Lily Evans
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Manchmal kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihren besten Freund kennengelernt hatte. Er war wesentlich kleiner als jetzt gewesen und hatte ein viel zu großes Shirt getragen. Lily wusste noch, dass sie damals gedacht hätte, er wäre eines dieser obdachlosen Kinder gewesen, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte. „Du solltest nicht mit denen reden, Lily“, hatte sie gesagt. „Mit solchen Leuten wollen wir uns nicht abgeben.“
Das war immer etwas gewesen, was Lily nicht verstanden hatte – wenn es obdachlose Kinder gab, wieso half man ihnen nicht? Wieso sagte man nur, man sollte nicht mit ihnen reden und sie dann auf der Straße ignorieren?
„Es wird langsam spät“, sagte Petunia, womit sie Lily aus ihren Gedanken riss. „Meinst du Mum lässt uns endlich wieder rein?“
Lily hörte nicht zu. Sie hatte den Schatten einer Bewegung gesehen, dort unter der Wurzeln, aus denen sie einst gesehen hatte, wie Severus geklettert war. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde gewesen, vielleicht hatte sie es sich auch eingebildete, aber Lily runzelte die Stirn und drehte den Kopf zum knorrigen Baum. Sie starrte ein paar Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf, sich sicher, dass sie es sich doch eingebildet hatte.
„Lily?“ Petunia fragte erneut.
„Ja?“
„Sollen wir zurück gehen?“
„Oh. Ja, sicher. Tut mir leid, ich war –“ Sie sah es erneut. Dieses Mal war sie sich einhundertprozentig sicher, dass sie gesehen hatte, wie etwas – oder jemand – zwischen den Wurzeln geraschelt hatte. Über den Wind war es zwar nicht deutlich zu hören, aber Lily wusste, was sie gehört hatte. „Warte mal.“ Sie hatte ihren Zauberstab nicht dabei – in der Muggelwelt, besonders hier in Cokesworth, hatte sie ihn nie dabei, immerhin durfte sie nicht zaubern – aber sie fühlte sich trotzdem mutig genug, auf den Baum zuzugehen.
Ihre Schritte waren langsam genug, damit sie niemanden verschrecken würde. Lily konnte Petunias Stimme hinter sich hören („Lily, was machst du da?“), aber ging nicht darauf ein. Sie ging weiter auf den ihr so bekannten Baum zu, bis sie einige Schritte vor den dichten Wurzeln entfernt stehen blieb.
„Wenn ich ein Feind gewesen wäre, dann wärst du jetzt tot.“
„Severus“, sagte Lily, die erleichtert ausatmete. „Wie lange bist du bitte schon hier?“
„Lang genug.“ Zwischen den Wurzeln tauchte sein dunkler Haarschopf auf und einen Augenblick später schälte Severus sich aus den Schatten, die zwischen den Baum herrschten. Er hatte die langen Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und das gleiche bei seinen Hosenbeinen versucht, auch wenn eines davon bereits wieder heruntergerutscht war. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. „Ich hab gesehen, wie du gezaubert hast.“
„Hab ich nicht“, erwiderte sie erneut. Sie wiederholte, was sie bereits Petunia gesagt hatte.
Severus runzelte die Stirn. „Wirklich?“, fragte er. „Ich wusste nicht, dass das auch noch geht, nachdem man einen Stab hat.“
„Den hab ich gar nicht mit“, sagte Lily.
„Wieso? Was ist, wenn dich jemand angreift?“
„Warum sollte mich bitte jemand angreifen?“
Severus schüttelte den Kopf, kam aber zu keiner Antwort mehr.
Petunia, die offensichtlich nicht mehr länger auf ihre Schwester warten wollte, kam mit strengen, raschen Schritten auf sie zu. Verschwunden war das lockere Lächeln, das ihre Lippen geziert hatte. Zurück war die stoische Petunia, die nicht dabei gesehen werden wollte, wie sie Spaß hatte, die am liebsten langweilige Fernsehshows guckte und sich die Nägel in den Farben lackierte, die in der letzten Teen-Zeitschrift empfohlen wurden. Petunia blieb neben Lily stehen, die Arme fest ineinander verschränkt und sagte: „Wir sollten zurück gehen, Lily.“ Sie sprach Lilys Namen mit fester Härte in der Stimme aus. Dass Severus ebenfalls da war, nahm sie nicht wahr.
„Gleich, Tuni.“
„Jetzt.“ Mit einem überraschend festen Griff, schloss Petunia ihre Finger um Lilys Oberarm.
„Aua, Tuni – das tut weh!“
„Wir gehen jetzt“, zischte Petunia und zerrte Lily ein paar Schritte mit sich.
„Lass sie los“, sagte Severus leise aber bestimmt. „Sie hat gesagt, dass du ihr weh tust.“ Als Petunia ihn weiterhin ignorierte, ging Severus einen Schritt auf die beiden Schwestern zu. „Ich wiederhole mich ungern.“
Petunia schnaubte. „Misch dich nicht ein, du Freak.“
„Tuni!“
„Leute wie du sollten wissen, wo ihr Platz ist“, erwiderte Severus mit kühler Stimme. „Wenn Lily sagt, dass du sie loslassen sollst, dann tust du das gefälligst auch.“
„Was willst du sonst tun, du Freak?“, spuckte Petunia ihm entgegen.
Lily wehrte sich im Griff ihrer Schwester, aber konnte sich nicht lösen, ohne sich nicht selbst die Haut zu zerkratzen. Sie versuchte Severus mit einem Blick mitzuteilen, dass er sich nicht einmischen sollte, dass er aufhören sollte, Petunia anzustacheln, aber es funktionierte nicht.
„Vielleicht ein paar der Flüche ausprobieren, die man uns in der Schule nicht beibringt.“ Seine Stimme hatte etwas lässiges an sich, beinahe schon so, als würde er öfter darüber reden. Locker ging er einen weiteren Schritt auf die beiden zu.
„K-Komm nicht näher!“, sagte Petunia schrill. Ihre Finger krallten sich heftiger in Lilys Arm, aber ihr Griff zitterte. Mit der freien Hand deutete sie auf Severus. „Bleib wo du bist, du Freak! Ich weiß, dass du nicht zaubern darfst, sonst wirft deine freakige Schule dich raus!“
„Wer sagt, dass sie die Regeln nicht geändert haben?“, fragte Severus leise.
„Sev, lass das“, flehte Lily, die es nicht mitansehen wollte, wie ihr bester Freund und ihre Schwester sich anfeindeten. „Bitte, ich geh einfach nach Hause, okay? Wir reden –“
„Haben sie nicht!“, unterbrach Petunia. „Das wüsste ich. Lily hätte es mir gesagt. Sie – diese Freak-Schule duldet es nicht.“
Severus lächelte, woraufhin Lily ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Es sah ihm nicht ähnlich, sich so in etwas hineinzusteigern – sie mochte nicht, dass Severus sich so mit ihrer Schwester stritt. Konnten die beiden sich nicht einfach verstehen? Sie und Tuni verstanden sich doch auch wieder. Dann könnte Severus doch auch versuchen … er könnte versuchen, nett zu Petunia zu sein. Das war nicht so schwierig, dachte sie.
„Auch minderjährige Zauberer dürfen Magie wirken, wenn sie sich in einer bedrohlichen Situation befinden“, sagte Severus, den Blick nicht von Petunias krallenartigen Fingern nehmend. „Und wenn ich ihnen die Stelle an Lilys Arm zeige, dann werden sie schon verstehen, warum ich keine andere Wahl hatte, als dich zu verfluchen.“
„Severus!“, schrie Lily in Protest. „Lass das!“
Er schüttelte so schnell den Kopf, dass seine schwarzen Haare wild hin und her wackelten. „Siehst du denn nicht, wie sie dich behandelt, Lily? Sie ist nur ein –“
„Sei ruhig!“, kreischte Petunia im gleichen Moment wie Lily: „Lass es“, rief.
Für einen Augenblick war es still, die Schwestern atmeten heftig, dann löste Petunia ihren Klammergriff.
„Tuni …“
„Fass mich nicht an!“, schrie Petunia wild, als Lily nach ihrer Bluse greifen wollte. Petunias Gesicht war rot angelaufen und ihre sorgfältig frisierten Haare hatten sich gelöst und lagen wie Stroh auf ihrer Stirn. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrte Lily an, als wäre sie ein Geist. „Dieser Freak hat mich bedroht! Er hat mein Leben bedroht und du – und du –“
„Tuni, er meint es nicht so –“, versuchte Lily sich zu erklären, während sie ihren schmerzenden Arm rieb.
„Ich meine es so“, erwiderte Severus. „Sie hat nicht das Recht, dir weh zu tun, Lily.“
„Halt die Klappe, Severus“, sagte Lily laut und wirbelte zu ihrem besten Freund herum. „Mach nicht alles noch schlimmer!“
Erschrocken starrte er sie an, blasses Gesicht mit dunklen zusammengezogenen Brauen und Augen. Er wischte sich kurz über die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.
„Ihr seid beide Freaks!“ Petunia hatte sich bereits umgewandt und war mehrere Schritte weggelaufen, bevor sie sich wieder umdrehte. Ihr Blick zitterte, als sie Lily anstarrte. „Ich kann nicht fassen, dass du mit so einem Freak abhängst, Lily! Ich habe dir gesagt, der ist gefährlich, aber du hast nicht auf mich gehört! Weißt du nicht mehr, was er getan hat? Weißt du nicht mehr, was hier war?“ Mit einem zitternden Arm deutete sie auf den Baum.
Lily wusste es. Natürlich wusste sie es. Sie hatte wochenlang nicht mit Severus geredet, nachdem er den Ast vom Baum hatte fallen lassen. Er hatte abgestritten, dass er es war (immerhin war der Ast viel zu schwer gewesen, dass er ihn hätte tragen können), aber wenn Lily mit Magie ein Stück weit fliegen konnte, dann konnte er Äste von Bäumen fallen lassen. Er hatte Petunia an der Schulter verletzt und vehement abgestritten, dass er etwas damit zu tun gehabt hatte, obwohl Lily es gesehen hatte. Das hatte sie ihm bis heute nicht verziehen.
„Ich weiß es noch“, sagte sie leise.
„Dann solltest du endlich mal auf mich hören!“, erwiderte Petunia, die einen halben Schritt auf Lily zu kam. „Der ist gemeingefährlich!“
„Tuni, bitte“, versuchte Lily es erneut.
Petunia schüttelte den Kopf. „Nein, Lily! Dieser Freak und diese dämliche Freak-Schule, ich halte das alles nicht aus! Du entscheidest dich immer für ihn und lässt mich links liegen, Lily, das ist unfair!“
„Unfair?“, wiederholte Lily hohl. „Dass ich auf die Schule gehe ist unfair?“
„Du hättest auf unsere Schule gehen sollen. Auf die normale.“
Lily verschränkte die Arme. „Meine Schule ist auch normal“, sagte sie, obwohl sie sehr wohl wusste, dass das an den Haaren herbeigezogen war. Hogwarts war alles aber nicht normal, aber das musste Petunia nicht wissen. „Und ich gehe gerne da hin.“
„Freak“, spuckte Petunia ihr entgegen. „Du und die ganze Bande. Ihr seid Freaks und daran wird sich nichts ändern. Ich hatte gedacht – aber egal. Das ist mir egal. Ich gehe nach Hause. Häng doch mit diesem Freak ab, du wirst ja schon sehen, was du davon hast, Lily. Komm aber nicht heulend zu mir angerannt, wenn er dich verflucht oder – oder was auch immer man euch an dieser Freak-Schule beibringt. Ich werde sicherlich nicht da sein, um dir aus der Patsche zu helfen.“ Mit verwehten Haaren und hochrotem Gesicht drehte Petunia sich um und riss an ihren Haaren. Die kleine Blume, die Lily ihr so vorsichtig ans Ohr gesetzt hatte, fiel zu Boden. Petunia zertrampelte sie auf dem Weg über den Spielplatz.
Lily starrte ihrer Schwester hinterher. „Tuni“, sagte sie so leise, dass Petunia sie unmöglich hören konnte. Ihre Augenwinkel fingen an zu brennen. Gerade, als sie gedacht hatte, sie und Petunia könnten wieder Schwestern so wie früher sein, gerade, als sie sogar zusammen Spaß gehabt hatten, war die Realität eingekehrt. Es gab wohl für sie und Tuni keine Chance mehr. Die Magie würde immer wie eine Mauer zwischen ihnen hängen, unüberwindbar, zu hoch, als dass sie darüber klettern konnte. Lily konnte Petunia nicht mehr hinterherlaufen.
Auch nicht, wenn das alles war, was sie wollte. Ihre Füße steckten im Schlamm und niemand reichte ihr die Hand, um sie herauszuziehen. Lily war allein.
„Lily“, sagte Severus.
„Nein“, erwiderte sie. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich will … ich will nichts hören.“
„Lily, ich – es tut mir leid, ich wollte nicht –“
„Hast du aber!“, schrie sie herumwirbelnd. Sie versuchte die Tränen nicht mehr zurückzuhalten. „Warum konntest du es nicht lassen? Du weißt, dass Petunia keine Magie mag, du weißt, dass sie es nicht mag, wenn man darüber redet!“
„Es ist aber ein Teil von dir!“
„Genauso wie meine Schwester“, schrie sie, woraufhin Severus einen Schritt zurückwich. „Sie ist meine Schwester und sie hasst mich jetzt.“
Sein Blick verhärtete sich. „Dann ist sie dumm.“
Lily öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder.
„Sie ist nur neidisch, weil sie keine Hexe ist und das ist ihr Problem und nicht deins. Du bist eine Hexe und du bist besser, als sie je sein wird.“
„Hör auf“, sagte Lily.
Severus ignorierte sie. „Deine Schwester kann es nicht mitansehen, wie jemand besser ist als sie, aber das ist nicht dein Problem oder dein Fehler, Lily. Sie ist einfach neidisch und arrogant und ein dummer Idiot, so wie dieser Potter –“
Frustriert warf Lily die Hände in die Luft. „Fängst du wieder damit an?“, erwiderte sie lauter als beabsichtigt. „Was hat er dieses Mal getan? Siehst du ihn hier irgendwo? Hat er dich gezwungen, ein Trottel zu sein und Petunia zu bedrohen?“
Blässe kroch über sein Gesicht. „Ich hab sie nicht wirklich bedroht“, murrte er. „Das war doch nur so gesagt.“
Lily biss sich so heftig auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. „Ich will dich nicht mehr sehen, Severus. Im Moment kann ich dich nicht sehen, also bitte. Geh einfach. Bitte. Geh.“ Sie wollte sich umdrehen, aber seine Stimme hielt ihn auf.
„Komm schon, Lily! Ich bin dein Freund!“
„Ein Freund würde verstehen, was er falsch gemacht hat und es nicht erneut tun“, sagte sie leise. Sie war müde. Lily wollte sich hinlegen und erst dann wieder aufstehen, wenn sie wieder nach Hogwarts fahren würde.
Severus schnaubte. „Es ist ja nicht so, als hätte ich sie von hinten gelähmt oder so“, murmelte er. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner übergroßen Jeans, bevor er sich langsam umwandte. „Bis dann.“
Lily fühlte sich, als hätte Severus ihr eine verpasst. Ihr Gesicht brannte. Ihr Magen war eiskalt. Ihr Kopf raste. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie von hinten gelähmt oder so. Er war es gewesen.
Er hatte James in den Kerkern angegriffen.
Lilys Hand schnellte zu ihrer Seite, aber statt ihren Stab aus der Umhangtasche zu ziehen, bekam sie nur die Minzbonbons in ihrer Hosentasche zu fassen. Mit schneller Atmung beobachtete sie, wie ihr bester Freund hinter dem knorrigen Baum verschwand und seine Schritte über das trockene Gras langsam verklangen. Der Wind brachte ihr Haar durcheinander.
Hatte James gelogen? Oder wusste er es wirklich nicht? Sie presste die Lippen fest zusammen. James hatte wirklich versucht, sich zu bessern und mit Severus auszukommen. War das der Dank, den er dafür bekommen hatte? Sie hatte das Gefühl, als würde ihr schlecht werden. Wie sehr hatte sie sich in einem Jungen denn irren können?