Lily Evans
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Am Morgen von Lily Evans´ dreizehnten Geburtstag flatterte unerwartet eine kleine, braune Eule zu ihr, ließ einen leicht knittrigen, dicken Umschlag auf ihr Rührei fallen und setzte sich dann mit großen Augen vor ihren Trinkkelch.
„Was für eine unhöfliche Eule“, sagte Mary, als Lily den Brief mit spitzen Fingern von ihrem Teller zog.
„Von wem ist der?“, fragte Marlene, den Mund voll mit Toast und Bohnen.
Lily inspizierte die kleine Schrift auf dem Umschlag, bevor sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. „Von meinen Eltern! Wahnsinn, sie haben es echt hinbekommen, Eulenpost zu verschicken.“
„Und das auch noch pünktlich“, fügte Mary beeindruckt klingend hinzu. „Meine Geburtstagsglückwünsche kamen fast einen Monat zu spät, weil meine Mum nicht wusste, ob sie die Eule in den Briefkasten stecken musste oder nicht.“
Marlene schnaubte. „Muggel kommen echt auf komische Ideen.“
„Was auch immer“, Mary wedelte ungeduldig mit der Hand herum, „Was schreiben sie?“
„Okay, Moment.“ Lily riss den Umschlag auf, aus dem direkt ein Brief quoll, der einen entfernt vertrauten Geruch mit sich brachte. Das müsste das Rosenparfüm ihrer Mutter sein. Das Papier fühlte sich weich auf ihrer Haut an, als ob ihre Mum wieder extra in die Stadt gefahren wäre, um das teure Briefpapier zu kaufen, von dem ihr Vater sagte, es sei eine reine Geldverschwendung. Lily lächelte, beugte sich näher an Mary und Marlene und las dann den Brief ihrer Eltern mit leiser Stimme vor.
„Liebste Lily. Alles, alles Liebe zu deinem Geburtstag! Wir hoffen, du hast eine schöne Zeit mit deinen Freunden und hast schon eine Menge gelernt. Anbei legen dein Vater und ich dir ein wenig Taschengeld, dann kannst du dir etwas aus dieser Zeitschrift bestellen, die ihr alle lest. Hexenmonat hieß die, oder?“ Lily schnaubte belustigt. „Ich hab ihr schon fünf Mal gesagt, dass es die Hexenwoche ist.“
„Meine Mum weigert sich zu glauben, dass ein Wort wie Quidditch existiert“, sagte Mary grinsend, deutete Lily dann aber an, weiterzulesen.
„Wir wussten nicht, wie wir dir dein Geschenk zukommen lassen sollten, weil die Eule doch sehr klein aussah, deswegen kannst du es auspacken, wenn du in den Sommerferien nach Hause kommst. Trotzdem darfst du aber noch nicht wissen, was es ist. Das bleibt eine Überraschung!“ Lily verdrehte die Augen. Ihre Mutter liebte Überraschungen manchmal ein wenig zu sehr. „Deine Oma Marigold hat gestern angerufen und gefragt, wann du sie mal wieder besuchen fahren kannst und wir wussten nicht, ob sie wissen darf, dass du eine Hexe bist, deswegen haben wir einfach gesagt, du wärst auf ein Internat in den Bergen. War das richtig?“
„Deine Mum ist richtig süß“, meinte Marlene lachend.
„Sie ist toll“, erwiderte Lily stolz. „Vielleicht kann ich in den Ferien ja mal zu euch kommen? Dann kann ich eure Familien kennenlernen.“
„Vielleicht zu mir“, entgegnete Marlene aufgeregt. „Marek soll eigentlich im Juli aus Kenia zurückkommen, dann könntet ihr ihn endlich kennenlernen!“
„Oh, dann durfte er endlich seinen Schreibtischjob verlassen?“, fragte Lily.
Marlene zog eine Grimasse. „Nicht unbedingt“, meinte sie. „Aber er durfte zumindest in die Länder mitreisen, in denen sie Ausgrabungen durchführen, auch wenn er dann da auch nur am Schreibtisch hängt und Dokumente ausfüllt. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch in die Ruinen und Gräber mitkommen darf.“
Mary grunzte. „Hast du uns das letztes Jahr nicht auch schon erzählt?“
„Naja … ich kann auch nur weitergeben, was Marek mir sagt. Um ganz ehrlich zu sein, glaube ich ja, dass es ihm nicht das bringt, was er sich vorgestellt hat. Ich glaube, er sucht schon nach einem anderen Job.“
„Sie sollten vielleicht in die Jobbeschreibung schreiben, dass man die ersten zehn Jahre nichts Spannendes macht, sondern nur Pergamente durch die Gegend schubst. Ha“, meinte Mary grinsend, „als hätte er Hogwarts nie verlassen.“
Marlene wurde rot um die Wangen. „Wie auch immer. Lies weiter, Lily.“
Lily wusste sehr wohl, dass Marlene schnell das Thema wechseln wollte und half ihrer Freundin ausnahmsweise, ansonsten könnte es sehr gut passieren, dass Mary und Marlene sich noch unendlich ankabbeln würden. „Wir hoffen sehr, dass die Eule, die dir den Brief gebracht hat, nicht einfach weggeflogen ist, denn – Überraschung – wir haben sie dir zum Geburtstag gekauft! Was?“ Lily blickte irritiert auf und traf die großen, goldenen Augen des kleinen Vogels, der mit schiefgelegtem Kopf auf dem Tisch saß und mit dem Schnabel klackerte. „Du sollst mir gehören?“, fragte Lily irritiert und die Eule hüpfte etwas näher, als hätte sie sie verstanden.
Lily streckte einen Finger aus und der kleine Vogel knabberte daran. Es zwickte und kitzelte und Lily musste instinktiv grinsen. „Na? Du bist ja ein niedliches Kerlchen.“
„Hast du schon einen Namen?“, fragte Marlene, die mit großen Augen auf das weiche gefiederte Tier blickte, als könnte sie kaum glauben, dass eine Eule in der Großen Halle von Hogwarts sitzen könnte – die einhundert anderen Vögel komplett ignorierend, die gerade zurück zur verzauberten Decke flogen.
„Oh. Richtig – keine Ahnung“, gab Lily ein wenig überfordert zu. Sie entschied sich, den Brief ihrer Eltern weiterzulesen, in der Hoffnung, entweder einen Namen zu finden oder wenigstens mehr Zeit zum Nachdenken zu ergattern. „Es ist so schwierig mit dir im Kontakt zu bleiben, wenn du so weit von Zuhause weg bist und keine normalen Briefe schicken oder einfach mal anrufen kannst – gibt es denn keine Telefonzelle in Hogwarts? Oder zumindest ein Münztelefon beim Schulleiter? Vielleicht sollte er mal über ein paar moderne Neuerungen nachdenken, meinst du nicht?“
Mary schnaubte belustigt. „Ja, klar, als ob die magische Welt irgendwas machen würde, damit es muggelgeborene leichter haben.“
„Jedenfalls haben wir uns beschlossen, dass du diese kleine Eule haben sollst, damit du uns immer schreiben kannst, wenn du möchtest und wir dir dann auch direkt antworten können. Die anderen Vögel sind immer direkt wieder abgehauen und wir hatten Schwierigkeiten, einen Ersatz aufzutreiben. Das sollte das Problem endlich lösen!“ Lily blickte auf, traf die goldenen Augen der Eule und wusste es dann. „Ich glaube, ich werde dich Pallas nennen.“
„Pallas?“, fragte Marlene irritiert klingend. „Was soll das denn für ein Name sein?“
„Ein mythologischer“, war alles, was Lily antwortete. Die goldenen Augen erinnerten sie an die griechische Göttin Athene und wenn sie sich richtig erinnerte, hatte diese den Nebennamen Pallas. Passend, wie sie fand, denn Athenes Markenzeichen war ebenfalls die Eule. Als wäre dieser kleine Vogel für sie bestimmt.
„Es ist süß“, gab Mary zu, die vorsichtig ebenfalls einen Finger ausstreckte, um Pallas´ weiches Gefieder zu streicheln. Die Eule hüpfte auf der Stelle herum, damit sie Mary ansehen konnte, legte den Kopf schief und gab ein leises, kaum wahrzunehmendes Geräusch von sich, wahrscheinlich eine Art Schuhu. Pallas wirkte überglücklich mit all der Aufmerksamkeit, als schließlich auch Marlene damit begann, die samtenen Federn an ihrem Rücken zu streichen. „Steht da noch mehr?“, fragte Mary schließlich, nachdem sie alle die kleine Eule ausgiebig gestreichelt hatten.
„Ja, Moment.“ Lily nahm den Rest des Briefs in Angriff. „Kümmere dich gut um das kleine Ding, gib ihr genug Futter und Wasser und mach auch ihre Ausscheidungen weg, verstanden? Wenn wir erfahren, dass du dich nicht ordentlich sorgst, dann müssen wir sie wieder wegnehmen.“
„Ich glaube, deine Eltern wissen nicht, dass die Hauselfen das übernehmen“, sagte Marlene.
„Meine Eltern wissen auch gar nicht, dass es Hauselfen überhaupt gibt“, erinnerte Lily sie. „Egal. Dein Vater und ich wünschen dir einen wunderbaren Geburtstag und wir hoffen sehr, dass dir unser Geschenk gefällt! Wir werden dir noch einen Reisekäfig hinterherschicken, nachdem wir herausgefunden haben, wie wir so ein großes Paket verschicken sollen. Bis dahin musst du gut auf dein neues Haustier achtgeben, ja? Alles Liebe, Lilylein.“
Marlene kicherte. „Lilylein“, flüsterte sie mit einem diabolischem Glitzern in den Augen.
„Wenn du das auch nur einer Menschenseele erzählst, dann hexe ich dir Haare an die Zähne“, drohte Lily, die sehr wohl wusste, dass Marlene sicher scharf darauf gewesen wäre, diesen peinlichen Spitznamen ihrer Eltern an Idioten wie Potter und Black weiterzugeben.
„Na schön“, murrte sie. „Spielverderberin.“
„Warte, da steht noch was“, sagte Mary, die sich über Lilys Schulter gebeugt hatte. Sie rückte Lilys Hand beiseite, die den Brief festgehalten hatte und enthüllte noch ein paar Zeilen, die so aussahen, als wären sie auf die letzte Minute angeschmiert worden. „Na los, lies vor!“
„Okay, okay!“ Lily warf Mary einen genervten Blick zu, der mit einem Augenrollen beantwortet wurde, ehe sie den letzten Rest des Briefes las. „Hallo Lily. Alles Gute zum Geburtstag. Vielleicht wird es dich interessieren, dass ich als erstes Mädchen aus meiner Klassenstufe jetzt einen festen Freund habe. Sein Name ist Trevor und er hat mich auf ein Date in ein Museum eingeladen. Er ist sehr gebildet und kultiviert. Ich hoffe, du hast einen angenehmen Geburtstag. Ich wollte nichts einer Eule anvertrauen, deswegen habe ich kein Geschenk für dich, aber das stört dich sicherlich nicht. Bis bald. Petunia Evans.“
„Wow.“ Mary lehnte sich zurück, wobei Pallas ihr einen entsetzten Blick zuwarf, weil sie damit nicht mehr in Streichelnähe war.
Die Eule ließ sich das gar nicht gefallen und hüfte prompt auf die andere Seite des Tisches auf Marlenes Hand zu. Mit dem Schnabel pickte sie an ihrem Handrücken.
„Aua“, sagte diese. „Was soll das?“
Pallas starrte sie an.
„Soll ich dich streicheln?“, fragte Marlene.
Ein leiser Schuhu entkam ihr.
Marlene lachte. „Deine Eule ist ganz schön schlau.“ Sie fing an mit dem Finger über Pallas´ Federn zu streichen.
„Hast du überhaupt zugehört?“, fragte Mary mit zusammengezogenen Brauen. „Lilys Schwester hat ihr zum Geburtstag gratuliert. So, wie es aussieht, auch noch freiwillig!“
„Tuni und ich verstehen uns wieder besser“ sagte Lily rasch. „Wir haben an Weihnachten sogar miteinander gelacht.“ Sie erinnerte sich zurück an die Ferien, an das zerstörte Glas mit Orangensaft und Petunia, die in der Küchentür stand und sich entschuldigte. Petunia, die wusste, was das Zauberergefängnis war. „Ich glaube, wir sind wirklich auf dem Weg der Besserung!“ Zumindest hoffte sie das inständig. Es war ihr gänzlich egal, wenn ihre Schwester ihr keine Geschenke machte oder ausschweifende Geburtstagswünsche schickte. Es reichte ihr, wenn sie mit ihr redete, als wäre sie wirklich nur das – eine Schwester, die auf eine andere Schule ging.
„Es klang aber nicht so, als würde Tuni sich sonderlich dafür interessieren, dass es dein Geburtstag war. Sie hat mehr über sich geschrieben“, sagte Mary.
Lily spürte ein unangenehmes Ziehen in ihrer Magengegend. Natürlich war ihr das auch aufgefallen, natürlich hatte sie bemerkt, dass Petunia noch immer nicht darüber redete, was Lily war – eine Hexe – und stattdessen die Taktik gewechselt hatte. „Das ist normal“, erwiderte sie, die Bitterkeit der Lüge brannte auf ihren Lippen. „Petunia macht sich nicht viel aus Geburtstagen.“
„Es sei denn, es ist ihr eigener“, entgegnete Mary mit harter Stimme. „Sie wollte doch, dass die ganze Woche zu ihren Ehren gefeiert wurde.“
„Das war einmal vor drei Jahren“, sagte Lily verteidigend. „Tuni ist erwachsener geworden.“
Mary machte ein Geräusch, dass deutlich zeigte, dass sie Lily nicht glaubte, aber Lily wollte nicht mit ihrer Freundin zanken. Immerhin, so sehr es sie auch schmerzte, es zuzugeben, wusste sie, dass Mary Recht hatte. Sie selbst bezweifelte stark, dass ihre Schwester erwachsen geworden war, wenn der Frieden, den sie sich gerade aufgebaut hatten, nur dadurch angehalten hatte, dass Lilys Abreise kurz bevor gestanden hatte. Was würde Petunia tun und sagen, sobald sie am Ende des Schuljahres wieder nach Hause kehren würde?
Lily faltete den Brief zusammen. Das warme Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, als sie die Geburtstagswünsche ihrer Eltern und ihrer Schwester gelesen hatte, war nun fast verschwunden. Wie jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, dass ihre Schwerster sie für ihre Magie beneidete und – sie mochte es kaum denken – hasste.