James Potter
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„Sie wird nicht antworten, Mum“, maulte James Potter das dritte Mal in einer Stunde. Er saß am Küchentisch, den Kopf auf der Holzplatte abgelegt und einen Schmollmund ziehen. „Sirius hat keinen meiner Briefe beantwortet, wahrscheinlich hält sie ihn im Keller gefangen, bis die Schule wieder losgeht.“
„Sag sowas nicht, James“, rügte Euphemia ihren Sohn. „Es geziemt sich nicht, schlecht über die Erziehung anderer zu reden – auch wenn diese Erziehung mehr als fragwürdig ist.“ Euphemia räusperte sich vernehmlich und strich ihre Bluse glatt. „Wir wissen beide gut genug, dass Walburga eine äußerst gemeine Hexe ist, James. Deswegen war es mir wichtig, dass ich einen förmlichen und höflichen Brief an sie schreibe. Etikette ist für die Blacks sehr wichtig, musst du wissen.“
„Trotzdem. Dein Brief liegt bestimmt brutzelnd in deren Kamin.“
„James, jetzt sei nicht so.“ Seine Mutter zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn ich mir nur vorstelle, wir der arme Junge die ganzen Ferien über leiden muss…“
„Also war es doch eine gute Idee von mir gewesen, mich mit Sirius anzufreunden!“ James grinste für einen Moment, dann fiel sein Gesicht wieder in sich zusammen. „Auch wenn du es verboten hast.“
„Zugegeben, da war ich voreilig. Sirius scheint ein sehr vernünftiger junger Mann zu sein.“
„Vernünftig würde ich ihn nicht nennen“, brummte James. „Aber er ist besser als seine Familie, Mum. Er ist kein schwarzer Magier.“
„Ich glaube dir ja, James, ich glaube dir ja.“ Euphemia nickte bedächtig. „Bei einer Familie wie den Blacks kann eine Mutter nie vorsichtig genug sein. Ich bin froh, dass Sirius nicht nach ihrem Vorbild stimmt, soviel kann ich dir sagen, auch wenn es für ihn kein einfaches Leben ist.“
„Ich wünschte, Dad könnte einfach zu ihnen gehen und Sirius abholen.“ James hob für einen Augenblick den Kopf, damit er seine Arme drunterschieben konnte. „Es ist nicht fair, dass er seine Ferien nicht richtig genießen kann. Erst Weihnachten und jetzt das. Ein Glück ist er über Ostern in Hogwarts geblieben.“ Er gab einen gequälten Laut von sich. „Wieso haben die Blacks überhaupt Kinder, wenn sie die eh nicht leiden können?“
Euphemia musste sich ein Lachen verkneifen. Sie setzte sich James gegenüber an den Küchentisch und schob die gläserne Obstschale beiseite, damit sie ihrem Sohn in die Augen sehen konnte. „Den Blacks geht es nicht um die Kinder, Schatz. Bei ihnen geht es allein darum, den Stammbaum weiterzuführen. Sie sind eine sehr alte und sehr mächtige Familie und wenn Menschen zu viel Macht ansammeln, dann wollen sie diese sehr ungern wieder loslassen. Solange die Blacks mit jeder Generation zumindest einen Erben produzieren, der den Stammbaum weiterführen kann, so sind sie glücklich. Sirius hat nun mal das Unglück, dass er als der älteste Sohn des Hauptzweiges der Familie geboren wurde, deswegen lastet eine Menge Verantwortung auf ihm, nach der er nie gefragt hat.“
„Was soll das denn heißen, Hauptzweig?“, fragte James.
„Heißt, dass Sirius der Sohn des Hauptzweiges der Familie ist, wodurch seine Aufgabe im Leben sein wird, einen Erben zu produzieren, damit die Linie der Blacks weiterleben wird. Es ist eine Tradition in der Familie Black, dass sie ihre eigenen Verwandten heiraten, damit ihr Blut rein bleibt und sie einhundertprozentig Black bleiben. Wenn ich mich nicht täusche“, sagte Euphemia mit dem Hauch von Abstoß in der Stimme, „dann wird auch Sirius irgendwann eine seiner entfernten Cousinen oder Nichten heiraten müssen.“
„Ihh, eklig!“, sagte James angewidert. „Er soll diese Schreckschraube Narzissa heiraten?“
„Höchstwahrscheinlich“, nickte Mrs. Potter. „Für uns ist es ein unverständlicher Brauch, aber die Blacks ehren diese Tradition seit vielen hundert Jahren. Sirius Eltern sind ebenfalls Cousin und Cousine, wusstest du das nicht?“
„Nein!“ James sah entsetzt und angeekelt aus. „Aber wenn Sirius Sohn vom Hauptzweig ist, dann heißt das, Narzissa wäre die Tochter des Nebenzweiges?“
Euphemia nickte. „Genau. Ein Stammbaum ist, wie der Name bereits vermuten lässt, wie ein Baum aufgebaut. Die Wurzeln bilden die Gründer der Familie, also die ersten Blacks. Und je weiter die Krone des Baumes reicht, desto mehr Mitglieder der Familie haben jemanden aus einer anderen Familie geheiratet und Kinder mit ihnen gezeugt und diese Kinder haben dann ebenfalls irgendwann Kinder bekommen und so weiter.“
„Haben wir auch einen Stammbaum?“
„Ich glaube schon, ja. Dein Vater muss irgendwo eine Aufzeichnung davon in seinem Arbeitszimmer haben, du kannst ihn ja mal danach fragen, wenn er wiederkommt.“ Euphemia warf einen beinahe ungeduldigen Blick auf die Uhr. „Ein halber Tag ist rum. Ich befürchte, du hast Recht, James. Sie wird wohl nicht mehr antworten.“
Es musste ein Zauberwort gewesen sein, denn just in diesem Moment flatterte ein winziger, nachtschwarzer Vogel durch das offene Küchenfenster, ließ einen Pergamentfetzen auf den Boden fallen und flog genauso schnell wieder heraus. James hatte das Stück Pergament als Erster erreicht. Er klaubte es vom Boden und las vor: „Danke für das Angebot, Mrs. Potter. Wir schicken Sirius mitsamt seinen Sachen über das Flohnetzwerk. Erwarten Sie ihn in Kürze. Gezeichnet, Walburga Black.“
„Na also“, sagte Euphemia über den Freudenschrei den James losgelassen hatte. Bevor sie noch etwas anderes sagen konnte, war er bereits aus der Küche gerannt.
James erreichte gerade rechtzeitig vor dem Kamin im Salon, als smaragdgrüne Flammen hinter dem schmiedeeisernen Zaun aufblühten. Zuerst fiel ein großer schwarz-silberner Schrankkoffer mit einem Slytherinwappen aus dem Kamin auf den teuren Teppich und verteilte Rußflecken, einen Augenblick später stolperte ein Junge hinterher. Der Junge hatte kaum die Möglichkeit, sich die zerstreuten Haare aus den grauen Augen zu wischen, als ihn eine halsbrecherische Umarmung beinahe zurück in den Kamin gestoßen hätte.
„Woah, ruhig, Potter“, sagte Sirius lachend.
„Du Bastard“, erwiderte James, „ich hab mir total Sorgen gemacht.“
„James!“, tadelte Euphemia lautstark, als sie hinter ihrem Sohn den Salon betrat. „Wie redest du denn vor unserem Gast? Hallo, Sirius, mein Lieber, es ist so schön, dass du kommen konntest.“
„Vielen Dank, dass ich eingeladen wurde, Mrs. Potter“, sagte Sirius, der James von sich drückte und dann mit weiten Schritten auf Euphemia zuging, um ihr höflich die Hand entgegenzustrecken. „Sie haben ein sehr schönes Haus.“
„Und du hast sehr gute Manieren, Sirius“, erwiderte sie lächelnd. „Fühl dich wie Zuhause.“
„Fühl dich am besten nicht wie Zuhause“, meinte James mit einem schiefen Lächeln. „Hier ist es nämlich besser.“
Sirius schnaubte. „Davon geh ich aus“, murmelte er. „Es war sehr nett von euch, mich einzuladen. Hätten Sie keinen so freundlichen Brief an meine Mum geschrieben, dann hätte sie mich nicht gehen lassen, Mrs. Potter, vielen Dank.“
„Oh, keine Ursache, mein Lieber. Und bitte, nenn mich Euphemia, oder Mia, wenn es dir lieber ist. Mrs. Potter lässt mich so alt klingen“, sagte sie mit einem breiten Lächeln, dass ihre Krähenfüße an Mundwinkeln und Augen deutlich hervorhob. Auch die grauen Strähnen in ihren Haaren waren kaum zu übersehen.
„Für mich sehen Sie keinen Tag älter als fünfunddreißig aus“, erwiderte Sirius.
Euphemia machte eine wegwerfenden Handbewegung, aber ein unmissverständlicher Rotschleier hatte sich über ihre Wangen gelegt. „Du Charmeur“, lachte sie. „James, geht doch hoch, dann kannst du Sirius das Gästezimmer zeigen. Ich werde es nach dem Essen herrichten.“
„Ok, Mum.“ James bedeutete Sirius, ihm zu folgen, blieb aber stehen, als Sirius nach seinem Koffer greifen wollte. „Was machst du da?“
„Mein Gepäck mitnehmen?“
„Wieso? Mum, kannst du –“
„Schon dabei“, flötete die Stimme von Euphemia als dem Flur, in welchen sie bereits verschwunden war. Einen Augenblick später verschwand Sirius‘ massiver Koffer, als wäre er nie dagewesen und mit ihm gleich die Rußflecken, die den Teppich beschmutzt hatten.
„Danke!“, rief James. „Na los.“
Sirius starrte beinahe schon begeistert auf die Stelle, an der sein Koffer noch eben gestanden hatte, dann rief er ebenfalls: „Vielen Dank, Mrs. Potter!“
„Euphemia oder Mia für dich, Sirius, Schatz!“
„Danke, Euphemia!“
„Keine Ursache, mein Lieber!“
„Deine Mum ist wirklich nett“, sagte Sirius etwas leise und folgte James durch eine andere Tür in einen anderen Flur. „Meine Mum hätte mich den Koffer bis auf den Dachboden schleppen lassen, damit ich nicht vergesse, wie einfach ich zu zerbrechen bin. Kranke alte Schachtel“, fügte er murmelnd hinzu.
Das Potter-Haus hatte vier Etagen, die alle vor Wohlstand und gutem Geschmack trotzten. Der Salon, aus dem James und Sirius gerade kamen, war eines der größten Zimmer des Hauses, mit riesigen Fenstern, die den Raum tagsüber mit Licht durchflutete. Ein marmorner Kamin, wunderschön gefertigte Holztische und eine ganze Handvoll mit karmesinroten Sesseln füllten das Zimmer. Ein Teppich mit Blumen- und Rankenmustern bedeckte einen auf Hochglanz polierten Parkettboden.
Portraits, Wandgemälde und Fotografien bedeckten die vielen Wände des Anwesens. Auf den meisten Fotos war James zu sehen, gemeinsam mit seinen Eltern, allein auf einem Besen in der Luft, am ersten Tag vor Hogwarts, kaum drei Jahre alt mit seinem ersten Milchzahn, ein schmutziger Junge, der im verregneten Garten spielte… es wurde mehr als deutlich, wie sehr Euphemia und Fleamont ihren Sohn liebten, wenn man sich nur das Haus ansah.
Eine Treppe hinauf, die Stufen mit dunkelblauem Samt bedeckt, kamen Sirius und James in die Schlafetage des Hauses. Das Schlafzimmer von James‘ Eltern befand sich am Ende des Flurs, direkt neben einem handgefertigten Wandteppich, der das Wappen der Gryffindors zeigte. Durch ein massives Erkerfenster strömte Tageslicht hinein und gab selbst dem Flur bereits eine sehr wohnliche Atmosphäre, der ebenfalls mit Portraits und Gemälden dekoriert war. Zwischen den Türen standen ab und an ein paar Kommoden oder Beistelltische, geschmückt mit schneeweißen Blumenvasen mit duftenden Rosen und Lilien oder kleineren Bilderrahmen, die schließlich die Gesichter von bereits verstorbenen Familienmitgliedern zeigten.
James‘ Kinderzimmer lag direkt am Fuß der Treppe. Es war ein großer, offener Raum mit einer Menge Platz. Das Bett war ungefähr doppelt so groß wie das in Hogwarts, mit nachtblauer Bettwäsche und einem Kuscheltier in Form eines Quaffels. An der Wand hingen Fotografien und Zeitungsartikel sowie einige angepinnte Pergamentstücke, die sich als die Briefe und Karten seiner Freunde herausstellten, die James den Sommer über erhalten hatte. Am anderen Ende des Raumes bedeckte ein massiver Holzschrank die Wand und direkt daneben hingen ein halbes Dutzend Besen in goldenen Halterungen. Darüber befand sich ein großes Quidditch-Banner von Puddlemere United, James‘ liebstem Team. Ein etwas kleineres Banner, dass beinahe im Schatten des Schrankes unterging, zeigte das Wappen der Chudley Canons, ein knallorangenes Bild mit der namensgebenden Kanone darauf.
„Das ist mein Zimmer“, erklärte James überflüssigerweise, dann trat er wieder hinaus in den Flur und ging eine Tür weiter. „Du kannst hier pennen.“ Das Gästezimmer war wesentlich weniger persönlich. Es war schlicht, sauber und hübsch, mit einem großen Bett mit hellgelbem Bezug, dazu ein schicker, schlanker Nachttisch, ein Schreibtisch und einige Bücherregale, die den Raum größer wirken ließen. Ein dunkler Holzschrank bot genug Platz, für Klamotten und Sirius‘ Schrankkoffer war bereits vor das Bett gezaubert worden, das Slytherinwappen ein beinahe offensichtliches Zeichen, wie anders das Haus der Potters wirklich war.
„Es ist so hell“, sagte Sirius erstaunt.
„Du kannst die Vorhänge auch zu machen.“
„Das meine ich überhaupt nicht, du Dungbirne. Ich meinte, es ist alles so hell und freundlich eingerichtet. Mein Zuhause sieht dagegen aus wie der perfekte Kandidat für ein Leichenschauhaus.“ Sirius zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, hier gefällt es mir besser.“
„Und es wird dir noch besser gefallen“, versprach James, bevor ein breites Grinsen sein Gesicht erhellte. „Das werden die besten zwei Wochen überhaupt.“
Sirius ließ sich zu einem Lächeln anstecken, bevor er den Blick abwandte, mit der Hand an seinem Hinterkopf kratzte und murmelte: „Danke, dass du mich hergeholt hast, Kumpel. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“
„Fang jetzt nicht an zu heulen, Black, sonst schick ich dich wieder zurück“, neckte James seinen besten Freund, bevor er einen Arm um dessen Schulter warf. „Komm schon, hör auf an deine doofe Familie zu denken. Jetzt zählt es nur noch, dass du hier bist und ich dich beim Quidditch spielen im Garten fertig machen kann.“
„Du bist ein toter Mann, Potter“, grinste Sirius mit roten Wangen. „Ich werde dich von deinem Besen stoßen.“
„Ha! Das werden wir ja sehen!“