James Potter
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Die Winkelgasse war bespickt mit dutzenden magischen Läden, einer ganzen Menge an erwachsenen Zauberern und Hexen und voll mit Kindern, die sie das erste Mal betraten. Ein schneeweißes, marmornes Gebäude thronte über alle anderen Läden auf, die Zaubererbank Gringotts. In den etlichen Läden tummelten sich Kinder mit ihren Eltern, suchten Bücher, Zaubertrankzutaten und Kessel aus, wurden von Quidditch-Zubehör abgelenkt oder bestaunten die Ratten, Kröten und Katzen in der magischen Menagiere.
Für James Potter war die Winkelgasse schon ein alter Hut. Er hatte die magische Einkaufsstraße zusammen mit seinem Vater sicherlich schon ein paar Dutzend Mal besucht, sei es um sich den neusten Rennbesen anzusehen (heute hatte sich eine schaulustige Menge vor dem Quidditch-Laden versammelt und bestaunte den neuen Kometen) oder um mit ihm Geld von der Bank zu holen und wichtige Geschäfte zu erledigen, damit er danach einen Eisbecher bei Florean Fortescues Eissalon bekommen würde. James hatte sich an den ganzen Geschäften schon fast satt gesehen, trotzdem konnte selbst er nicht verhindern, dass er vor Aufregung auf und ab wippte, als sie vor dem Zauberstabladen stehen blieben. In goldener, abblätternder Farbe stand dort Ollivander geschrieben. Ollivander kannte James bereits, der alte Zauberstabmacher hatte seine Eltern ein paar Mal besucht, wann immer sie Angelegenheiten von ihrer Arbeit mit ihm klären mussten. Noch hatte James keinen eigenen Zauberstab, aber das würde sich heute ändern!
„Gehen wir jetzt endlich rein, ja?“, fragte James zum dritten Mal in fünf Minuten.
„Gleich, Schatz“, antwortete seine Mutter. Euphemia Potter hatte ein herzförmiges und außerordentlich freundliches Gesicht. Ihre einstige Schönheit war mit einigen Falten durchzogen und ihr rabenschwarzes, ordentlich zusammengefasstes Haar wies einige graue Strähnen auf. In ihren hellblauen Augen glänzte es, als wäre sie noch immer eine jugendliche Hexe, die das erste Mal allein unterwegs war.
„Ollivander hat noch einen Kunden“, fügte sein Vater ein weiteres Mal an. Fleamont Potter sah man das Alter deutlicher an als seiner Frau. Seine Haut war blasser als früher und wirkte fast wie feuchtes Pergament. Seine Haare waren zwar noch immer kräftig und dick, aber dafür waren sie fast gänzlich ergraut und auch seine Augen waren nicht mehr so stark wie früher. Eine Lesebrille hing an einer feinen, goldenen Kette um seinen Hals. Trotzdem verwuschelte er mit einer Hand die Haare seines Sohnes neben ihm. „Gedulde dich noch ein wenig, James.“
James tat sein Bestes, um geduldig zu sein, aber er konnte es einfach kaum abwarten, endlich seinen eigenen Zauberstab zu bekommen. Seinen Eltern war er wie aus den Gesichtern geschnitten. Er hatte ihr gleiches, pechschwarzes Haar, dir gleichen großen Ohren und die gleiche Kopfform. Seine Augen, die hinter einer eckigen Brille versteckt waren, waren haselnussbraun und wenn man den Jungen auch nur fünf Minuten kannte, dann wusste man, dass das schelmische Glitzern in ihnen nicht nur von den Sonnenstrahlen kamen. Man konnte den einzigen Sohn der Potter-Familie nicht aus den Augen lassen, andernfalls musste man damit rechnen, dass in einem Nebenzimmer alsbald eine Vase zerbrechen oder eine Stinkbombe hochgehen würde. Streiche spielen und für Chaos sorgen lagen dem Jungen im reinen Blut.
Durch das schmutzige, staubige Schaufenster konnte James nicht viel erkennen. Ein verlassener Tresen und deckenhohe Regale füllten das Geschäft, aber von Ollivander selbst war keine Spur zu sehen. Dafür stand eine korpulente, schwarzhaarige Frau mit aufrechtem Kinn mit dem Rücken zu ihnen, die einen ebenso dunkelhaarigen Jungen an der Hand hielt. Anders als James konnte dieser sich beherrschen und stand still wie eine Statue. Durch den Schmutz am Fenster konnte James keins der Gesichter ausmachen, sodass er nicht wusste, ob er diese Leute vielleicht schon mal getroffen hatte oder nicht. Seine Eltern kannten sehr viele Leute.
„Wir müssen danach noch einmal zu Gringotts“, sagte Fleamont zu Euphemia. „Ein bisschen Taschengeld abheben.“
Euphemia nickte. „Stimmt.“ Sie schielte genau wie ihr Sohn in den Laden. „Weißt du was, warum gehst du nicht schon zur Bank und James und ich warten hier? So wie es aussieht, dauert es noch ein Weilchen.“
„Also gut“, erwiderte Mr. Potter nachdenklich. „Vielleicht mache ich auch noch einen Abstecher im –“
„Kein Nachmittagstrunk für dich“, sagte Euphemia mit Nachdruck in der Stimme und ihr Mann, obwohl er einen guten Kopf größer war, sank zusammen.
„Natürlich nicht, Liebes“, murmelte er. „Also dann.“ Er drückte seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange, wuschelte seinem Sohn durch das ohnehin zerzauste, rabenschwarze Haar und verschwand dann in der Menge auf dem Weg zur Bank.
„Was ist ein Trunk?“, fragte James, kaum dass sein Vater außer Hörweite gewesen war.
„Etwas für Erwachsene, Liebling“, sagte seine Mutter. „Darüber musst du dir noch keine Gedanken machen, erst einmal kümmern wir uns um – ah.“ Euphemia stockte.
James Folgte dem Blick seiner Mutter und erkannte, dass die Frau im Laden sich umgedreht und auf den Weg zur Tür gemacht hatte. Er kannte weder sie noch ihren Sohn. Als die kleine Klingel über der Tür läutete, bemerkte er, wie die Hand seiner Mutter, die zuvor sanft auf seiner Schulter gelegen hatte, sich anspannte und etwas fester in den Stoff seines T-Shirts drückte.
„Ach.“ Die andere Frau hatte das Kinn gereckt, kaum war sie aus dem Laden getreten und blickte Euphemia von oben herab an, obwohl sie dieselbe Größe haben mussten. Ellbogenlanges, nachtschwarzes Haar hing der Frau wie ein dunkler Schleier über den Rücken und in ihr teures Kostüm waren unzählige silberne Stickereien genäht worden, die allesamt Symbole darstellten, die James nicht kannte. Sie hatte ein sehr strenges Gesicht, mit den Lippen zu einer dünnen Linie gezogen und tiefen Furchen im Gesicht, besonders rundum die Augen, die ihr einen sehr aggressiven Blick gaben. Eine Hand hatte sie, ebenso wie Euphemia, an der Schulter ihres Sohnes, allerdings kaum mit derselben Fürsorge und Liebe, wie die Mutter von James es tat. Die andere Frau hatte ihre langen, spitzen Nägel im Stoff des Umhangs vergraben, den der Junge trug, sodass angespannte Falten über seine gesamte Schulter krochen. „Euphemia“, sagte die Frau mit träger Stimme. Es war keine angenehme Stimme.
„Walburga“, nickte Euphemia knapp zurück. „Und das muss dein Sohn sein, nehme ich an.“
„Mein Ältester, ja. Er hat gerade seinen Zauberstab gekauft.“ Während Walburga sprach, bohrten sich ihre Nägel noch ein wenig tiefer in den Umhang ihres Sohns.
James fing den Blick des anderen Jungen auf und obwohl er ihn nicht kannte und sich schon fast denken konnte, dass seine Mutter nicht sehr gut auf die andere Frau namens Walburga zu sprechen war, schenkte er ihm ein aufmunterndes Grinsen, dass der Junge sofort erwiderte. Die scharf geschnittenen Augenbrauen des anderen Jungen zogen sich in die Höhe und seine Augen, die von einer sturmgrauen Färbung waren, blitzten in der Sonne auf, als wolle er mit leicht bissiger Stimme sagen: „Eltern, hab ich Recht?“
„Wie schön“, meinte Euphemia. „James wird seinen jetzt auch bekommen, nicht wahr, James?“
Abgelenkt von dem Grinsen des anderen Jungen, bekam James einen Moment zu spät mit, dass seine Mutter mit ihm gesprochen hatte. Walburga bemerkte es ebenfalls und als die das Grinsen auf seinem Gesicht sah und dann ihrem Sohn in die Augen sah, verhärtete sich ihre Miene noch mehr. Als würde sie den Jungen an der Leine halten, zog sie etwas zu kräftig am Kragen seines Umhangs, um ihn enger zu sich zu holen, bevor sie sagte: „Wir wollen nicht stören. Komm, lass uns deinen Vater finden.“ Ohne ein Wort des Abschieds wandte Walburga sich um und zog ihren Sohn durch die Menschenmenge.
„Der arme Junge“, murmelte Euphemia etwas benebelt, bevor sie rigoros den Kopf schüttelte und ein Lächeln aufsetzte. „Das war Walburga Black“, erklärte sie James. „Eine sehr reiche und sehr mächtige, aber auch wahnsinnig eitle und – ich mag es kaum sagen – boshafte Frau. Du tätest gut daran, dich von ihr und ihren Kindern fernzuhalten. Die Familie Black hat es sich seit Langem zur Aufgabe gemacht, es allen anderen so schwer wie möglich zu machen, sollten sie ihr ein Dorn im Auge sein.“
„Aber“, fing James an und dachte an den anderen Jungen, der aussah, als hätte er liebend gern mit James getauscht.
„Kein Aber, Schatz. Jetzt komm, dein Zauberstab wartet.“ Mrs. Potter schubste ihren Sohn sanft zur Ladentür.
Obwohl James noch an den Blick des anderen Jungen denken musste, fegte er seine Idee für den Moment beiseite, dass er sich auf jeden Fall mit ihm anfreunden sollte, sollten sie sich in Hogwarts treffen und betrat erwartungsvoll und hibbelig den Laden. Die Messingklingel über ihren Köpfen gab erneut einen hellen Ton von sich.
Eine halbe Stunde später umklammerte James mit beinahe ehrfürchtigem Blick eine längliche Schachtel aus schwarzem Material in den Händen. Sein ganz eigener Zauberstab war darin in Samt gebettet – ein Stab aus Mahagoni, sehr elastisch und biegsam, elf Zoll lang. Auch wenn ihm nicht klar war, was all diese Eigenschaften bedeuteten, wusste er, dass das der beste Stab aller Zeiten war. Immerhin war es seiner und seine Mutter hatte den Stab für ihn gekauft, was sollte er sonst sein? Ein breites Grinsen klebte auf seinen Lippen.
„Meine Güte“, murmelte Euphemia kichernd, als sie ihren Sohn durch die verwinkelte Gasse lotste.
Fleamont hatte sie vor dem Geschäft wieder getroffen, einen kleinen Lederbeutel in den Händen, der fröhlich klimperte und nur darauf wartete, ausgegeben zu werden. Jetzt sagte er: „James, mein Junge, du kennst die Regeln, dass du noch keinen Besen mit zur Schule nehmen darfst.“ Der wesentlich kleinere Junge machte ein Schmollgesicht und seine Mutter lachte erneut. „Na, na, wer wird denn da traurig sein?“
„Aber ich wollte doch Quidditch-Kapitän werden!“, sagte James, der seinen Zauberstab nun an die Brust klammerte und fest an sich drückte, als hätte er Angst, die Schachtel könnte jeden Moment davonhüpfen.
„Immer mit der Ruhe, mein Sohn“, erwiderte Fleamont lächelnd, die Fältchen rund um seinen Mund und die Augen traten dabei besonders hervor. „Du wirst schon deine Chance bekommen, keine Sorge, aber für dieses Jahr haben deine Mutter und ich beschlossen, dass wir dir zum Schuljahresstart ein Haustier kaufen. Eine Eule oder eine Katze, du darfst aussuchen.“
„Wirklich, echt? Ich darf ein Tier haben?“, fragte James mit sich überschlagender Stimme. Er stolperte fast, als er ein paar Schritte vor seine Eltern rannte. „Ich will eine Eule! Dann kann ich euch immerzu schreiben, wenn ich will.“
„Eine hervorragende Wahl“, sagte Euphemia, die ebenfalls über den Enthusiasmus ihres Sohnes lächelte. „Und wenn du Heimweh bekommst, kannst du die Eule immer zu uns schicken und ich schreibe dir einen ganz langen Brief.“
James zog eine Grimasse. „Ich werde doch kein Heimweh bekommen“, sagte er bestimmt. „Ich bin schon bald elf!“
„Auf dem besten Weg ein Mann zu werden“, stimmte Fleamont zu.
Euphemia hingegen seufzte. „Aber du wirst immer mein kleines Baby bleiben, James, unser ganz persönliches Wunder.“ Sie strahlte ihren Sohn an. „Aber sehr wohl, wenn du sagst, du wirst kein Heimweh haben, dann glaube ich dir natürlich. Du kannst uns trotzdem jederzeit einen Brief schicken.“
„Das mache ich“, sagte James nickend. „Ich werde euch von all meinen Freunden und Abenteuern erzählen.“
„Darauf freue ich mich schon“, erwiderte Mrs. Potter mit einer unbestimmten Sehnsucht in der Stimme. Es fiel ihr nicht einfach, darüber zu reden, dass ihr einziger Sohn schon bald für mehrere Monate nicht mehr Zuhause sein würde. Sie setzte ein freudiges Lächeln auf, als James das Eulenkaufhaus erreichte und nur darauf wartete, dass seine Eltern endlich mit ihm eintreten würden.