James Potter
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Obwohl es in der Bibliothek von Hogwarts ungefähr zweihunderttausend verschiedene Bücher gab – die genaue Zahl kannte James nicht, aber er hatte sehr enthusiastisch geschätzt – stand in keinem einzigen auch nur ein Hinweis auf die Schritte für die Verwandlung in einen Animagus. Jedes Mal, wenn er, Sirius oder Peter ein Buch entdeckten, das tiefer in die Materie ging, war das Ende doch immer gleich; aufgeschriebene Schritte gab es nicht und aus vagen Hinweisen und Anspielungen konnten die drei Gryffindors sich keinen Reim machen. Bisher hatten sie ihre Erkenntnis so gut es ging vor Remus geheim gehalten – solange sie keinen konkreten Plan hatten, wie sie überhaupt bis zum gewünschten Endprodukt gelangen würden, sah James keinen Sinn darin, Remus unnötig Hoffnungen zu machen.
Zumal, wie Peter sie daran erinnert hatte, sie etwas höchst Illegales vorhatten und James sich ziemlich sicher war, dass Remus nicht unbedingt Freudensprünge machen würde, sobald er davon hören würde. Nein, Remus musste noch nichts davon wissen. Sie würden ihm davon erzählen, wenn sie so weit waren, alles durchzuziehen und am besten würden sie es ihm auch erst dann erzählen, wenn es bereits zu spät war, um mit der ganzen Aktion aufzuhören. Aber damit es irgendwann auch so weit sein würde, mussten sie überhaupt erst einmal herausfinden, wie diese ganze Verwandlung zu einem Animagus vonstattenging.
„Hoffentlich müssen wir keinen komplizierten Trank brauen“, sagte Sirius. „Ich habe in noch keiner einzigen Stunde bei Slughorn aufgepasst und habe auch nicht vor, das zu ändern.“
Vor dem Fenster des Gemeinschaftsraumes fielen dicke Regentropfen zu Boden. Der kurze Schneeschauer, der die gesamte Länderei eingenommen und alles in ein weiches, weißes Kissen verwandelt hatte, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Oktoberregen goss unnachgiebig auf die matschigen Felder und der Kräuterkunde-Unterricht fiel ein weiteres Mal aus. Professor Sprout, die die gesamten letzten Tage damit beschäftigt gewesen war, ihre Pflanzen vor der plötzlichen Kälte zu retten, musste nun Lecks in den Dächern stopfen und überwässerte Pflanztöpfe ausleeren. Niemand beschwerte sich großartig darüber; bei solch einem Wetter hatten nicht einmal die enthusiastischsten Kräuterkunde-Fans großartig Lust in den Gewächshäusern kneifende Zangblütler umzutopfen.
Der nächste Vollmond stand bevor. Dieses Mal musste Remus sich keine scheinheilige Geschichte einfallen lassen, wieso es ihm Tage davor miserabel ging und seine Laune mit jeder Stunde immer weiter in den Keller sank. Jetzt, da sie wussten, was wirklich jeden Monat mit Remus passierte, nahmen sie die Hinweise viel besser war; das Buch, aus dem James seine Erkenntnis über Remus hatte, lag noch immer aufgeschlagen auf seinem Nachttisch und jeden Abend blätterte er ein paar Seiten weiter, nur um dann wieder zurück zu Werwölfen zu finden und sich ein weiteres Mal durchzulesen, was einer seiner besten Freunde jeden Monat über sich ergehen lassen musste.
„Es ist nicht so schlimm, wie du es dir ausmalst, James“, versuchte Remus ihn zu beruhigen, aber seine Worte hatten kaum Wirkung, wenn man die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn betrachtete und die angespannten Muskeln in seinem Kiefer bemerkte.
„Damit brauchst du gar nicht erst anfangen, Lupin“, sagte James. „Wenn du nicht willst, dass wir dich heute schon zu Pomfrey schieben, dann legst du dich jetzt brav wieder zurück ins Bett und isst deine Suppe auf.“
„Ich mag überhaupt keine Suppe“, beschwerte sich der blasse Junge.
„Ja, naja, das hättest du ja sagen können, bevor ich diese Schüssel mit meinem eigenen zwei Händen von der Großen Halle aus hierhergetragen habe“, erwiderte Sirius von seinem eigenen Bett aus. „Ich finde, du könntest zumindest so tun, als würdest du sie gerne essen.“
Remus verdrehte die Augen, tat aber dann, wie James und Sirius ihm befohlen hatten. Er legte sich zurück auf seine Decke, nahm einen Löffel der Pilzsuppe, die Sirius ihm gebracht hatte und griff dann nach seinem Verwandlungslehrbuch. „Wenn ihr mich schon hier oben haltet, dann helft mir wenigstens bei diesem Aufsatz für McGonagall.“
„Über Animagi und Tier-Verwandlungen?“, fragte Sirius. „Kannst meinen Abschreiben“, meinte er lässig, schwang seinen Zauberstab und ließ eine Pergamentrollte zu Remus fliegen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Remus die Pergamentrollte in seinen Händen. „Wieso hast du schon einen Aufsatz fertig? Der ist doch erst am Montag fällig.“
Sirius zuckte mit den Achseln, aber fing für den Bruchteil einer Sekunde James‘ Blick auf. „Hatte Zeit und nichts Besseres zu tun“, sagte er schließlich.
„Wunder geschehen eben doch noch“, erwiderte Remus, auch wenn er noch immer skeptisch zwischen Sirius und dem Aufsatz hin und herblickte.
Minuten der Stille vergingen und endlich ging die Schlafsaaltür auf. Peter kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck herein und ließ seine leere Tasche auf den Boden fallen. „Alles erledigt“, sagte er grinsend.
„Fantastisch.“
„Was ist erledigt?“, fragte Remus.
„Nur ein paar Dungbomben“, meinte James mit einer wegwerfenden Handbewegung; er durfte nicht zulassen, dass Remus ihnen zu sehr auf die Schliche kam. Es würde schon schwierig genug werden, die Verwandlung in einen Animagus durchzuziehen, ohne dass er etwas davon mitbekam, aber wenn sie nicht aufpassten, dann würde Remus bereits erkennen, was sie vorhatten, bevor sie überhaupt damit angefangen hatten. „Ein wenig leichte Streichmagie, du weißt schon. In Vorbereitung auf Halloween.“
Remus nickte langsam. „Genau. Halloween. Wofür wir immernoch keinen richtigen Plan haben.“
„Ah, rede nicht so herabwürdigend meinen Ideen gegenüber, Lupin“, sagte Sirius. „Ich hab euch ja gesagt, ich werde den perfekten Plan ausklügeln, damit dieses Jahr nichts schief gehen wird.“
„Du meinst, damit du es nicht verhaust“, grunzte Peter, der sich auf sein Bett geworfen und eine Packung Bertie Botts Bohnen geöffnet hatte.
Sirius überging den Kommentar. „Außerdem haben wir noch über eine Woche Zeit. Das ist mehr als genug, damit ich meine ganzen Ideen ausreifen kann.“
„Wenn du das sagst“, schnaubte Remus.
Peter warf James einen warnenden Blick zu und dieser sprang auf.
„Was hast du denn?“
„Ah – mir fällt gerade ein, ich habe meinen Lieblingsfederkiel in der Bibliothek vergessen!“, rief James aus. Aus dem Augenwinkel konnte er Sirius sehen, der sich lautlos eine Hand gegen die Stirn schlug. „Du weißt ja, wie Madam Pince ist, wenn es darum geht, Dinge liegenzulassen. Wenn ich morgen erst gehe, dann hat sie den Federkiel verbrannt weil er ihr verdächtig vorkam.“
„Die Bibliothek macht gleich zu“, sagte Remus mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Das schaffst du nicht mehr.“
„Sag niemals nie, Lupin“, grinste James. „Bin gleich zurück.“ Ohne einen Blick zurück sprintete James aus dem Schlafsaal. Damit war Phase Zwei eingeleitet – Phase Eins war damit beendet worden, dass Peter genügend Dungbomben in der Bibliothek platziert hatte, damit man einen ausgewachsenen Riesen damit umhauen könnte. James eilte an den Schülern im Gemeinschaftsraum vorbei, raus aus dem Potraitloch („He, die Sperrstunde geht gleich los!“, rief ihm die Fette Dame hinterher.) und immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Sein stundenlanges Quidditchtraining zahlte sich endlich aus, dachte er genügsam, als er kaum außer Atem im vierten Stock ankam.
Dem Geruch nach zu urteilen, hatte Peter nicht untertrieben – obwohl ein ganzer Korridor ihn und die Bibliothek trennte, konnte er bereits das grandiose Werk der explodierten Dungbomben riechen. James presste sich seinen Umhang über Mund und Nase und lief weiter. Er konnte die keifende Stimme von Madam Pince vernehmen, die lauthals über den Gestank meckerte und konnte sogar das Gackern von Peeves dem Poltergeist vernehmen, der irgendwie in der Wand hockte. James duckte sich, als er die Bibliothek betrat. Mondlicht schien durch die weitaufgerissenen Fenster herein und gab den hölzernen Regalen und Tischen einen weißen Glanz.
Madam Pince konnte er nirgends sehen, lediglich hören. Sie schien aufgeregt durch die Regalreihen zu eilen. James drückte sich vorsichtig an die Wand und wartete in einer vom Schatten befallenen Ecke, bis er die Bibliothekarin immer näher kommen hörte. Der Gestank der Dungbomben, der so stark war, dass die Luft einen leichten, grünen Schimmer bekommen hatte, brannte in seinen Augen und ließ Tränen seine Wangen hinabrinnen. Er blieb mucksmäuschenstill und bewegungslos in seiner dunklen Ecke, hielt die Luft an und –
„– habe Filch schon hundert Mal gesagt, er soll mehr darauf achten, was diese Kinder mit sich herumschleppen“, ertönte das leise Gemurmel von Madam Pince, die mit schnellen Schritten an James‘ Versteck vorbeirauschte. „Es reicht mir. Wenn Dumbledore nichts dagegen unternimmt, dann…“ Ihre Stimme verklang weiter und als auch das Echo ihrer verschwindenden Schritte langsam aus dem Korridor verschwand, erlaubte James sich Luft zu holen.
Er wusste, er hatte nur wenige Minuten, bis Madam Pince wiederkommen würde, deswegen lief er mit flinken Füßen über den hölzernen Boden der Bibliothek, bis er schließlich die freizugänglichen Regale passiert hatte und vor einer abgesperrten Abteilung stand. Ein schmales, schmiedeeisernes Gitter hinderte jeden Schüler daran, sich einfach so in die Verbotene Abteilung zu begeben und lediglich ein einzelnes Tor erlaubte Eintritt.
„Alohomora“, murmelte er mit dem Zauberstab auf das Schloss gerichtet. Ein leises Klicken ertönte und sang von seinem Erfolg. James schlüpfte in die Verbotene Abteilung und zog das Schloss wieder hinter sich. „Lumos.“
Mithilfe des Lichtstrahls, der aus der Spitze seines Stabes drang, orientierte er sich rasch. Der Gestank der Dungbomben hatte auch hier keinen Halt gemacht und jeden Gedanken an frische Luft verpestet. James presste sich seinen Umhang etwas fester auf den Mund und die Nase, bevor er weiterlief. Schmale, dunkle Regale voll mit Büchern reihten sich dicht aneinander. Etliche Titel waren in Sprachen verfasst, die James nicht kannte oder in Schriftzeichen, die er noch nie gesehen hatte. Einige Bücher hatten gar keine Titel und waren lediglich in dickes, schwarzes Leder gewickelt. Die wenigen Titel, die er lesen konnte, versprachen keine Hilfe für sein Problem. Flüche des Mittelalters, Ein Weg in die Dunkle Magie und Blutmagie – Wie man mit der ältesten Magie überhaupt, die besten Ergebnisse erzielt.
James erschauderte, als er die meisten dieser Bücher sah. Wieso waren Werke voll mit dunkler Magie überhaupt in der Bibliothek Hogwarts vertreten, fragte er sich. Stammten sie vielleicht noch aus einer Zeit, in der Schwarze Magie an Hogwarts nicht nur gefürchtet sondern auch gelehrt wurde? Und wenn ja, warum hatte man sie dann nicht aus den Regalen genommen, jetzt da schwarze Magie im ganzen Land verboten war? James versuchte seinen Blick von den Buchrücken zu reißen, die ihn zu sich zu rufen schienen – nein. Es schien nicht nur so! Leises, unheilvolles Flüstern schwebte in der Luft und James brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass es tatsächlich einige der Bücher waren, die redeten.
Er wich zurück. Ekel machte sich in ihm breit. Diese Bücher waren voller dunkler Magie und riefen nach ihm – er musste schnellstmöglich ein Buch über Animagi finden und dann verschwinden, bevor er noch etwas dummes anstellte. Seine Zauberstabhand zuckte und die Formel für den Brandzauber schwebte ihm im Sinn.
„Reiß dich zusammen, Potter“, flüsterte er mit gedämpfter Stimme hinter seinem Umhang hervor, bevor er die flüsternden Bücher hinter sich ließ. Endlich erreichte er ein schmales Regal, dessen Lack fast abblätterte und das mit einer kleinen, silbernen Plakette verziert war. Verwandlungen stand dort in schnörkeliger, kaum lesbarer Schrift, als wäre sie schon ziemlich alt. Rostflecken hatten sich in die Ecken gefressen, aber das Schild hielt stand.
Eine kleine Welle an Euphorie schwappte in ihm auf, als er endlich das richtige Regal entdeckte. Mit dem Finger wischte er über die Buchrücken, in der Hoffnung, dass es eines geben würde, dass einen recht offensichtlichen Titel hätte. Animagus – Eine detaillierte Anleitung für die Verwandlung in ein Tier, sowas bräuchte er. Sicherlich würde es solch ein Buch geben, besonders wenn es schreckliche Fibeln voll mit schwarzer Magie gab, die in einer Schule seiner Meinung nach nichts zu suchen hatten. James las die Buchrücken so schnell er konnte, ließ seine Augen so flink die Reihen und Reihen an Büchern absuchen, sodass er nur noch seinen eigenen Atem im Ohr hatte. Er strich die Regalbretter entlang, zog ab und zu ein Buch hervor, das keinen beschrifteten Rücken hatte, nur um es dann schnell wieder in seinen ursprünglichen Platz zu drücken. Auch hier erklang das leise Flüstern der verbotenen Bücher, die ihn versuchten, in ihren Bann zu locken.