Lily Evans
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Lily war sich sehr wohl bewusst, dass sie sich unsinnig benahm. Es gab keinen Grund für sie, unfair gegenüber Remus und Peter zu sein, nur weil sie sauer auf Potter und Black war, die sich noch immer nicht dazu erkannt hatten, diejenigen hinter dem Streich an Sev zu sein. Aber sie konnte weder Remus verzeihen, der nach der dritten eher kühlen Absage zum gemeinsamen Lernen aufgegeben hatte, sie zu fragen, noch sich bei Peter für ihr Verhalten entschuldigen, der sie seitdem keines Blickes gewürdigt hatte. Lily wusste genau, dass James Potter und Sirius Black dafür verantwortlich waren, dass ihr bester Freund ein weiteres Mal zur Lachnummer der gesamten Schule geworden war und sie würde weder ihnen noch ihren Freunden, die sie deckten und wahrscheinlich dabei unterstützt hatten, vergeben.
Obwohl Lily für Sev vor einen Fluch springen würde, konnte sie nicht umhin, als zumindest den fiesen Worten Peters Recht zu geben: Es stimmte nun einmal, dass Severus nicht der umgänglichste Junge war, er hatte sich viele Feinde mit seinen Einstellungen gemacht und die meiste Zeit gab er sich nicht sehr viel Mühe, neue Freunde zu finden. Manchmal war sich Lily sicher, dass Sev damit zufrieden war, wenn sie sein einziger Freund auf der ganzen Schule war. Aber daran konnte sie für ihn nichts ändern. Sie konnte ihn nicht zwingen, mit anderen Schülern Dinge zu unternehmen oder sich beim Essen mit ihnen zu unterhalten. Lily wusste, dass Sev es nicht sehr einfach hatte, neue Leute kennenzulernen und lieber bei denen blieb, die er bereits kannte. Da sie in diesem Fall die einzige war, hieß das eben auch, dass Sev ansonsten recht einsam an dieser Schule war.
Wobei – sagte sie sich hoffnungsvoll – wobei er angefangen hatte, mit anderen Jungs aus seinem Jahrgang zu reden. Mulciber und Avery waren in Lilys Buch nicht die nettesten oder allgemein symphytischsten Jungs, mit denen Sev befreundet sein könnte, aber Lily war gewillt, darüber hinwegzusehen, wenn das hieß, dass ihr bester Freund endlich einen weiteren Sozialkreis baute. Es war ermüdend, dass sie immerzu gezwungen war, sich zwischen ihren Freunden zu unterscheiden, da keiner mit dem jeweils anderen etwas zu tun haben wollte – Sev weigerte sich mit Lily zu lernen oder essen oder nur Zeit zu verbringen, wenn Mary oder Marlene dabei waren und andersherum war es nicht anders. Es gab ein seltsames Einverständnis der drei, dass sie sich nicht ausstehen konnten und so einfach es für sie war, nebeneinander zu existieren, ohne je miteinander interagieren zu müssen, so schwieriger war es doch für Lily, die sich immer zwischen zwei Seiten hin und hergerissen sah. Wenn sie etwas mit Mary und Marlene unternehmen wollte, dann würde sie Severus zurücklassen, wenn sie etwas mit Sev machen wollte, dann fühlten sich ihre Mitbewohnerinnen auf die Füße getreten. Deswegen war es für sie nur eine gute Entwicklung, wenn Sev endlich neue Freunde fand, allein schon, um damit den fiesen Worten von Potter und seinen Freunden entgegenzuwirken, die immer wieder betonten, wie freundeslos Sev war.
Lily war natürlich zu Professor McGonagall gegangen und hatte Severus‘ Anklage gegen Potter und seine Bande unterstützt. Sie wusste, die vier hatten etwas damit zu tun gehabt, selbst wenn sie keine Beweise hatte. Diese anhaltende, kindische Fehde ging schon lang genug so, dass Lily Potters Handschrift erkannte, wann immer er sein Zeichen hinterließ. Öffentliche Demütigung und fortgeschrittene Magie? Das schrie alles nur nach James Potter, der es mal wieder nicht lassen konnte, und sein Talent für Magie für solch demütigende Zwecke zu missbrauchen. Von James und Sirius hatte sie nichts anderes erwartet, ehrlich, aber zumindest von Remus hätte sie gedacht, dass er sich gegen die Streiche seiner Mitbewohner auflehnen würde. Sie hatte gedacht, sie und Remus wären Freunde gewesen, aber sicherlich war das nur der letzte Nagel im Sarg gewesen. Remus war um keinen Deut besser als Potter und Black und von Pettigrew wollte sie nicht anfangen. Auch wenn Mary sie aufgrund ihrer verletzenden Worte gegen den vierten Gryffindor ziemlich zur Schnecke gemacht hatte, so war Lily standhaft geblieben. Sie war der Ansicht, dass er nichts weiter als ein feiger Mitläufer war. Er würde nie etwas gegen James, Sirius oder Remus sagen, dafür kroch er viel zu gerne in deren Schatten, so wie er es Sev vorwarf zu tun.
In dem Moment, in dem Peter weinend aus dem Gemeinschaftsraum gerannt war, hatte sie sich zwar ein wenig schlecht gefühlt, aber es hatte nicht genügend in ihr ausgelöst, dass sie sich bei ihm entschuldigen würde. Er war ein Teil von Potters Bande und Potters Bande hatte Sev einmal mehr zum Gespött der Schule gemacht. Es gab keinen Grund, wieso sie ihnen vergeben, noch sich bei Peter entschuldigen sollte, bis die vier nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Professor McGonagall hatte ihnen nicht geglaubt. Die offensichtlichen Alibis der Jungs – gegeben vom fünften Gryffindor-Jungen, Montana Fortescue – hatten der Verwandlungsprofessorin genügt, damit sie sie von ihrer Verdächtigenliste streichen konnte, auch wenn sie gesagt hatte, dass sie Lilys Unmut verstehen konnte. „Die vergangenen Taten von Mr. Potter und seinen Freunden sind zweifellos nicht unbemerkt an mir vorbeigegangen, Miss Evans. Ich weiß sehr wohl um die Feindschaft, die zwischen Mr. Snape und Mr. Potter liegt, aber das heißt nicht, dass ich einen vermeintlich unschuldigen Schüler zur Strafe ziehe. Sie können nicht jedes kleine Missgeschick und jeden Streich auf Mr. Potter schieben, Miss Evans, so sehr sie ihn auch nicht mögen. Es würde sich für mich nicht geziemen, Mr. Potter und seinen Freunden Strafarbeiten und Nachsitzen aufzubrummen, wenn sie doch ein Alibi aufzuweisen haben. Solange Sie nicht beweisen können, dass das Alibi gefälscht und Mr. Fortescue für Mr. Potter gelogen hat, kann ich nichts tun, Miss Evans. Und ich sage es Ihnen nur noch einmal zur Warnung – Wahrheitsserum und Gedächtniszauber sind illegal, sollten Sie nicht die Erlaubnis des Ministeriums oder des Schulleiters bekommen und ich bezweifle sehr, dass Sie diese für einen einfachen Streich erhalten, der keinen bleibenden Schaden verursacht hat“, hatte die Professorin Lily mit auf den Weg gegeben und sie damit nur noch frustrierter zurückgelassen.
Für sie war es klar wie Kloßbrühe – Potter und Black hatten Montana irgendwie dazu überzeugt, für sie zu lügen, damit sie ein Alibi für die Zeit des Streiches hatten, Remus und Peter hatten sich irgendwie in diesen Streich involviert, ohne dass Lily es mitbekommen hatte und sie vier saßen jetzt zusammen und klopften sich gegenseitig für das perfekte Gelingen auf die Schultern. Lily war stinksauer, dass es an dieser Schule keine Gerechtigkeit für Leute wie sie und Sev gab, dafür aber Halunken wie Potter und seine Freunde mit ihren Streichen und Scherzen davonkamen, die, wenn Lily ganz ehrlich war, nie auch nur ein bisschen lustig waren. Sie waren entweder störend – wie dieses elende Fiasko letztes Jahr Halloween – oder demütigend, wie die kürzliche Attacke auf Sev.
„Lily, du rührst zu schnell“, zischte Sev neben ihr über dem dampfenden Kessel. „Pass auf!“
„Hm?“ Gerade rechtzeitig ließ Lily ihren hölzernen Löffel los, mit dem sie in ihrem Zaubertrank gerührt hatte und die giftgrüne Färbung innerhalb ihres Kessels verschwamm wieder langsam in die violette, die sie eigentlich haben wollte. „Oh, danke.“
„Was ist mit dir?“, fragte Severus leise. Sein Trank war einen ganzen Ton dunkler und sah vielmehr aus, wie im Lehrbuch beschrieben. „Du bist doch sonst nicht so neben dir.“
„Oh, es ist nichts“, sagte sie. „Ich muss nur ständig daran denken, wie unfair es ist, dass Potter und seine Freunde nicht bestraft wurden, für was sie dir angetan haben.“
Sevs Gesicht wurde ein wenig dunkler und ein düsterer Glanz trat in seine Augen. „Mach dir darüber keine Gedanken, Lily“, sagte er. „Die bekommen schon, was sie verdienen.“
„Trotzdem!“, presste Lily. Sie warf ein paar Lavendelblüten in ihren Kessel und schneeweißer Dampf schoss an die Decke. „Es ist einfach ungerecht, wie sie dich behandelt haben. Ich verstehe nicht, was sie überhaupt gegen dich haben.“
„Wahrscheinlich sind sie einfach eifersüchtig“, brummte Severus leise, sein Gesicht fast gänzlich hinter der Wolke aus weißem Rauch verdeckt. „Immerhin sind wir die besten in Zaubertränke. Es geht sicher nicht in ihre Erbsenhirne, dass sie nicht in allem die Besten sind.“
Lily biss sich auf die Lippen. „Glaubst du echt?“, fragte sie leise. „Das ist alles?“
„Was soll das heißen?“, erwiderte er mit scharfer Stimme.
„Gar nichts“, sagte Lily schnell. „Ich dachte nur – nicht wichtig.“
„Was? Dachtest du, ich hätte ihnen einen Grund gegeben? Es wäre damit annehmbar gewesen, dass sie mich blamiert hätten?“, zischte Sev giftig. Dunkler Dampf quoll aus seinem Kessel, als er versehentlich mit seinem Zauberstab gegen die Kesselwand drückte. „Mist.“
„Ah, da waren Sie etwas voreilig, Mr. Snape!“, donnerte die laute Stimme Professor Slughorns durch die Kerker. „Aber nicht schlimm, nicht schlimm. Fügen Sie etwas Erdbeerwurzel hinzu, das sollte helfen.“
„Danke, Sir“, presste Sev zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Selbst durch den dichten Dampf, der im gesamten Kerker herrschte, konnte Lily noch die feixenden Gesichter von Potter und Black erkennen, die sich wissentlich angrinsten. Sie warf den beiden einen mehr als giftigen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Trank widmete. „Irgendjemand muss es ihnen heimzahlen“, murmelte sie.
„Ganz deiner Meinung“, sagte Sev dunkel klingend. „Mach dir keine Sorgen, Lily. Karma wird sie schon irgendwann einholen.“
„Solange will ich nicht warten. Es kann nicht sein, dass Potter weiterhin durch die Hallen stolziert, als würde ihm die Schule gehören! Er ist einfach nur ein arroganter Schnösel, der denkt, er wäre besser als alle anderen, weil sein Vater irgendein Haargel erfunden hat. Er ist ein – ein –“
„Ekelpaket? Widerling? Blutsverräter?“, versuchte Severus auszuhelfen, stockte aber schnell.
Lily zog die Augenbrauen zusammen. „Blutsverräter?“, fragte sie. „Sev, ich dachte –“
„Ist mir nur rausgetuscht. Ich hab gehört, wie andere ihn so genannt haben, aber du – du weißt ja, dass mich das nicht interessiert.“
„Okay“, erwiderte sie langsam. „Mich interessiert sein Blutstatus nämlich auch nicht. Er ist ein Widerling, egal ob Reinblut oder nicht. Ich kann ihn nicht ausstehen!“
Dieser Kommentar schien Severus sehr zu gefallen. Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment und etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. „Wenigstens hast du immernoch den gleichen, guten Geschmack, Lily.“
Lily schnaubte belustigt. „Ich habe Augen im Kopf, Sev. Ich lass mich nur nicht davon einlullen, dass er toll auf dem Besen ist oder der Beste in den meisten Schulfächern. Das lenkt mich nicht davon ab, dass er ein arroganter Widerling ist, der lernen muss, andere nicht ständig runterzumachen.“ Und wenn sie es ihm selbst beibringen müsste, fügte sie in Gedanken an.
Professor Slughorn beendete mit lautem Versprechen, dass sie in der nächsten Woche endlich die komplizierteren Tränke anfangen würden, die Stunde und schickte sie zum wohlverdienten Mittagsessen. Lily und Severus ließen sich extra Zeit beim Verlassen des Klassenzimmers, damit sie weit nach Potter und Black die Halle betreten würden – Lily hasste es, wenn sie nach dem Ende einer Stunde gezwungen war, mit ihren unausstehlichen Gryffindor-Mitschülern zu laufen. Ihre langsamen Schritte hallten laut im verzwickten Tunnelsystem der Kerker wider, die Lily mittlerweile lieben gelernt hatte. Sie seufzte. „Alles wäre so viel einfacher, wenn ich einfach auch nach Slytherin gekommen wäre“, sagte sie neben Severus. „Wir hätten dann immer zusammen Unterricht und ich müsste mich nicht ständig mit diesen Idioten rumschlagen. Auch wenn mir wohl Mary und Marlene fehlen würden…“
Severus war blass im Gesicht geworden. „Du würdest gerne in Slytherin sein?“, fragte er.
„Na klar! Es ist doch total nervig, dass wir auf dieselbe Schule gehen, aber kaum Zeit miteinander verbringen können.“ Lily umklammerte ihr Zaubertrankbuch vor der Brust etwas fester. „Aber wahrscheinlich wäre ich keine gute Slytherin gewesen.“
„Was? Natürlich wärst du das!“, sagte Sev schnell und aufgeregt, sodass er sich beinahe verhaspelte. „In Slytherin wärst du ganz groß rausgekommen!“
Lily lächelte schmal. „Das sagst du, aber die meisten deiner Mitschüler finden das nicht. Ich kann ja hören, was über Leute wie mich gesagt wird. Schlamm- „
„Sag das nicht!“, unterbrach Severus sie eilig, seine Augen weit aufgerissen. „Du weißt doch, dass mich das nicht kümmert. Du bist die tollste Hexe, die ich kenne und es ist egal, was die anderen denken. Auch als – auch als Muggelstämmige bist du um Längen besser als ein Großteil der Reinblüter hier, lass sie dir das nicht nehmen.“
Dankbar lachte Lily leise. „Du bist so lieb, Sev, vielen Dank!“
Im schummrigen Kerkerlicht sahen seine dunklen Wangen etwas fahl aus. Er murmelte etwas Unverständliches, dann drückte Sev den Rücken durch. „Ist nur die Wahrheit. Selbst in Zaubertränke bist du fast so gut wie ich“, fügte er grinsend hinzu.
Lily verdrehte lachend die Augen. „Natürlich nur fast, Sev. Niemand ist so gut in Zaubertränke wie du, ich weiß!“ Kichernd verließen sie die Kerker und betraten die Eingangshalle, die wie immer gefüllt mit Schülern aller Häuser und Altersklassen war. Alle wollten zum Mittagessen in der Großen Halle und Lily konnte es niemandem verübeln – ihr Magen knurrte ganz fürchterlich und bei den ganzen köstlichen Düften, die aus den offenen Pforten waberten, lief ihr bereits das Wasser im Mund zusammen. Am meisten freute Lily sich bereits jetzt aufs Dessert, ein leckerer Waldmeisterpudding mit Vanillesauce und vielleicht etwas Sahne zur Dekoration. Sie konnte es fast schon schmecken.