Remus Lupin
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Remus hatte das Gefühl, dass sich das gesamte Universum mittlerweile gegen ihn verschworen hatte. Sein eigentlicher Plan, keinen seiner Mitschüler allzu nah an sich heranzulassen, damit er sieben ruhige, undramatische Schuljahre erleben könnte, wurde von seinen Mitbewohnern in den Dreck getreten und wer war er, sich dem Aufdrängen von Sirius Black und James Potter zu entziehen, wenn die beiden schon entschlossen hatten, dass er jetzt Teil ihrer Freundesgruppe sein müsste? Keine Freunde, damit niemand herausfand, dass er ein Werwolf war, war, wenn Remus ganz genau darüber nachdachte, sowieso eine dämliche Idee. Immerhin war er auch nur ein Kind und er wusste jetzt, er hätte es keinen Monat an Hogwarts ausgehalten, ohne mit James, Sirius und Peter befreundet zu sein. Obwohl die Vollmonde ihm noch immer zu schaffen machten und er bemerkte, dass besonders Sirius sehr neugierig auf sein Verschwinden wurde, waren die Tage dazwischen umso besser. Seine Mutter war vollends begeistert davon gewesen, dass er bereits so gute Freunde gefunden hatte, auch wenn sie den Jungs wohl nie dafür verzeihen würde, dass sie ihren unschuldigen Remus so in die dunklen Machenschaften des Streiche Spielens gezogen hatten.
Selbst mit den anderen Erstklässlern aus Gryffindor hatte Remus eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Er verstand sich sehr gut mit Lily, und auch mit Marlene und Mary kam er gut zurecht. Seine Bekanntschaften aus anderen Häusern beschränkten sich bisher stark auf Snape, den er nicht unbedingt als Bekanntschaft bezeichnen würde und die drei Ravenclaws, die überall als eine Gruppe zu gehen schienen.
Deswegen war Remus auch umso erschlagener, als die erste Verwandlung des neues Jahres genau auf Lilys Geburtstag fallen musste. Bereits die Tage davor hatte er den Sog des Mondes gespürt, hatte den inneren Wolf in sich knurren gehört und war mit Schmerzen aufgewacht und mit Fieber eingeschlafen. Es war unsinnig zu denken, seine Mitbewohner würden nicht mitbekommen, wenn es ihm nicht gut ging und einerseits war er dankbar für Peter, der ihm mit seiner Ausrede geholfen hatte, allerdings war er auch sauer auf sich selbst, dass er nicht daran gedacht hatte, seinen Freunden eine glaubwürdige Geschichte aufzutischen, weswegen er jeden Monat ein paar Nächte verschwand. Was ihn allerdings am meisten ängstigte, war Sirius und James‘ Intelligenz. Wenn er nicht bald etwas unternehmen und die Fährte verwischen würde, dann würden seine beiden Freunde schneller herausfinden, dass er ein Werwolf war, als er sich eine Notlüge einfallen lassen könnte. James und Sirius gehörten zu den Besten aus ihrem Jahrgang und laut einigen Lehrern übertrafen sie sogar ein paar der älteren Schüler. Es schien alles nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sein sorgfältig aufgebautes Netz an Lügen und Vertuschungen in sich zusammenfiel und sein Geheimnis herauskommen würde.
Der Vollmond des Januars war schlimmer als alle zuvor. Es war eine Nacht voll Schmerz und Heulen und Verletzungen und frischen Wunden gewesen. Als Remus am Morgen das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er nur einen Blick auf seinen geschundenen Körper werfen können, ehe ihm wieder schwarz vor Augen geworden war. Das nächste Mal, als er aufgewacht war, war Madam Pomfrey bereits über ihn gebeugt und hatte die Verletzungen und Wunden mit ihrem Zauberstab behandelt. Sie war außer sich gewesen, hatte die ganze Zeit darüber gemurmelt, wie schrecklich er jeden Morgen aufwachen musste, wie viel Belastung sein junger Körper aushalten musste, all das. Remus war es leid. Seine Situation wurde nicht besser, nur weil Hogwarts‘ Heilerin darüber zeterte, noch wurde sie besser, wenn er sich selbst dafür die ganze Zeit bemitleidete.
Das war eins, was er in seiner kurzen Zeit auf Hogwarts gelernt hatte. Seine guten Zeiten, die die er mit seinen Freunden verbrachte, die er mit James Scherze machte oder mit Peter Hausaufgaben korrigierte oder mit Sirius Wettessen veranstaltete oder mit Lily in der Bibliothek lernte, die schönen Erinnerungen überragten bereits jetzt die schrecklichen Vollmondnächte und die kraftlosen Tage, die daraufhin folgten. Er könnte die Entscheidung treffen und alle Welt von sich wegdrücken, damit er wie ein buchstäblicher, einsamer Wolf leben könnte, aber was würde ihm das bringen? Remus genoss es sehr, dass er die Chance hatte, wie ein normaler Junge zu leben, auch wenn er tief in seinem Unterbewusstsein wusste, dass er keiner war. Solange er allerdings Freunde an dieser Schule haben würde, würde er nicht aufhören, den Wolf in sich zu unterdrücken, dessen Erinnerungen sich nach jedem Mond ein wenig mehr in seinen Kopf drückten.
Zuvor hatte Remus nur wenig aus seinen Verwandlungen gewusst. Es gab manchmal Bilder, die in ihm aufkamen, Tage später, Gerüche und Gedanken des Tiers, die sich mit den seinen vermischten, aber die Erinnerung an die Nacht war immer verschwommen, immer milchig hinter einer Wand aus Nebel verschleiert, die klar stellte, dass der Wolf nur ein kleiner Teil seiner Selbst war. Der Nebel schützte Remus davor, dass er sehen musste, wie der Wolf sich in den eingeengten Nächten in der Heulenden Hütte selbst biss und kratzte, schützte den Jungen vor den animalischen Trieben, die der heranwachsende Jäger in ihm ausbrütete, den Blutdurst, den der Wolf jede Vollmondnacht verspürte, wenn er den fernen Geruch der Menschen im Dorf ausmachte.
Aber der Nebel wurde langsam immer klarer. Es geschah kaum merklich, sodass Remus sich keine wirklichen Gedanken darum gemacht hatte, aber nach der letzten Nacht, war es ihm gedämmert. Er hatte sich bereits an Teile der Nacht erinnert, noch bevor mehrere Tage vergangen waren und sein Kopf Zeit gehabt hatte, sich an die verwirrenden Bilder, Gerüche und Gedanken darin zu gewöhnen, die regelmäßig auftauchten.
Es war beängstigend. Remus wusste, dass er als Wolf ein Monster war, dass sein einziger Lebenszweck darin bestand, zu reißen und zu töten und zu jagen, aber es war anders, die Gedanken in sich zu spüren. Es war anders, in einem weichen Krankenbett aufzuwachen und einen unersättlichen Hunger in sich zu spüren, den er sich nicht erklären konnte und der auch nicht durch das üppige Frühstück getilgt wurde, dass Madam Pomfrey ihm vorbeibrachte. Der einzige Lichtblick daran war, dass die Gedanken genausschnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Es würde ein paar Stunden anhalten, Remus würde unruhig in seinem Bett sein, die Glieder herumwerfen und sich den Magen halten, weil er einen animalischen Instinkt in sich spürte und – dann würde es auch wieder aufhören. Sein Körper beruhigte sich, als wäre nie etwas gewesen und lediglich die verknotete Decke und die Schweißperlen auf seiner Stirn erzählten von einer unangenehmen Zeit.
In seinen wöchentlichen Berichten nach Hause konnte Remus selten alles erzählen, was er mit seinen Freunden so anstellte. Er wusste, seine Mutter war noch immer enttäuscht davon, dass er in so viel Ärger geraten war, aber Remus kümmerte es seltsamerweise überhaupt nicht. Nachsitzen bedeutete ihm nicht viel, auch wenn er gerne darauf verzichtet hätte, allerdings war es ein kleiner Preis, den er dafür zahlte, mit James, Sirius und Peter die Schule unsicher zu machen. Nach Lilys Überraschungsparty – die Remus aufgrund des Vollmondes natürlich verpasst hatte – war James mit der genialen Idee angekommen, dass sie die Party einfach nachholen sollten.
„Du hast den Sinn von Überraschungspartys überhaupt nicht verstanden, Potter“, sagte Sirius mit Augenrollen.
„Wie? Ist doch egal, ob man die Party wiederholt, oder? Hauptsache, wir haben alle Spaß zusammen!“
„Oh Gott, das muss dieser Fluch eines Einzelkinds sein“, murmelte Peter. „Sicher hat er von seiner Mum all die Partys bekommen, die er wollte.“
„Und wie ich das habe“, sagte James stolz. „Außerdem wette ich, dass unser junges Wunderkind hier auch genug Partys bekommen hat, um ein Leben lang davon satt zu sein.“
„Wen nennst du hier Wunderkind?“, fragte Sirius mit gespielt schockierter Miene.
„Bitte, wer kann denn fünf Instrumente spielen und kennt die gesamte jüngere Geschichte der magischen Welt auswendig? Wer wurde denn von Flitwick so sehr gelobt, weil deine Notizen so schön geschrieben sind?“ James´ Grinsen war ansteckend.
„Du kannst mich mal, Potter“, schoss der andere Junge zurück. „Du bist ja nur neidisch, weil Flitwick deine Zeichnung in Zauberkunst für einen Tintenfleck gehalten hat.“
James´ Wangen wurden dunkel. „Das nimmst du zurück!“
Wenn man mit James und Sirius zusammenlebte, merkte man schnell, wann sie in einem Argument gefangen waren, also war Remus dazwischengetreten und hatte ihnen versichert, dass er keine zweite Überraschungsparty brauchte, zumal er nicht einmal das Ziel für diese Partys gewesen wäre. Noch dazu war es immer eine gute Idee, James und Sirius aus ihren hirnsinnigen Ideen herauszuholen, ansonsten endete es nur wieder darin, dass sie Nachsitzen und Punktabzüge bekamen und das konnte Remus so kurz vor dem Ende nicht mehr gebrauchen.
In den folgenden Wochen wurde Remus sehr oft Zeuge davon, wie seine Freunde und Klassenkameraden sich weiteren Wettbewerben erbosten. Sei es, dass James und Sirius unbedingt herausfinden wollten, wer mit seinem Besen am höchsten fliegen konnte oder wer schneller damit war, die gesamte Marmortreppe hinauf und hinabzurennen. Remus, der einen der beiden schon mit gebrochenen Knochen vor sich gesehen hatte, war mehr als erleichtert gewesen, als endlich aufgehört hatten, sich in allem vergleichen zu wollen. Das Problem dabei bestand nur, dass sowohl James als auch Sirius schnell langweilig wurden und wenn einem von ihnen langweilig war, dann mussten es alle wissen.
Und dann machten sie es zu dem Problem von allen anderen.
Remus konnte gar nicht zählen, wie oft er in Streiche gezogen wurde, obwohl er lediglich an seinen Hausaufgaben sitzen wollte, weil seine Freunde nicht mehr stillsitzen konnten. Natürlich musste Slytherin darunter am meisten leiden, allen voran Severus, für den Remus zwar nicht die meisten guten Worte übrig hatte, der es aber trotz dessen nicht verdient hatte, dass James und Sirius ihn für jedes Problem verantwortlich machten.
Etwas dagegen sagen konnte er aber auch nicht. Remus war schon froh genug, dass sie ihn überhaupt als Freund akzeptierten und nicht zu viele Fragen stellten, wenn er mal wieder für ein paar Tage aufgrund des Mondes verschwinden musste, da konnte er es sich nicht leisten, ihnen Paroli zu bieten. Wer wusste denn schon, ob sie sich nicht gegen ihn wenden würden, wenn er ihnen sagen würde, dass sie Severus nicht so triezen sollten? Remus war vielleicht ein wenig feige, aber er war nicht blöd.
„Remus.“ Lily, die in Kräuterkunde neben ihm arbeitete, hatte sich zu ihm gebeugt, während sie einen um sich schlagenden Rosenbusch stutzen sollten. Die dicken Drachenlederhandschuhe ließen ihre Finger aussehen, als wären sie auf das fünffache angeschwollen. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Ich tue schon mein Bestes“, brachte er hervor, eine Hand fest um einen zur Faust geballten Blätterstängel gewickelt, während er mit der anderen eine kleine Schaufel umklammerte, mit der er immer wieder gegen die dornigen Äste schlug, die nach ihm peitschten.
„Das meinte ich nicht“, erwiderte sie, wich einem schwingenden Rosenkopf aus und packte das fiese Ding an der Wurzel. „Ich meinte wegen Severus.“
„Oh.“ Manchmal, so glaubte Remus, spielte das Schicksal mit ihm. Immer dann, wenn er in Gedanken war und ein Thema zerkaute, wurde es neben ihm ausgesprochen und er wurde damit konfrontiert.
„Ja, ich weiß nicht, was ich machen soll. Seine Mutter hat in ein paar Tagen Geburtstag und wir haben beide keine Idee, was er ihr schenken kann.“
„Oh!“
Lily betrachtete ihn mit einer angezogenen Augenbraue. „Wieso, was hast du denn gedacht?“
„Gar nichts – ist nicht wichtig. Seine Mutter also, ja?“, versuchte er die Aufmerksam schnell wieder von sich zu lenken.
„Genau“, erwiderte Lily nickend. Der Rosenbusch schlug nach ihrem Kopf, verfing sich allerdings nur in ihrem Pferdeschwanz. „Aua. Danke, Remus“, murrte sie, als er die Dornen von ihren Haare zerrte. „Jedenfalls glaubt er, dass er ihr etwas ausgefallenes schenken sollte, weil es das erste Mal ist, dass er nicht zu ihrem Geburtstag zu Hause ist und außerdem hat sie ihm auch was zu seinem Geburtstag geschickt, obwohl … naja, obwohl seine Eltern nicht so viel Geld haben“, schloss Lily, die Wangen ein wenig dunkler als zuvor.
Durch die gläserne Decke des Gewächshauses strahlte gleißendes Sonnenlicht auf sie nieder und Remus musste ein wenig die Augen zusammenkneifen, damit er nicht allzu sehr geblendet wurde. „Und wie kommst du dann auf mich?“
Das Mädchen zuckte mit einer Braue. „Naja, du erzählst immer so viel von deiner Mutter, da dachte ich, dass du bestimmt eine gute Idee hast, was man einer Mutter so schenken kann.“
„Oh.“ Es war sein Zug, dunkle, warme Wangen zu bekommen. „Achso.“
Lily grinste. „Das muss dir nicht peinlich sein, Remus.“
„Ist es nicht“, sagte er nicht gerade überzeugend.
„Ist es, aber muss es nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern, bevor sie mit einer eisernen Schere auf eine Faust aus dunkelgrünen Blättern und dicken Dornen schlug. „Lass das!“, zischte sie die Pflanze an, die tatsächlich ein wenig in sich zusammensackte. „Geht doch.“
„Schenkt ihr doch eine Rose“, sagte Remus trocken.
„Oh, haha.“
„Nur ein Vorschlag.“
„Wenn du willst, dass Sev nicht mehr nach Hause fahren kann, dann ist das ein sehr guter Vorschlag“, erwiderte Lily. „Komm schon, Remus, was schenkst du denn deiner Mutter immer so?“
Er spürte, wie sich die Wärme erneut in seine Wangen brannte. „Selbstgemachtes“, antwortete er leise, warf einen Blick zur Seite, wo James und Sirius in einiger Entfernung damit beschäftigt waren, sich mit ihrem Rosenbusch zu boxen. Peter und Monty waren am anderen Ende des Tisches und hatten ebenso wenig Glück, nicht von ihrem pflanzlichen Gegner verdroschen zu werden. „Karten oder Bilder“, fügte er an. „Letztes Jahr, bevor die Schule angefangen hat, hab ich einen Blumentopf gekauft und den bemalt, damit er etwas lebensfroher aussah.“
Man sah es Lily an, dass sie ein Lächeln unterdrückte. „Das ist süß.“
„Ist es nicht“, protestierte Remus. „Hör auf.“
„Ach komm schon, was ist denn dabei?“, fragte sie mit zuckenden Mundwinkeln. „Es ist nun mal süß, wenn du ein gutes Verhältnis zu deiner Mutter hast.“
„Es hilft aber nicht, wenn ich so tun will, als wäre ich ein gefährlicher, unnahbarer Eisklotz.“
Lily schnaubte. „Glaub mir, das ist das Letzte, was du dafür in den Angriff nehmen müsstest.“ Sie zupfte am Ärmel von seinem Pullover, der unter seinem Umhang hervorlugte, einem hellbraunen Stück, mit einem Waldmotiv auf der Brust und schwarzem Rautenmuster, dass sich um die Arme schlang. „Vielleicht solltest du mit denen anfangen.“
„Was hast du gegen meine Pullis?“, fragte er empört.
„Gar nichts“, lachte Lily mit roten Wangen. „Aber sie sind nun mal nicht sehr bedrohlich. Besonders nicht die mit dem Weihnachtsmotiv, die du letzte Woche anhattest.“
Remus presste die Lippen zusammen. „Kann nicht glauben, dass du mich so angreifst, obwohl du meine Hilfe willst.“
„Okay, okay, tut mir leid, natürlich bist du sehr bedrohlich und unnahbar, wenn du weiche Wollpullover trägst, auf denen ein großes Rentier zu sehen ist. Ich habe gesehen, wie sogar die Siebtklässler gezittert haben, als du in die Große Halle gekommen bist.“ Die Haut in Lilys Gesicht war vor lauter unterdrücktem Lachen ganz rot geworden. „Hilfst du uns jetzt?“
„Aber nur weil du es bist“, seufzte er und hoffte inständig, dass James und Sirius das nicht herausfinden würden. Sicherlich würden sie ihn sofort in einen anderen Schlafsaal – nein, ein anderes Haus! – verbannen, wenn sie herausfänden, dass er sich mit ihrem Erzfeind Verbündete und sei es nur für ein unsinniges Geburtstagsgeschenk. „Ich denk mir was aus“, fügte er an, damit Lily nicht auf die Idee kam, eine gemeinsame Denkrunde mit ihr, Severus und Remus zu veranstalten.
Lily strahlte ihn an, bevor der Rosenbusch ihr erneut eine verpasste.