Lily Evans
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Es schien immer dann zu passieren, wenn Lily mit Severus am Slytherin-Tisch aß. Um den kindischen, eifersüchtigen Tendenzen ihres besten Freundes etwas entgegenzugehen, hatte Lily sich entschieden, einen weiteren Morgen mit ihm beim Frühstück zu verbringen, damit er bemerkte, dass sie es nicht vergessen und ihn nicht vergrauen wollte. Sie hatte Pallas, die mit den anderen Posteulen in die Große Halle geflogen war, gerade mit einem Stück Toast gefüttert, als ein Raunen durch die Halle ging. Sie blickte auf.
„Was ist los?“, fragte sie an Severus gewandt, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Schüler um sie herum waren mit den Köpfen über Ausgaben des Tagespropheten gesteckt, tuschelten und flüsterten aufgeregt und selbst die anwesenden Lehrer hatten sich dicht über die Zeitung gebeugt und diskutierten die neusten Schlagzeilen.
Lily wurde schlagartig eiskalt. Immer, so schien es, wenn das passierte, dann berichtete der Prophet über einen weiteren Angriff auf Muggel. Die Kuppen ihrer Finger wurden eisig und als sie versuchte, einen Blick auf die Zeitung ihres Sitznachbars zu werfen, zischte dieser auf.
„Komm mir nicht zu nahe“, sagte er.
„Tut mir leid, ich –“, vergeblich wollte sie auf die Zeitung deuten, die neben ihm lag.
Der ältere Junge betrachtete sie mit einer Mischung aus Abneigung und Ekel in den Augen. „Willst wohl wissen, wer´s diesmal war, huh? Willst wissen, ob ein paar deiner Muggelfreunde dranglauben mussten, eh?“ Als er grinste, zeigte er eine Reihe von spitzen Zähnen, die Lily einen Schauer über den Rücken schickten. „Nimm halt.“ Mit der Hand schob er Lily den Tagespropheten hin, bevor er sich abrupt erhob und am Slytherintisch vorbei stolzierte.
Nervosität baute sich in ihr auf, als sie vorsichtig nach dem Propheten griff.
„Lily“, fing Severus ihr gegenüber an, aber sie achtete nicht auf ihn.
Die Schlagzeile brannte sich wie eine Leuchtreklame in ihre Augen, verbannte alles andere aus ihrem Sichtfeld. Lily sah nur noch rot. Nur noch das große Bild eines verbrannten Hauses, um das die Flammen noch immer wie lebendige Kreaturen schlangen, während einige Menschen davor kauerten, weinten oder zitterten. In unschuldigen, großen Buchstaben stand dort geschrieben: Drei Dutzend Tote bei Feuer in Worcester. Auroren beschuldigen schwarze Magie.
In den frühen Morgenstunden wurde die Aurorenzentrale benachrichtig. Ein Feuer sei in einer kleinen Stadt in England ausgebrochen, die Einsatzkräfte der Muggel konnten sie beim besten Willen nicht löschen. Als die Auroren nur wenige Minuten später in Worcester eintrafen, wussten sie sofort, womit sie es zu tun hatten.
Ein Feindfeuer hatte mehrere Muggelwohnhäuser verschlungen und laut den zuständigen Feuerwehrleuten (so nennen sich Muggel, die Feuer löschen) brannte es bereits seit mehreren Stunden. Selbst für die renommierten Auroren unseres Ministeriums war es einiges an Arbeit, das Feindfeuer zu löschen, doch nach etlichen Stunden an Arbeit, war es vollbracht. Zwar gab es bereits mehrere Muggelfamilien zu beklagen, die das Feuer nicht überlebt hatten, allerdings ist es den Auroren zu verdanken, dass nicht die ganze Stadt in Flammen untergegangen ist.
Einer der Auroren hat unserem Reporter des Tagespropheten das zu sagen: „Das war kein Unfall. Feindfeuer ist immens dunkle Magie, man braucht tiefe negative Gefühle, um es überhaupt zu beschwören. Ich fürchte, wir haben es hier mit den gleichen Leuten zu tun, die bereits letztes Jahr Muggel und Muggelgeborenen angegriffen haben.“
Wer genau das Feindfeuer gelegt hat, ist nicht bekannt, das Ministerium hält seine Bürger allerdings an, alles Verdächtige sofort zu melden. Die zuständigen …
Das Papier knisterte unter ihrer Haut. Lilys Finger krallten sich so fest in die Ausgabe des Propheten, dass tiefe Falten über die gesamte Seite zogen. Ihre Hände zitterten.
„Worcester“, sagte sie leise, schmeckte den Namen, um zu überprüfen, dass er wirklich echt war. Dass sie sich nicht nur verlesen hatte. „Worcester“, sagte sie erneut. „Das ist …“
„Nicht weit von uns“, endete Severus leise. „Nicht weit von Cokesworth.“ Er betrachtete Lily mit zusammengezogenen Augenbrauen, Strähnen seiner schwarzen Haare hingen ihm über die dunklen Augen, mit denen er versuchte, ihren Blick aufzufangen. „Lily, deinen Eltern geht es gut.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte sie, ihre Stimme zu laut, zu schrill, zu panisch für ihren Mund. Sie deutete mit einem zuckenden Finger auf den Propheten. „Woher willst du wissen, dass diese – diese Leute nicht einen Abstecher nach Cokesworth gemacht haben, nachdem sie das Feuer gelegt haben? Woher – “, sie stockte, die drückende Realisation dessen, was sie gesagt hatte, in ihrer Kehle.
Es war sehr gut möglich, dass die schwarzen Magier ein Feuer in Worcester gelegt hatten, im Schatten der Nacht ein paar Städte weiter gereist waren und dann Muggel in Cokesworth umgebracht hatten. Das Ministerium würde offensichtlich nur über das große, verheerende Feuer berichten und ein paar mögliche Tote nicht für weiter wichtig halten. Immerhin … immerhin waren es doch nur Muggel, nicht wahr?
„Lily“, versuchte Severus es erneut, aber kaum hatte seine kalte Hand ihre berührt, zuckte sie so heftig zurück, dass sie eine Karaffe mit Kürbissaft umstieß, die mit einem lauten Scheppern vom Tisch fiel und auf den Steinplatten zersprang.
Die orangerote Flüssigkeit breitete sich auf dem Marmor aus. Lily wurde schlecht. Sie sprang auf, wobei sie ihr Geschirr heftig zum Klirren brachte, warf die Zeitung von sich und wollte in Richtung Ausgang laufen, aber Severus hatte ebenso schnell reagiert, wie sie. Seine Finger schlangen sich um ihr Handgelenk.
„Beruhige dich, Lily, niemand hat –“
„Lass mich los!“, kreischte sie, woraufhin die kühle Berührung seiner Haut sofort von ihrer verschwand. Einen Moment lang war sie überrascht von sich selbst, überrascht, dass ihre Stimme so laut werden konnte, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und sprintete über den Stein.
Sie verließ die große Halle, wobei sie vage mitbekam, wie mehrere Leute ihren Namen riefen – oder vielleicht riefen ihr auch Leute hinterher, dass sie schneller laufen sollte, dass sie verschwinden und nicht wiederkommen sollte. Sie war magisch, sie war eine Hexe und doch … und doch fühlte sie sich fehl am Platz, während sie die Treppe in der Eingangshalle hinauflief und schließlich im Korridor im ersten Stock stehen blieb. Gleißendes Sonnenlicht ergoss sich durch eines der Fenster, auf dessen Fensterbank sie sich zurückzog.
In ihrem Kopf wirbelte es, einhundert Gedanken versuchten als erstes gedacht zu werden, sodass Lily die Augen schließen und ihre Handballen darüber legen musste. Es schrie in ihr. Alles schrie in ihr, dass sie nicht wusste, ob ihre Eltern tot waren. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter noch Leben war und gerade die letzten Teller in die Spüle stellte, sie wusste nicht, ob ihre Schwester am Leben und in der Schule war, wo sie sich mit ihren Freundinnen über den letzten Tratsch unterhielt. War ihr Vater bei der Arbeit und genoss den ersten Sonnenschein des neuen Jahres oder lag er kalt und leblos am Boden, Spuren von schwarzer Magie auf seiner Haut.
Ihr Magen rebellierte. Ein wässriges, heißes Gefühl breitete sich in ihrem Mund aus und einen Moment später übergab sie sich zur Seite weg. Sie würgte und es platschte und Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Oh Merlin“, murmelte jemand. „Kein Problem, Lily, alles ist okay.“
Die Stimme konnte sie vage Alice Fortescue, der Vertrauensschülerin zuordnen, aber Lily hatte weder die Kraft noch die Willensstärke ihre Augen zu öffnen. Stattdessen drückte sie sich noch mehr zur Kugel zusammen. Aggressive Schluchzen durchzuckten ihren Körper, während Tränen ihre Wangen benetzten. Lily weinte so heftig, dass sie kaum Atem bekam. Sie wollte zu ihrer Mutter.
Sie wollte einfach nur zu ihrer Mutter.
„Shh“, hörte sie die beruhigende Stimme von Alice an ihrer Seite. „Alles gut, Lily, alles gut.“ Vorsichtig berührte eine warme Hand sie am Rücken und, als sie nicht zurück- oder zusammenzuckte, fing an, langsame Kreise auf ihrer Haut zu malen. „Evanesco.“
Lily wusste nicht, was Alice für einen Zauberspruch benutzt hatte, aber er hatte nicht geholfen, damit sie sich besser fühlte. Wozu war Magie überhaupt gut, wenn sie nur für böse Zwecke genutzt wurde und nicht einmal ihre schlechten Gefühle verbannen konnte? Lily unterdrückte ein Schluchzen. Waren ihre Eltern noch am Leben?
„Hier, nimm das.“ Alice sprach beruhigend und langsam mit ihr, sodass Lily die Augen öffnete.
Ein Taschentuch steckte zwischen Alice´ schmalen Fingern.
„Nimm schon“, sagte sie geduldig.
Lily griff zu. „D-D-Danke“, murmelte sie, wandte den Blick ab, als sie Alice´ besorgte Augen bemerkte.
„Kein Problem.“ Sie wartete, bis Lily sich die Augen und die Nase gesäubert hatte, dann fragte sie: „Ist es wegen des Artikels im Propheten?“
Sie hatte kaum die Kraft zu reden, deswegen nickte sie nur. Als sie versuchte den Mund zu öffnen, entkam ihr lediglich ein kläglicher Laut, der zu sehr nach einem Schluchzer klang, als dass sie es ein weiteres Mal versuchte.
Alice nickte verstehend. Ihre Hand malte weiterhin Kreise auf Lilys Rücken. „Weißt du, ich bin in einer Muggelkleinstadt aufgewachsen, zusammen mit meinen Eltern und Großeltern. Wir haben in einem riesigen Haus gewohnt und bevor ich nach Hogwarts gekommen bin, konnte ich ständig Freunde aus der Schule mitbringen. Mum hat uns dann Kekse gebackten und wir durften den ganzen Tag im Garten spielen. Meine Oma hat den besten Nudelauflauf gemacht, den es auf der Welt gibt und sie hat immer so viel gemacht, dass alle meine Freunde zweite Portionen bekommen haben. Wenn man es so will, bin ich eigentlich als Muggel aufgewachsen.“ Sie lachte kurz auf. „Natürlich ist das kein wirklicher Vergleich, aber so habe ich mich manchmal gefühlt. Meine Familie hat zwar Magie benutzt, aber sie haben so viele Sachen auf dem Muggelweg erledigt, dass es manchmal ganz schön verwirrend war. Du glaubst nicht, wie komisch es ist, mit deiner Schulfreundin zu telefonieren, während dein Dad neben dir mit einem Zauberspruch die Topfpflanzen dazu bringt, sich selbst Wasser zu holen.“
Lily wollte wirklich darüber lachen, aber ihr Magen fühlte sich an, als würde ein Zentaur mit seinen Hufen darauf herumtrampeln. Sie gab ein Geräusch von sich, das sie selbst nicht ganz bestimmen konnte.
Alice hingehen lächelte. „Ja, ich weiß“, erwiderte die Vertrauensschülerin. „Es ist unsinnig, ich weiß, aber manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl gelaufen wäre, wenn ich keine Magie gehabt hätte.“ Auf Lily überraschten Blick hin zuckte sie mit den Schultern. „Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich liebe Magie und ich vermute mal, du siehst das genauso“, sie wartete nicht, bis Lily nickte, „aber so viele Probleme wie Magie auch löst, allein die Existenz erschafft doch nur neue, nicht wahr? Als Muggel hätte ich wahrscheinlich genauso viele Probleme, aber … ich weiß nicht. Magie fühlt sich manchmal an, als würde es mir mehr Sorge bereiten, als dass es sie beseitigt, verstehst du?“ Alice lächelte erneut, bevor sie die Augenbrauen näher zusammenzog. „Erzähl das aber nicht Frank, okay? Er redet ständig davon, wie ungeduldig er darauf ist, seinen eigenen Kindern die Magie beizubringen, das will ich ihm nicht kaputt machen.“
„Versprochen“, meinte Lily leise, überrascht, dass sie es überhaupt geschafft hatte, zu reden. Ihre Stimme klang ein wenig rau, als hätte sie ein paar Stunden lang nichts gesagt, aber dennoch klang sie noch nach ihr. Auch nach allem, was passiert war, war Lily immer noch sie selbst. „Manchmal weiß ich nicht, ob es nicht ein Fehler war, herzukommen“, gab sie nach einer Pause zu. „Nach Hogwarts, meine ich.“
„Ich weiß, was du meinst, Lily, und lass mich dir direkt eines sagen: Hogwarts ist genauso für dich da, wie es für die Reinblüter und ihre seltsamen Familien da ist. Ich meine, wenn wir es mal ganz direkt betrachten, dann gibt es mehr Halbblüter und Muggelgeborenen an Hogwarts als Reinblüter.“ Sie grinste, wobei ein verschmitzter Glanz in ihre Augen trat, den Lily schon so oft bei Marlene gesehen hatte. „Wenn es hart auf hart kommt, dann können wir die Reinblüter gemeinsam bezwingen, nicht wahr?“
Lily schnaubte belustigt, Spuren von Tränen auf ihren Wangen. Sie schmeckte entfernt Salz, als sie sich über die Lippen leckte. „Ja, wahrscheinlich. Aber lass das bloß nicht so arrogante Trottel wie Black und Potter hören.“
Alice´ Blick wurde ein wenig sanfter. „Sie sind nicht ganz so schlimm, wie du vielleicht denkst, Lily. Zumindest nicht so, wie viele der Reinblüter sind.“ Alice klopfte Lily auf die Schulter, dann fügte sie an: „Komm, der Unterricht geht bald los.“
Sie war drauf und dran Alice zu folgen, als sie an einem weiteren Fenster vorbeikamen, das den Blick auf die sonnenbeschienenen Ländereien freigab. Der Frühling kehrte zurück in die Welt und es sollte ein herrlicher Tag sein, aber alles, woran Lily plötzlich denken konnte, war, dass sie nicht wusste, ob ihre Eltern noch am Leben waren. Ob sie ihre Mutter je wieder sehen würde.
„Lily?“ Alice´ Stimme erreichte kaum ihre Ohren. Ohne es bemerken, war die Vertrauensschülerin weitergelaufen, während Lily am Fenster stehen geblieben war. „Lily, alles okay?“
„Ich …“, fing sie an, nicht wissend, wie sie sagen sollte, was sie dachte, nicht wissend, ob sie es damit real machte, wenn sie es aussprach. Sie wollte wissen, was passiert war, aber vielleicht war die Ungewissheit ein Segen. Vielleicht war es besser, wenn sie es nicht wusste, wenn sie nicht wusste, ob ihre Eltern lebten, ob sie nicht wusste, ob ihre Mutter noch zuhause war, denn wenn sie es nicht wusste, dann lebten sie in ihren Gedanken und Lily musste nicht schreien.
Eine Hand legte sich auf ihren Unterarm. „Komm mit, Lily. Ich bring dich zu Professor McGonagall, ja?“