geschah. Es war die älteste Geschichte überhaupt; Junge und Mädchen sehen sich, Junge benimmt sich wie ein großer Volltrottel in Mädchens Nahe, weil er offensichtlich Gefühle für es hat, während Mädchen die Wahrheit nicht anerkennen würde, wenn sie ihr ins Gesicht schreien würde. Mit Lily befreundet zu sein, sollte eigentlich einfach sein, aber Mary fand sich immer wieder mit Kopfschmerzen, wenn sie ihrer rothaarigen Klassenkameradin wieder einmal zuhören musste, wie sehr sie James doch hasste. Die einzige Person, die freiwillig noch mehr über James Potter sprach, als er selbst, war Lily. Es war der jungen Hexe bisher wohl noch nicht in den Sinn gekommen, seine Existenz einfach zu ignorieren, wenn er sie so sehr aufregte. Stattdessen nutzte sie jede Möglichkeit, die sich ihr bot, um über ihren schwarzhaarigen Nemesis zu wettern, als gäbe es keine anderen Gesprächsthemen, die sie länger als fünf Minuten unterhalten könnten.
Zumal - wie Mary unschuldigerweise dachte - James Potter nicht einmal der interessanteste Junge ihres Jahrgangs war. Sicher, mit den unordentlichen Haaren und der warm-braunen Haut sah er wie ein verwegener Typ aus, vor dem ihre Mutter sie warnen würde, aber er war gar nichts im Vergleich zu seinen Freunden. Mary hielt nicht viel von Reinblütern und ihren seltsamen Familien, aber selbst sie konnte nicht vortäuschen, was für ein dramatisches Leben Sirius Black führte. Er setzte gerne ein toughes Lächeln auf, für das so einige Mädchen schwärmten, aber hinter seiner kühlen Fassade hatte Mary ihn schon mehr als einmal bröckeln sehe, gerade wenn er mit James zusammen war. Sorgenfalten, panisches Augenzucken, Händekneten und Beinzittern lösten dann seine Attitüde ab, mit denen er Hogwarts ein falsches Gesicht zeigte. Mary wusste nicht, was hinter den Türen der Black-Familie passierte, hatte sich nur ein paar Details zusammenreimen können, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es Sirius dort nicht gut ging. Besonders gut zu erkennen war es daran, wie gereizt und sprunghaft er wurde, weil die Weihnachtsferien immer näher rückten. Jeden Morgen verfolgte er die Eulen in der Großen Halle und erst, wenn alle Briefe zugestellt waren, entspannten sich seine Schultern und er aß weiter. Im Gemeinschaftsraum sah man ihn nicht mehr allein; es war, als wären er und James an der Hüfte zusammengewachsen und Mary konnte sich nur vorstellen, was ihrem Mitschüler zuhause blühte.
Es war erst, als sie zusammen mit Marlene, Emmeline und Dorcas in der Großen Halle an ihren Zauberkunsthausaufgaben saß, dass ihr eine grandiose Idee kam. „Wir sollten ein Weihnachtswichteln veranstalten!“
Marlene sah verwirrt auf. „Ein was?“
„Wichteln“, wiederholte Mary. „Das ist eine Art Weihnachtsbrauch. Wir werfen all unsere Namen in einen Topf, jeder darf einmal ziehen und egal wen man zieht, dem muss man dann ein kleines Geschenk machen.“
„Und wann kommen die Wichtel ins Spiel?“, fragte Marlene.
„Das - es gibt keine Wichtel dabei, es heißt nur so. Es ist ein Muggelbrauch, Marlene“, erklärte Dorcas geduldig. „Aber die Idee gefällt mir, sollten wir machen.“
„Nur wir vier?“, fragte Emmeline, die am Ende ihrer Zuckerfeder kaute. Der normale Federkiel lag vergessen neben dem Tintenfass.
„Nee, alle! Also Lily auch, und die Jungs und Benjy“, erwiderte Mary. „Wir können uns trotzdem noch was anderes schenken, aber ich finde besonders jetzt wäre das doch klasse, damit wir wieder alle Freunde sind. Außerdem macht es Spaß.“
„Und was schenkt man so?“ Marlene sah immer noch nicht überzeugt aus, hatte sich zurückgelehnt und die Arme locker verschlungen. „Also, was, wenn ich jetzt Peter ziehe? Was soll ich ihm denn schenken?“
„Nichts Teures oder so“, meinte Dorcas nachdenklich. „Eine Kleinigkeit einfach. Es geht mehr um das Schenken und das Zeit verbringen als die Geschenke selbst. Du kannst auch etwas basteln, wenn du nichts kaufen magst.“
„Hm.“ Marlene nickte langsam. „Okay, ich glaube, ich hab’s verstanden.“ Sie legte den Federkiel beiseite und fügte an: „Wenn ich James ziehe, kann ich auch einfach eine Dungbombe nach ihm werfen?“
„Meinst du nicht diese Ehre sollte Lily zuteilwerden?“, erwiderte Emmeline grinsend.
„Lily hatte ihren Spaß schon, jetzt bin ich dran.“
„Ich dachte du und Potter versteht euch gut?“, fragte Dorcas nachdenklich. Sie hatte eine dicke Locke um ihren Finger gewickelt und rieb sie immer wieder zwischen zwei Fingerspitzen hin und her.
„Das schon“, sagte Marlene. „Aber es wäre witzig. Außerdem bin ich mir sicher, dass er sowas auch machen würde.“
Dorcas seufzte. „Und ich dachte, du wärst eine verantwortungsbewusste junge Frau.“
„Das wird nicht die einzige Enttäuschung in deinem Leben bleiben.“
„Damit werde ich mich wohl abfinden müssen.“ Das Mädchen grinste schalkhaft. „Oder ich helfe dir dabei und werfe auch was auf ihn.“
Mary schüttelte den Kopf. „Meine schöne, unschuldige Idee wird hier mit Füßen getreten.“
„Wohl eher mit Dungbomben beworfen“, sagte Emmeline, die geistesabwesend mit ihrer Zuckerfeder auf ihrem Pergament kratze und dabei kleine Zuckerkristalle umherschleuderte. Ein paar davon hatten sich bereits in ihren Haaren verfangen, aber das hatte die Ravenclaw gar nicht mitbekommen. „Keine Sorge, ich geh sicher, dass keiner von denen auch nur in die Nähe eines Scherzartikels kommt.“
Die anderen von ihrer Idee zu überzeugen war einfacher als gedacht. Lily war sofort dabei, als Mary sie gefragt hatte, aber selbst die Jungs waren Feuer und Flamme für die ganze Wichtel-Sache, nachdem Remus ihnen erklärt hatte, was das war. Sirius und James waren zwar immer noch davon überzeugt, dass die ganze Sache wesentlich mehr Spaß machen würde, wenn sie ein paar echte Wichtel importieren würden, aber ein böser Blick von Lily hatte ausgereicht, damit sie endgültig ruhig waren. Niemand, James und Sirius voran, hatte den Plappertrank vergessen und noch jetzt musste Mary manchmal lachen, wenn sie daran dachte, was die Jungs auf dem Weg zu Madam Pomfrey gesagt hatten. Sie würde sicher gehen, diese goldenen Erinnerungen niemals zu vergessen, sei es nur, damit sie die Jungs damit erpressen könnte.
Nach einiger Überzeugungsarbeit für Benjy („Ihr wisst doch, dass ich für sowas kein Geld hab, ich -“, wollte er protestieren, aber Emmeline hatte ihm nur eine Hand auf den Mund gelegt, dabei seine Brille verschoben und geantwortet: „Dann bastelst du deinem Wichtel eine schöne Karte und steckst all dein Herzblut rein, ja? Du machst mit und wirst Spaß haben und das ist mein letztes Wort.“) hatten Mary und Lily den Zetteltopf vorbereitet. Da Mary mit Abstand die beste Schrift hatte, hatte sie die Pergamentfetzen mit ihren Namen beschrieben und dann in Lilys Ersatzkessel geworfen („Ein Ersatzkessel, Lily, ernsthaft?“, fragte Mary.), bevor sie sich alle in der Bibliothek versammelt hatten. Madam Pince, die Bibliothekarin wollte sie erst nicht mit einem Kessel reinlassen, aber Lily konnte sie überreden, ihr zu vertrauen, dass sie keinen Unfug anstellen würden.
„Ich will anfangen“, sagte James, der nicht ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte.
„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte Lily kühl und zog den Kessel aus seiner Reichweite. „Wenn jemand anfängt, dann Mary, es war immerhin ihre Idee.“
James zog für einige Momente einen Schmollmund, dann grinste er. „Na, stimmt, was wäre ich denn auch für ein Gentleman, wenn ich einer Lady den Vortritt nehme?“
„Einer, dem ich es zutrauen würde“, schnaubte die rothaarige Hexe. „Mary?“
Mary würde es nicht zugeben, aber sie genoss es sehr, wie sie jeder erwartungsvoll ansah, als wäre sie eine wunderschöne Schauspielerin, die gerade den roten Teppich entlang ging. Daran könnte sie sich auf jeden Fall gewöhnen; die Aufmerksamkeit, weil man sie bewunderte, beneidete, vielleicht sogar in ihren Schuhen stecken wollte... es war so viel besser, als von idiotischen Reinblütern angeglotzt oder beleidigt zu werden. Mary hatte aufgehört zu zählen, wie oft man sie bereits mit dem S-Wort beschimpft hatte, von Leuten, mit denen sie nie ein Wort gewechselt hatte.
Mary reckte das Kinn ein wenig an, griff mit der linken aufgeregt zitternden Hand in den Kessel, wühlte ein wenig in den Pergamentfetzen herum und fischte schließlich einen heraus.
„Und niemand luschert, klar?“, sagte Lily mit scharfer Stimme und James' Stuhl rutschte zurück. „Wehe ihr erzählt euch untereinander, wen ihr gezogen habt.“ Mary musste Lilys Augen nicht sehen, um zu wissen, dass sie James und seine Bande anfunkelte.
„Du bist 'ne richtige Spaßbremse, Evans“, murrte Sirius, der die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte und leicht auf seinem Stuhl kippelte. Seine dunklen Haare fielen wie Theatervorhänge um sein schlankes, blasses Gesicht.
„Du kannst auch wieder gehen, wenn es dir hier nicht gefällt, Black“, erwiderte Lily.
„Okay, jetzt hören wir alle auf zu streiten und haben uns wieder lieb, ja? Das hier soll uns näher zusammenführen und nicht darin enden, dass Lily euch alle verhext“, sagte Dorcas mit etwas lauterer Stimme, senkte sie aber sofort wieder. „Wir sind alle Freunde, kapiert? Niemand geht irgendwo hin, bevor wir nicht verdammt viel Spaß hatten.“
„Sie kann echt gruselig sein“, murmelte Benjy Fenwick, der noch kleiner als sonst aussah. Ein Bügel seiner drahtigen Brille war mit Klebeband umwickelt, als hätte er vergessen, dass er sie mit seinem Zauberstab reparieren könnte. Mary machte sich eine gedankliche Notiz, ihn nachher darauf hinzuweisen.
„Ich kann noch gruseliger sein, wenn's sein muss“, sagte Dorcas grinsend und Benjy sank in sich zusammen. Sie lachte, ehe sie wieder zu Mary blickte.
Diese sah endlich auf ihre Finger, drückte den Pergamentfetzen auseinander, achtete darauf, dass keiner einen heimlichen Blick riskierte, bevor sie den Namen James Potter in ihrer eigenen Handschrift sah. Das war nicht allzu schlimm, fand sie. Sie hätte zwar eine ihrer Freundinnen bevorzugt, aber immerhin hatte sie damit Lily erspart, seinen Namen zu ziehen. Für James ein Geschenk zu finden, würde auch nicht schwierig werden - ein paar Scherzartikel oder ein Spielzeugbesen würden den bebrillten Jungen schon glücklich machen.
„Okay, wer als nächstes?“, fragte sie, nachdem sie den Pergamentfetzen in ihrem Umhang verschwinden ließ. Jetzt, da sie gezogen hatte, war sie auch nicht mehr so aufgeregt - der eigentliche Teil des Spiels war für sie vorbei. „Peter, warum ziehst du nicht?“
Peter zuckte auf. „Ich? Klar, warum nicht.“ Er griff in den Kessel und fischte wie Mary zuvor einen Fetzen Pergament hervor. Damit Sirius nicht spicken konnte, lehnte Peter sich weit in seinem Stuhl zurück, linste auf den Fetzen und zerdrückte ihn dann schnell zwischen seinen Fingern. „Gib's auf, Sirius“, sagte er grinsend, als der andere Junge schnaubend die Arme verschränkte.
Mary konnte Peter gut leiden; von seinen Freunden hatte er zwar nicht das stärkste Rückgrat, aber er war lustig und gut in Zauberschach und lieh ihr seine Aufzeichnungen, wenn sie in Verwandlung wieder geträumt hatte. „Dann zieh du doch gleich als nächstes, Sirius, dann kannst du aufhören zu schmollen.“
„Oh, du darfst ihm nicht nachgeben“, erwiderte Remus, „sonst nutzt er das aus.“ Er war blasser als sonst. Schwarze Ringe fielen in seine Wangen, sodass seine hellbraunen Augen einige Schattierungen dunkler aussahen, wodurch er noch müder wirkte als sonst. Würde Mary nicht wissen, dass ihr Mitschüler immer mal wieder etwas kränklich war, dann würde sie fast schon vermuten, er fiele jeden Moment bewusstlos vom Stuhl.
„Das ist eine unfaire Lüge und das weißt du auch“, beschwerte sich Sirius.
„Ach und wie war das letztes Jahr, als du meinen guten Willen ausgenutzt und jeden Geschichts-Aufsatz von mir abgeschrieben hast?“
„Das ist, weil ich in Binns' Klasse nicht wach bleiben kann! Es ist ein schwerwiegendes Problem.“
„Wenn jemand sie nicht unterbricht, dann kann das den ganzen Tag so weitergehen“, murrte Peter mit einem Ausdruck im Gesicht, der klar machte, dass er die beiden sehr oft so ertragen musste.
Trotz der bibliothekischen Ruheverordnung klatschte Dorcas einmal schallend in die Hände, sodass sich mehrere Schüler, darunter ein paar genervt wirkende Sechstklässler, zu ihnen umdrehten. Die kurze Störung hatte nicht nur die Aufmerksamkeit anderer Schüler auf sie gezogen, sondern auch Sirius und Remus ruhig gestellt, wobei letzterer wesentlich peinlich berührter drein sah.
„Da wir das geklärt hätten“, sagte Dorcas mit einem durchtriebenen Lächeln, „da sind noch ein paar Zettel zum Ziehen übrig.“
„Genau, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, fügte Mary an, bevor sie den Kessel in Sirius' Richtung schob.
Ohne viel Federlesen zog Sirius einen Pergamentfetzen heraus, stopfte ihn in seinen Umhang und drückte den Kessel dann weiter zu James. Dieser tat das Gleiche und gab den Kessel dann an Dorcas weiter.
„Hey, warum denn nicht gleich so?“, fragte sie glücklich klingend, bevor sie ebenfalls zog.