Lily Evans
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Den Rest des Weges zum Quidditch-Stadium gingen die Mädchen in gemütlichem Schlendergang. Es gab keine wirkliche Hektik, um endlich da zu sein, denn das Spiele würde nicht in nächster Zeit losgehen, aber es gab auch keinen wirklichen Drang, noch vorher woanders hinzugehen. Sie könnten in den Gemeinschaftsraum zurückkehren, allerdings würde der Weg dahin allein schon den Großteil der Zeit einnehmen, sodass sie kaum Möglichkeit haben würden, sich hinzusetzen, da müssten sie schon wieder los, wenn sie noch Sitzplätze ergattern wollten. In die Bibliothek würden Mary und Marlene an einem Spieltag sowieso nicht freiwillig gehen und keine von ihnen hatte einen Brief, den sie in die Eulerei bringen mussten. Lily hatte ihre neue Eule Pallas erst ein paar Tage zuvor mit einer Antwort an ihre Eltern losgeschickt.
Lily fand es schwierig Aufregung in sich zu finden, wenn sie doch eigentlich gar nichts für Quidditch übrig hatte. Lediglich die Tribünen fand sie irgendwie praktisch, denn sie eigneten sich perfekt als Rückzugsort zum Lernen oder Lesen, wenn es warm genug war und sie nicht im Gemeinschaftsraum mit dutzend anderen Schülern eingequetscht sein wollte oder der Bibliothek mal entfliehen musste. Lily hatte sicherlich auch nie ihr Buch beiseitegelegt um den älteren Jungs beim Training zuzugucken, wenn sie lauthals gelacht hatten. Das wäre lächerlich und etwas, dass sie nur unter Veritaserum jemals zugeben würde.
Die restliche Zeit bis das Spiel begann, füllten die Mädchen damit, sich zu unterhalten, Wetten abzuschließen, welches Team wie viele Punkte machen würde (Lily hielt sich diplomatisch aus dieser Angelegenheit heraus) oder sich von ihren Plänen für die Sommerferien zu erzählen. Nach einer Weile tauchte auch der Rest der Schule auf. Dorcas und Emmeline setzten sich ein paar Reihen vor ihnen, aber nicht ohne ihnen zuzuwinken. Benjy Fenwick verkroch sich auf eine Bank am untersten Ende der Tribüne und sah so aus, als wäre er lieber überall aber nicht hier und die Gryffindor-Jungs minus Potter und Monty setzten sich ebenfalls in ihre Nähe. Lily wollte liebend gern Remus nach seiner Meinung zu dem letzten Test bei Professor Flitwick fragen, doch dieser war so in ein Gespräch mit Sirius vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, wie Peter ihm die Verpackungen seiner Schokofrösche in den Umhangsärmel legte. Kopfschüttelnd wandte sie sich von den Jungs ab.
Minuten später betrat Madam Hooch das Spielfeld. Sie hatte eine Fliegerbrille in den weißen Haaren, doch selbst aus dieser Entfernung meinte Lily, dass sie die stechend gelben Augen der Flug-Lehrerin erkennen konnte. Sie waren unheimlich, fand sie. Madam Hooch hatte einen Besen in der einen Hand und ihren Zauberstab in der anderen, mit der sie eine breite Holzkiste aufs Spielfeld fliegen ließ. Die Kiste kam staubaufwirbelnd auf dem Boden auf und rüttelte einmal, zweimal bedrohlich, ehe sie sich beruhigte.
Madam Hooch ließ einen schrillen Ton aus ihrer Pfeife erklingen und Sekunden später flogen die Teams aus den entgegengesetzten Toren, vierzehn Schüler auf Besen mit scharlachroten oder smaragdgründen Uniformen, die in der Luft einander umkreisten, ehe sie in einer antrainierten Formation mitten in der Luft stehen blieben. Der Jubel der Zuschauer ließ Lily ihre Ohren zuhalten.
Lautes Kreischen, Pfeifen und Rufen erfüllte die Luft – noch ein Grund, wieso sie sich nicht sonderlich wohl bei Quidditch fühlte. Wieso musste es auch so laut sein? Sie nahm vorsichtig die Hände von den Ohren, damit sie sich an die Lautstärke gewöhnen konnte.
„Haut sie weg!“, schrie Marlene in ihre trichterförmig angeordneten Hände neben ihr.
„Gryffindor, Gryffindor!“, erklang ein Fangesang unter ihr, in den selbst Dorcas und Emmeline einstimmten.
„Komm schon, Patrick, ich hab drei Galleonen auf dich gewettet!“, schrie ein älterer Junge irgendwo hinter her, woraufhin lautes Lachen ertönte.
„Die Schlangen sollen sich warm anziehen“, ertönte es unter ihr, „unser Team ist wesentlich besser.“
„Quatsch nicht, Slytherin hat ein starkes Team aufgebaut.“
„Sicher nicht, die haben vielleicht zwei gute Leute, der Rest von denen kann nicht mal richtig herum auf den Besen steigen!“, antwortete ein Dritter.
Das Publikum lachte, schrie und raufte sich untereinander, bis ein weiterer Pfiff die Luft durch schnitt. Madam Hooch trat gegen die Truhe auf dem Boden, woraufhin zwei schwarze Bälle aus ihren Ketten sprangen und in die Luft sausten. Ein kleiner goldener Schimmer folgte ihnen, war aber sofort im Sonnenlicht verschwunden. Die Schiedsrichterin bückte sich und hob den rotbraunen Ball auf, der übrig geblieben war (Lily hatte nie verstanden, wieso alle anderen Bälle verzaubert waren, aber der Quaffel als einziger wie ein normaler Ball behandelt wurde), bevor sie ihn sich unter den Arm klemmte.
„Ich will ein schönes und faires Spiel sehen“, sagte Madam Hooch mit magisch verstärkter Stimme. „Keine Fouls, keine unfairen Spielzüge, verstanden? Also dann – Los!“ Mit enormem Schwung katapultierte sie den Quaffel in die Luft, der beinahe sofort von einem der Slytherin-Jäger geschnappt wurde.
Die Spieler in der Luft verteilten sich auf ihre Plätze, die Hüter nahmen ihre Positionen an den Toren ein und die Sucher verschwanden in die Höhe, während die Jäger umeinander wie Bienen kreisten. Einer der Gryffindor-Treiber schwang seiner Schläger nach einem der kleinen Klatscher und feuerte ihn quer durch die Luft, allerdings ohne wirkliches Ziel, wie es Lily schien.
Allgemein hatte sie keine wirkliche Ahnung, was dort auf dem Feld passierte und ohne die Ansagen vom Kommentator wäre sie wahrscheinlich noch aufgeschmissener gewesen. Die meiste Zeit über war sie glücklich damit, einfach nur zuzugucken, nicht zu wissen, auf welches Tor geschossen werden musste oder wer überhaupt wer war. Es war ein Schwall an Farben in der Luft und viel zu hohe Lautstärke um sie herum, während sie gesamte Schule daran interessiert zu sein schien, sich die Kehlen wund zu schreien. Jubel entbrannte jedes Mal, wenn ein Tor geschossen wurde, gefolgt von Applaus, wenn irgendeiner der Spiele etwas interessantes vorführte. Manchmal gab es kollektives Buhen und Luft anhalten, aber sonst riss nichts die Menge aus ihrem andauernden Jubel. Lily konnte sich einige bessere Dinge vorstellen, die sie an einem Samstagmorgen anstellen konnte, besonders an einem, der so schön und klar wie dieser war.
„Potter im Quaffelbesitz“, schrie der Kommentator in sein magisches Mikrophon, „er täuscht einen brillanten Pass vor, dann ist er schon – oh, das war knapp! Potter weicht dem Klatscher beinahe schon mühelos aus und – ja! Das ist ein weiteres Tor für Gryffindors jüngsten Jäger!“
Lily wollte überhaupt nicht aufpassen, was in der Luft vor sich ging, aber sie hatte keine Wahl gehabt, als der Kommentator angefangen hatte über Potter zu reden, denn Mary hatte ihr beinahe sofort einen Ellbogen in die Seite gestochen. Mit verschränkten Armen beobachtete sie, wie Potter um Haaresbreite einem der schwarzen Klatscher auswicht, sich angeberisch mit seinem Besen in der Luft rollte und dann ein weiteres Tor schoss. Sie war nicht sonderlich beeindruckt, aber das könnte auch daran liegen, dass sie oft genug gesehen hatte, wie Potter sich auf seinem Besen anstellte. Sie verstand nicht viel vom Fliegen, wusste aber immerhin, dass Potter dieses eine Mal nicht einfach nur leere Versprechen gemacht hatte. Zumindest hatte Marlene ihr das gesagt und sie glaubte ihrer Freundin.
„Nicht schlecht, was?“, fragte Mary neben.
„Sicher“, erwiderte Lily achselzuckend. Sie hoffte, einer der Sucher würde endlich den Schnatz fangen, damit sie ihre Notizen holen und sich ans Ufer des Schwarzen Sees setzen konnte. Es wäre sicherlich wahnsinnig entspannend wenn sie mit einer warmen Brise um die Haare lernen könnte.
„Ach Lilylein“, seufzte Marlene. „Manchmal musst du auch ein wenig Spaß haben.“
„Das würde ich“, entgegnete sie, „wenn ich nicht hier sitzen müsste.“
„Irgendwann wirst du uns noch danken“, erwiderte Mary.
Lily schnaubte. „Für was denn?“
„Wirst schon sehen“, flötete Marlene glücklich klingend. Sie grinste, ehe sie in den entbrannten Applaus einstimmte, weil erneut ein Tor für Gryffindor gefallen war.
Je länger das Spiel ging (Lily hatte ihre Armbanduhr vergessen und war sich nicht sicher, wie spät es wirklich war, aber ihres Erachtens nach ging das Spiel schon viel zu lange), desto angriffslustiger wurden einige der Spieler. Lily wollte nicht pauschal über einen Kamm scheren, aber sie war sich sehr sicher, dass ein Großteil des Slytherin-Teams nicht mehr daran interessiert war, fair zu spielen. Immer wieder wurden Klatscher aus Versehen verfehlt, sodass die Schläger stattdessen mit Magengruben oder Oberschenkeln kollidierten, Spieler rasten in andere hinein, um sie daran zu hindern, den Quaffel in die Finger zu bekommen und mehr als einmal wurde der Hüter Monty angegriffen, obwohl Lily an der Reaktion ihrer Klassenkameraden ablesen konnte, dass das wohl ein ziemlich übles Foul war.
Madam Hoochs Pfeife ertönte mittlerweile alle paar Minuten. Immer wieder musste sie einfache Heilzauber auf die Schüler anwenden oder Strafschüsse verteilen. Gryffindor hatte in den letzten zwanzig Minuten sieben Mal getroffen – fünf Mal davon war nur aufgrund der Strafen, die Madam Hooch den Slytherins auferlegt hatte. Es ging sogar so weit, dass einer der Treiber von Slytherin es mit seinem Schläger auf die Gryffindor-Sucherin Danielle abgesehen hatte und sie mehrere Minuten lang verfolgt hatte, bis Madam Hooch es mitbekommen hatte.
„Ist das sowas wie eine rote Karte?“, fragte Lily mit zusammengezogenen Augenbrauen, als Madam Hooch den Treiber mit roten Funken aus ihrem Stab besprühte und dann vom Feld schickte.
„Bitte was?“, erwiderte Marlene verwirrt.
„Das ist – ach, nicht so wichtig.“ Lily machte eine wegwerfende Handbewegung, dann widmete sie sich wieder dem Spiel. Sie hatte in den letzten Minuten gar nicht mitbekommen, wie sie sich immer weiter nach vorne gelehnt hatte, damit sie auch alles mitbekam, was auf dem Feld passierte. Immer wieder stimmte sie in den Applaus mit ein und ließ sich von Mary und Marlene verleiten, lauthals zu jubeln, wann immer einer der Gryffindor-Jäger ein weiteres Tor schoss.
Mittlerweile stand es 200 zu 30 mit Gryffindor in Führung, aber noch keines der Teams hatte Anzeichen darauf gemacht, den goldenen Schnatz gesehen zu haben. Lily war sich nicht sicher, wie man den Schnatz überhaupt finden sollte, bei dem Chaos, das in der Luft vonstattenging, geschweige denn von den glitzernden Sonnenstrahlen, die überall goldene Streifen hinwarfen und es noch schwieriger machten, überhaupt etwas zu erkennen. Ganz allgemein gesehen, fand sie es sowieso eine sehr seltsame Regel, dass das Spiel erst dann endete, wenn der Schnatz gefangen war. Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn es einfach ein Zeitlimit geben würde. Das wäre für alle Beteiligten wesentlich angenehmer, fand sie.
„Oh mein Gott, da!“, rief Mary plötzlich aus und griff nach Lilys Arm. Sie deutete hoch in die Luft, wo der Slytherin-Sucher sich in einen Sturzflug begeben hatte.
„Er muss den Schnatz gesehen haben!“, sagte Marlene aufgeregt.
„Aber sie verlieren, wenn er ihn jetzt fängt“, meinte Lily verwirrt.
„Sie würden sowieso verlieren, aber so könnten sie noch 150 Punkte für die Tabelle besorgen und vielleicht den zweiten Platz sichern“, erklärte Marlene, die beim Reden hibbelig auf und ab hüpfte.
Lily tat nicht einmal so, als würde sie verstehen, warum es für Slytherin jetzt noch bedeutsam sein sollte, den zweiten Platz zu bekommen, sondern verfolgte die Gryffindor-Sucherin, die sich an die Fersen des anderen Suchers gehängt hatte. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das für sehr viele sicherlich nervenaufreibend war, für Lily allerdings nur bedeutete, dass es hoffentlich gleich vorbei war. Auch mit dem Spaß, den sie gehabt hatte, war sie froh, dass sie nicht länger auf der Tribüne zwischen einhundert anderen Schülern eingequetscht sitzen musste.
So wie Marlene gesagt hatte, fing Slytherin den Schnatz nur Augenblicke später und endete das Spiel damit mit 230 zu 180 und dem Sieg für Gryffindor. Die Punkte waren kaum vom Kommentator bekannt gegeben, da hatte bereits ein solch enormer Applaus das Stadion eingenommen, dass Lily sich erneut die Ohren zuhalten musste. Mit etwas geschützten Ohrmuscheln beobachtete sie, wie das Gryffindor-Team sich wie ein Knäuel in der Luft zusammenfand, sich umarmte und auf den Besen hielt, während die Slytherins bereits gelandet waren, mit säuerlichen Ausdrücken auf den Gesichtern. Madam Hooch kam ebenfalls zu den rot gekleideten Spielern geflogen und überreichte Teamkapitän Patrick den goldenen Quidditch-Pokal.
Obwohl es sie eigentlich wirklich nicht interessierte, grinste Lily mit ihren Freundinnen, als sie ihrem Team den gebührenden Applaus schenkte.