Remus Lupin
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Nach dem Zaubertränkeunterricht ging Remus geradewegs an der Große Halle vorbei. Obwohl ihn der Duft der frisch gebratenen Würstchen und dem dampfenden Kartoffelpüree ziemlich in Versuchung brachte, ignorierte er den Rest seiner Klassenkameraden, die sich noch immer über die letzten Unterrichtsstunden unterhielten und sich mit den Schülern aus den anderen Häusern austauschten. Von Professor McGonagall hatte Remus eine direkte Wegbeschreibung erhalten, wie er nach dem Unterricht direkt zum Krankenflügel gelangen würde. Sich den Weg in Erinnerung rufend, erklomm er die Marmortreppe in der Eingangshalle.
Remus wusste, dass seine Klassenkameraden sich gerade wunderten, wo er war, aber es war nicht in seinem Interesse, ihnen allen direkt auf die Nase zu binden, dass er bereits am ersten Tag in den Krankenflügel musste. Freilich, er war nicht krank und er besuchte die Krankenschwester Hogwarts‘ nicht, weil er einen schmerzenden Zeh hatte. Im Brief, den Professor Dumbledore an ihn und seine Eltern geschickt hatte, hatte der Schulleiter genaustens erklärt, wie er geplant hatte, Remus trotz seiner Kondition nach Hogwarts holen zu können. Die Peitschende Weide – ein mehr als gefährlicher Baum, der jedem die Knochen brechen würde, der sich zu nahe heranwagte – wurde extra wegen Remus auf den Ländereien gepflanzt, genauso wurde extra für ihn ein Tunnel in das eigens erbaute, heruntergekommen aussehende Haus in Hogsmeade angefertigt. Dumbledore hatte es passenderweise als die Heulende Hütte getauft und direkt ein Gerücht im Dort verbreitet, dass eine wütende Meute an Geistern dort ihr Unwesen trieben. Diese Geister gab es natürlich nicht. Das Heulen und Kratzen, das die Dorfbewohner schon bald hören würden, würde von Remus stammen, wenn man ihn in der Vollmondnacht in der Heulenden Hütte einsperren würde, damit er sich in seine Werwolfform verwandeln konnte.
Der Vollmond war nur noch drei Nächte entfernt und Remus konnte seinen Ruf jetzt schon spüren; seine Knochen taten mit jedem Schritt weh, seine Haut fühlte sich an, als wolle sie jeden Moment bersten und er spürte einen unersättlichen Hunger in sich, diesen Drang zu jagen und zu reißen und zu töten. Der Mond übte seine verheißungsvolle Anziehungskraft auf ihn aus, wann immer er voller wurde, aber mittlerweile hatte Remus gut gelernt damit zu leben und seinen animalischen Instinkten nicht nachzugeben. Sein Körper hatte zwar das Verlangen eines Wolfes, aber Remus‘ Geist war stärker. Zumindest solange er nicht verwandelt war. Sobald die Verwandlung in den frühen Abendstunden einsetzen würde, würde Remus sich nicht kontrollieren können. Er würde in diesem Zustand seine Mutter umbringen und könnte sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern. Dieses Szenario war oft genug Inhalt seiner endlosen Albträume als kleiner Junge gewesen, dass er das Bild nie ganz aus seinem Kopf verbannen konnte.
Je näher die Verwandlung außerdem rückte, desto ruheloser wurde Remus. Er konnte nicht mehr schlafen, hatte viel zu viel überschüssige Energie, könnte essen und essen ohne satt zu werden und wurde darüber hinaus auch noch mürrisch. Seine Eltern waren seine Gefühlsausbrüche gewohnt, wann immer der Vollmond sich ankündigte, aber keiner seiner Klassenkameraden wusste überhaupt davon, dass er ein Werwolf war und wenn es nach ihm gehen würde, dann würde es auch nie jemand herausfinden. Dumbledore hatte ihm gesagt, dass die Lehrer und Madam Pomfrey, die Krankenschwester der Schule, Bescheid über seine Lykanthropie wussten und deswegen ein Auge zudrücken würden, wenn er nach einer Verwandlung in ihren Unterrichtsstunden nicht ganz anwesend wäre. Er hatte außerdem die Freistellung des Folgetages bekommen, um sich von der Verwandlung zu erholen, auch wenn es Remus bereits jetzt davor graute, wie er sich seinen Mitbewohnern im Schlafsaal erklären sollte. Selbst wenn er ihnen eine Lüge auftischen würde, irgendwann mussten sie Zweifel bekommen und würden anfangen, Fragen zu stellen. Er hoffte, er würde ihnen lang genug ausweichen können, dass sie sich gar nicht erst für ihn und seinen Verbleib interessierten.
Der Krankenflügel befand sich im ersten Stock des Schlosses. Es war ein langgezogener Saal, abschließbar mit zwei schweren Holztoren, die gerade speerangelweit offen standen und bereits vom Gang einen Blick auf ein gutes Dutzend weißbezogener, schlichter Betten frei gab. Vorhänge waren um jedes Bett angebracht, damit etwaige Patienten ihre Privatsphäre wahren konnten – Remus konnte sich gut vorstellen, dass an dieser Schule eine Menge Unfälle passierte, nachdem das Opfer sich lieber für ein paar Tage vor den Blicken der anderen Schüler verstecken wollte. Eine weitere Tür ging vom Krankenflügel ab in ein Bürozimmer, gefüllt mit einem Massivholzschreibtisch, einem bequem aussehendem Sessel und mehreren Schränken und Regalen voll mit Zaubertränken, Zutaten und anderem Zeug, dass die Schulheilerin brauchen würde.
Ebendiese war gerade damit beschäftigt, leere Phiolen zu säubern, als Remus den Krankenflügel betrat und das Echo seiner Schritte ihn ankündigte. Madam Pomfrey war eine sehr junge Heilerin. Sie sah aus, als hätte sie erst wenige Jahre zuvor ihr Studium an Hogwarts beendet, mit einem jugendlichen Gesicht, hellen, blonden Locken und glänzenden, blauen Augen. Als sie Remus sah, legte sie ihre Arbeit beiseite und kam mit festen, resoluten Schritten auf ihn zu. „Sie müssen Mr. Lupin sein“, sagte sie und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung fast. Madam Pomfrey streckte förmlich die Hand aus und Remus schüttelte sie zaghaft.
„Nur Remus reicht“, murmelte er mit roten Wangen.
Madam Pomfrey schien ihn nicht zu hören. Sie betrachtete mit eingehendem Interesse die Narben auf seiner Haut und ihr Blick bohrte sich in seine Augen. „Verzeihen Sie mir“, sagte sie schnell, „aber es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich einem Menschen mit Lykanthropie begegne. Ist das, wo der Werwolf Sie –“
„Oh, nein“, erwiderte der Junge. Er blickte auf seine Schuhe. „Die sind von mir“, fügte er murmelnd hinzu. Er tippte sich auf seine linke Seite, nahe seiner Hüfte. „Dort wurde ich gebissen.“ Sechs Jahre war es her und doch erinnerte sich Remus an den Tag, als wäre es gerade erst geschehen; ein eingeschlagenes Fenster, ein riesiger Schemen in seinem Kinderzimmer, rote, glühende Augen, die in der Dunkelheit immer näher kamen, schließlich ein solch stechender Schmerz in seinem gesamten Körper, dass der kleine Remus ohnmächtig wurde. An was er sich am besten erinnern konnte, war das viele Blut, das sein Zimmer danach bedeckt hatte. Der Anblick hatte sich in seine Augen gebrannt.
Die Schulkrankenschwester entschuldigte sich ein weiteres Mal für ihr Interesse. „Kommen Sie, setzen Sie sich hin, Mr. Lupin. Minerva – ich meine, Professor McGonagall wird ebenfalls jede Minute eintreffen.“ Madam Pomfrey führte Remus in ihr kleines Bürozimmer und deutete an, dass er sich auf einen der Stühle setzen sollte. „Wo haben Sie die Vollmondnächte zuvor verbracht?“, fragte die Krankenschwester und sah einen Augenblick später so aus, als würde sie sich gerne selbst schlagen. „Tut mir leid, das akademische Interesse –“
„Im Keller meiner Eltern“, unterbrach Remus sie, der sich immer mehr wie ein Ausstellungsstück in einer Freakshow vorkam. Er krallte die Finger in den Sitz. „Mein Dad hat den Keller mit etlichen Schutzzaubern belegt, damit ich nicht entkommen und das ganze Dorf abmetzeln kann.“
Madam Pomfreys harte Miene wurde sanfter. „Das muss schwierig für Sie sein, Mr. Lupin“, sagte sie leise. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Nächte für Sie und Ihren Körper sein müssen. Ich habe mich natürlich ein wenig schlaugelesen, wissen Sie, damit ich genau weiß, wie ich Ihnen am besten helfen kann, aber ich befürchte, dass es nicht gerade viele Aufzeichnungen von Lykanthropie gibt, die sich darum dreht, dem Menschen zu helfen.“ Sie machte einen verärgerten Gesichtsausdruck. „Allein die Strapazen, die Sie jedes Mal bei der Verwandlung durch machen müssen.“ Madam Pomfrey schüttelte kaum merklich den Kopf.
Remus wurde erspart, darauf antworten zu müssen – nicht, dass er überhaupt wüsste, wie er der Krankenschwester erklären sollte, dass er sich mittlerweile daran gewöhnt hatte – als Professor McGonagall den Krankenflügel betrat und mit schnellen Schritten auf das Büro zukam.
„Mr. Lupin, wie schön, Sie haben den Weg gefunden. Poppy, wollen wir dann gleich zur Sache kommen?“, fragte die Lehrerin an die Heilerin gewandt.
„Absolut“, erwiderte Madam Pomfrey eifrig nickend. Sie bot Professor McGonagall ebenfalls einen Stuhl an, dann sagte sie: „Wir wollen nur sicher gehen, dass alles für den nächsten Vollmond in drei Tagen geklärt ist. Sicherlich hat Professor Dumbledore Ihnen erklärt, dass Sie Ihre Verwandlung in der Heulenden Hütte durchführen werden.“
Remus nickte nur. Er fand es verwirrend, so förmlich angesprochen zu werden.
Unbeirrt fuhr die Heilerin fort. „Sie werden nach dem Abendessen zu mir kommen, hier zum Krankenflügel. Ich werde Sie auf die Ländereien begleiten und durch den Tunnel unter der Peitschenden Weide zur Hütte bringen. Professor Dumbledore selbst hat für die Schutzzauber in und um die Hütte gesorgt, es gibt also keinen Grund zur Sorge, dass jemand Sie während der Verwandlung finden könnte.“ Die letzten Teil hatte sie sicherlich angefügt, als sie Remus‘ Gesichtsausdruck gesehen hatte.
Er mochte die Heulende Hütte bisher noch nicht gesehen haben, aber von den Beschreibungen aus dem Brief, den Dumbledore geschrieben hatte, war es nur eine einfache, heruntergekommene Holzhütte, ohne jeglichen natürlichen Schutz gegen die wütenden Kräfte eines Werwolfs. Seine Mutter hatte Remus immer wieder versichert, dass Professor Dumbledore wissen würde, was er sagte und es war die eine Sache, in der sie und sein Vater sich einig gewesen waren; wenn Dumbledore sagte, Remus würde in der Hütte sicher sein, dann wäre er das auch. Das war etwas, dass Remus ebenfalls aufgefallen war. Seit der Brief gekommen war, wurde nur noch davon geredet, wie es für Remus am sichersten sein würde und nicht, wie alle anderen gesichert werden würden. Er wusste nicht warum, aber es gab ihm ein gutes Gefühl in der Magengegend.
„Pomfrey wird zum Tagesanbruch erneut die Hütte betreten und Sie wieder zum Schloss geleiten“, fuhr Professor McGonagall fort, als würde sie vor einer Klasse sprechen. „Dort werden Sie wieder aufgepäppelt und können die Erschöpfung der Verwandlung ausschlafen. Die Lehrer wissen natürlich Bescheid und geben Ihnen, sollte es so weit sein, auch Aufschub für ihre Schularbeiten.“ Mit den Augenbrauen dicht zusammengezogen fügte sie an: „Mir soll allerdings nicht zu Ohren kommen, dass sie ihre Hausaufgaben überhaupt nicht erledigen würden, Mr. Lupin. Ausnahmen werden für Sie gemacht, aber Sie sind weiterhin ein vollkommen normaler Schüler Hogwarts‘.“
„Wenn ich wirklich normal wäre, dann müsste man mich nicht in eine Hütte einsperren“, murmelte Remus, bevor er sich dran hindern konnte. Er biss sich auf die Zunge.
Die erwartete Rüge blieb aus. Stattdessen nahm ein sehr weicher Ausdruck McGonagalls Gesicht ein und Madam Pomfrey sah so aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. „Mr. Lupin“, sagte die Verwandlungslehrerin mit überraschend beruhigender Stimme, „glauben Sie bitte nicht, Sie seien auch nur im geringsten Maße eine Belastung für diese Schule. Professor Dumbledore hat alles in seiner Macht Stehende getan, damit Sie eine akademische Ausbildung abschließen können, genau wie jedes andere Kind in Ihrem Alter. Die Lehrerschaft hat einstimmig zugestimmt, dass Sie ebenfalls die Chance haben sollten, Hogwarts zu besuchen. Lassen Sie Ihre Unterschiede zu anderen Kindern nicht Ihre Sicht darauf verschleiern, dass Sie im Kern doch ein gänzlich normaler Junge sind, Mr. Lupin. Niemand kann sich seine inneren Dämonen aussuchen.“
Madam Pomfrey wischte sich über die Augen. „Sehr schön gesagt, Minerva“, sagte sie.
„Tut mir leid, Professor“, murmelte Remus peinlich berührt. „Ich wollte nicht –“
„Ich verstehe sehr wohl, woher Ihre Gefühle kommen, Mr. Lupin“, sagte Professor McGonagall. „Aber seien Sie versichert, dass jeder hier voll und ganz auf Ihrer Seite steht. Also dann – haben Sie noch Fragen über den Ablauf?“ McGonagall hatte ein Talent dazu, ihre Stimmlage im Bruchteil einer Sekunde von sanft und verständnisvoll zu streng und faktisch zu ändern.
„Was ist mit den anderen Schülern?“, fragte er leise. „Sie werden mein Verschwinden bemerken.“
McGonagall hob die Augenbrauen. „Was Sie in ihrer freien Zeit tun oder wieso Sie eine Nacht lang verschwinden, geht niemanden außer Sie etwas an, Mr. Lupin. Sie sind keinem von ihnen eine Erklärung schuldig.“
„Aber was sage ich ihnen? Meinen Mitschülern, meine ich“, presste er weiter, die Gedanken an Sirius Black und James Potter, die seit der Zugfahrt immer wieder versucht hatten, Remus in ihre Gespräche miteinzubeziehen.
„Was immer richtig für Sie erscheint, Mr. Lupin“, antwortete Madam Pomfrey. „Es liegt nicht an uns, Ihnen vorzuschreiben, was sie Ihren Freunden erzählen wollen, auch wenn Ihre Eltern Sie sicherlich davor gewarnt haben, ihre Kondition nicht frei herauszuposaunen.“
„Menschen mit Lykanthropie sind eine Rarität“, sagte McGonagall. „Und die Gerüchte um solche sind wie zu erwarten dunkel und ängstigend. Sollten Sie sich sicher sein, dass Sie Vertrauen in Ihre Freunde haben, dann können Sie Ihnen die Wahrheit erzählen, aber ansonsten würde ich Ihnen raten, eine Ausrede zu nutzen, die nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkt.“ Ihre Brauen kräuselten sich leicht.
Remus nickte nur. Wie sollte er der Professorin und der Heilerin denn erklären, dass er nicht vorhatte, sich Freunde an der Schule zu suchen? Er war aus einem Grund hier – Bildung. Remus würde sich nicht von Freunden ablenken lassen, die versuchen würden, sein Geheimnis herauszufinden. Das müsste er Sirius und James auch noch irgendwie klar machen. „Danke, Professor. Ich habe keine Fragen mehr.“
McGonagall nickte. „Dann können Sie jetzt zum Mittagessen gehen, Mr. Lupin.“
Ohne einen Blick zurück, oder sich von Madam Pomfrey zu verabschieden, eilte Remus aus dem Krankenflügel, sein Herz raste mit einem drückenden Vorgefühl an den kommenden Vollmond. Er war nicht aufgeregt.
Er hatte Angst.