Remus Lupin
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Der Mond war eine langsame, kontinuierliche Folter. Sein Sog brannte auf Remus´ Haut, als wäre er in Feuer getaucht, sein Kopf glühte vor Schmerzen. Alles in seinem Körper schien dagegen zu sein, ihn am Leben zu erhalten und es war, als würde selbst der Drang zum Atmen mit jeder vergangenen Minute schwieriger werden. Remus wusste nicht, ob er schon schlief oder ob er einfach nur im Albtraum seines Lebens gefangen war. Der einzige Gedanken, den er noch klar denken konnte, war der: Ich will raus.
Remus wollte weg, raus, in die Welt, in den Wald. Der Wald rief nach ihm so wie der Mond es tat. Im Wald ruhte Linderung, im Wald ruhte Familie. Familie, andere Wölfe. Der Wolf in ihm wollte in den Wald, während Remus für immer schlafen wollte. Vielleicht konnte er schlafen und der Wolf würde seinen Körper übernehmen und niemand von ihnen müsste mehr leiden, er, der Junge, eingesperrt in einem vernarbten Sarg und er, der Wolf, eingesperrt in einer fleischlichen Hülle.
Ich will raus.
Niemand konnte Remus´ Schmerzen lindern, nicht die gut gemeinten Taten seiner Freunde, nicht die sanft geflüsterten Worte Madam Pomfreys, während sie ihn zur Hütte gebracht hatte, noch die zerkratzten Laken auf dem halbzerstörten Bett, auf denen er seinen zerschundenen und frustrierten Leib bettete. Der brennende Sog des Mondes kroch durch die Ritzen der zerstörten Wände der Heulenden Hütte und verbrannte Remus bei lebendigem Leibe. Nicht einmal die Kühle der Nacht auf seiner nackten Haut gab ihm Linderung.
Ich will raus.
Der Wolf kratzte in seinem Inneren. Der Wolf wollte heulen, wollte rennen und reißen. Der Wolf war frustriert, dass er nicht in die Wildnis durfte. Es lag in seinem Blut und damit lag es auch in Remus´ Blut. Je lauter der Ruf des Mondes wurde, desto dringender wollte Remus aus dieser Hütte fliehen. Aber er konnte nicht. Er musste hier bleiben und es ertragen und leiden.
Ich will raus.
Ein unendlicher Hunger wütete in ihm, wie ein trüber Sturm auf offener See, gewaltig und niemals zu bewältigen. Remus wusste, die Verwandlung rückte immer näher und doch wusste er nicht, ob er sie nicht dieses Mal herbeiwünschte. Die Zeit vor dem Mond war dieses Mal schlimmer, schrecklicher als je zuvor und es kam ihm alles wie ein krankes Spiel vor. Schicksalsfaden baumelte nur Millimeter vor der Klinge, aber es war ihm nicht vergönnt, alles zu beenden. Die Verwandlung würde ihm für ein paar Stunden die Sinne rauben und dann wäre er kurzzeitig frei, aber sobald sie wiederkommen würden, würde er es nur noch schlimmer erleben. Ob die Schmerzen ihm dieses Mal den Rest geben würden?
Ich will raus, dachte er ein letztes Mal, bevor er sich vor Schmerz aufbäumte und ein Heulen in seinen Ohren klingelte. Danach, wie schon hunderte Male zuvor, verlor er alles.
Der Morgen war das schlimmste. Während sein Körper langsam, langsam wieder zu sich kam, konnte er sich nicht bewegen, konnte nur fühlen, was alles an ihm zerstört war. Seine Rippen schmerzten, sein Arm war taub, die Hälfte seines Gesichtes war feucht und warm. Ein metallischer Geruch lag in seiner Nase – Blut. Es lag ebenfalls auf seiner Zunge, auch wenn er sich dort nicht ganz sicher war. Schmeckte er wirklich etwas, oder bildete er sich nur etwas ein?
Minutenlang lag er in seiner Pein. Minuten vergingen wie grobe Körner in einem Stundenglas. Remus´ Atem ging langsam, klang ein wenig röchelnd. Hatte er überhaupt noch den Drang zu Atmen?
„Oh du meine Güte.“ Die sanfte Stimme Madam Pomfreys drang an seine Ohren, seine schmerzenden, feuchten Ohren, eines an der kalten Morgenluft, eines in die kratzige Oberfläche des Lakens gedrückt. „Remus, mein Lieber, kannst du mich hören?“
Eine kühle Hand berührte ihn, aber Remus konnte nicht ganz sagen, wo. Er konnte die Augen nicht öffnen. Remus versuchte zu reden, aber lediglich ein schwaches Stöhnen entkam ihm. Seine Kehle war ausgedörrt, aber sein Verlangen nach Wasser war schwach. Wollte er wirklich trinken oder ins kühle Nass fallen und – er schob den Gedanken beiseite. Nein, er wollte leben. Mit der letzten Kraft, die er zusammensammeln konnte, kämpfte er dafür, dass er die Lider öffnen konnte.
Statt mit dem zerschmetterten Dach der Hütte begrüßt zu werden, sah er weiß. Für einen schrecklichen Moment dachte Remus, der Wolf hätte ihn blind zurückgelassen, aber dann gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und er erkannte, dass er bereits im Krankenflügel lag. Wie er dort hingekommen war, wusste er nicht. Irgendwann musste er das Bewusstsein wieder verloren haben, aber er konnte sich nicht erinnern, wann das passiert worden war. Er wusste nur, dass Madam Pomfrey die Hütte betreten hatte und dann hatte er die Augen geöffnet.
„Remus?“ Die Stimme der Krankenschwester schwebte irgendwo an seinem linken Ohr. „Merlin sei Dank bist du endlich wach.“
„Hm“, sagte er, sein Mund wirr und wund. Er wusste nicht einmal, was er sagen wollte.
„Ist deine Zunge noch taub?“
Remus nickte schwächlich, auch wenn selbst diese Bewegung weh tat. Sein Nacken schmerzte. Das Licht schmerzte in seinen Augen.
„Das dachte ich mir fast“, erwiderte die Krankenschwester mit ruhiger, leiser Stimme. „Ich hab dir ein paar Tränke gegeben, als du geschlafen hast und die Nebenwirkungen zusammen haben ein paar Taubheitsgefühle in deinem Körper ausgelöst. Die werden aber in ein paar Stunden wieder verschwinden, versprochen. Du hattest eine gebrochene Elle und angeschlagene Rippen, außerdem war deine Nase gebrochen und du hattest mehrere schlimme Verletzungen am ganzen Körper.“ Sie holte einen tiefen Atemzug. „Das – ich meine, der Mond, hat er sich anders auf dich ausgewirkt?“
„Hm“, war alles, was Remus herausbrachte.
„Oh, richtig, taube Zunge.“
Remus versuche sich an einem Nicken.
„Verstehe. Nun, ich habe nicht viel darüber herausgefunden, muss ich gestehen, über Werwölfe wird nicht sonderlich viel geschrieben, es sei denn, es geht darum, sie zu erkennen.“ Madam Pomfrey seufzte. „Diese Mondfinsternis hatte es wohl in sich. So schlimm waren deine Verletzungen noch nie. Ich –“, sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Pomfrey schnaubte ungeduldig. „Schon wieder“, murrte sie. „Warte einen Moment, Remus.“
Remus hatte nicht den Kraft, den Kopf zu bewegen, deswegen konnte er nur hören, wie die Krankenschwester aufstand und mit schnellen Schritten in Richtung der Tür ging. Er schloss die Augen wieder, aber das grelle Licht des Krankenflügels drang trotzdem durch seine Lider. Schlaf wollte ihn nicht mehr übermannen.
„Nein“, sagte Madam Pomfrey. „Er braucht Ruhe.“
„Oh bitte“, maulte die Stimme Sirius Blacks. „Nur fünf Minuten.“
„Absolut nicht“, erwidere die Krankenschwester resolut. „Dieser Junge braucht seinen Schlaf und ich werde nicht zulassen, dass er gestört wird.“
„Bitte, Poppy“, sagte Sirius, aber ein lautes Schnauben später fügte er an: „Ich meinte, bitte Madam Pomfrey. Ich will ihn nur kurz sehen.“
„Was, glauben Sie nicht, dass er wirklich hier ist?“
„Nein, das meinte ich nicht. Ich will – ich will ihn einfach nur sehen. Nur kurz. Sichergehen, dass es ihm gut geht und ihm nichts wirklich fehlt, ja? Sie können auch zugucken!“ Sirius klang hoffnungsvoll und Remus war sich sicher, dass er seinen besten Hundeblick aufsetzte, um zu bekommen, was er wollte. „Bitte?“
Madam Pomfrey seufzte laut. Bildlich konnte er sich vorstellen, wie sich an die Stirn fasste und den Kopf schüttelte. „Einen Blick“, sagte sie. „Ich erlaube einen Blick, danach verschwinden Sie sofort und lassen meinen Patienten in Ruhe.“
„Jawohl, Ma´am!“ Schritte näherten sich rapide Remus´ Bett und obwohl er nicht die Kraft hatte, den Kopf zu heben, wusste er genau, dass das grinsende Gesicht von Sirius Black jeden Moment neben ihm auftauchen würde.
Die Schritte endeten abrupt, ein schneller Atemzug, dann Stille. Langsam breitete sich wieder Gefühl in seinem Körper aus, ein seltsam belebendes Gefühl, als würde er mit Aufpäppel-Tränken vollgepumpt werden. Dunkelgraue Augen und glänzendes schwarzes Haar tauchten in Remus´ Sichtfeld auf, doch statt das grinsende Gesicht von Sirius zu sehen, sah Remus lediglich Sorge in den Augen des anderen Jungen.
„Merlin“, sagte Sirius langsam.
„´S is´ nich´ so schlimm“, brachte Remus hervor, seine Zunge noch nicht ganz wieder am Leben. Er konnte seine Unterlippe nicht spüren.
„So sieht das nicht aus“, hauchte Sirius.
„Ich versichere Ihnen, Mr. Lupin geht es so weit gut, aber er braucht Ruhe“, tauchte Madam Pomfreys Stimme im Hintergrund auf. „Und jetzt, da Sie ihn gesehen haben, können Sie uns wieder allein lassen?“
„Lag es am Mond?“, fragte Sirius, komplett die Worte der Krankenschwester übergehend. „Die Mondfinsternis? Lag es daran?“
Madam Pomfrey seufzte erneut. „Ich bin nicht sicher“, sagte sie. „Die Effekte der verschiedenen Mondphasen auf einen Menschen mit Lykanthropie sind nicht wirklich erforscht. Vollmonde sind offensichtlich der Katalysator für die Verwandlung, aber was eine Mondfinsternis oder Ähnliches auslöst … wir wissen es nicht. Ich bin mir zumindest sicher, dass es zu besonderer Aggressivität beim Wolf geführt hat, wodurch Remus nun mehr leiden muss.“
Obwohl er sich schrecklich fühlte, füllte eine blubbernde Wärme Remus´ Körper aus. Es ging nicht an ihm vorbei, dass Madam Pomfrey von Remus und dem Wolf als zwei verschiedenen Wesen sprach; sie sah Remus nicht als den Wolf an und wusste, dass er nicht dafür verantwortlich war, was passierte, wenn der Mond die Fülle erreichte. Für Remus ging die Sonne auf, als er die Augen schloss und ein entferntes Brennen nahm seine Augenwinkel ein. Pomfreys warme Worte sickerten wie Honig in seinen Kopf und ließen das Pochen, dass seinen gesamten Körper einnahm, langsam verschwinden.
„Deswegen werde ich ihm jetzt ein paar weitere Tränke verabreichen“, führte die Heilerin fort. „Remus braucht Ruhe, damit sein Körper sich erholen kann und ich bin mir sicher, dass er erst dann Kraft tanken kann, wenn er tief schläft. Also, Mr. Black –“
„Noch eine Minute, bitte!“, flehte Sirius.
Remus öffnete die Augen. Sein Nacken brannte vor Schmerz, als er den Kopf zur Seite drehte, aber er schaffte es und kämpfte ein Lächeln auf die Lippen. „Schon gut, Si´us“, murrte er mit halb wachem Gesicht. „Wir seh´n u´s morg´n.“
„Remus …“ Das Schleifen von Schuhen über Marmor ertönte, dann rückte Sirius´ Gesicht näher heran. Der mintfrische Zahnpastaatem ließ Remus´ Augen tränen, wobei ihm das nicht half, zu erkennen, wie spät es war. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
Statt zu antworten, nickte der Junge lediglich, Schmerzen im Nacken, Brennen im Magen. Sein Körper schrie nach Ruhe, sein Kopf verlangte nach … nach Sirius. Er wollte, dass der andere Junge bei ihm blieb, aber er hatte keine Chance, dieses Verlangen in Worte zu fassen und es Madam Pomfrey zu erklären. Die einfachste Entscheidung war es deswegen, Sirius gehen zu lassen und sich den Tränken hinzugeben, die ihn in den Schlaf zwingen würden.
„Mr. Lupin wird es wieder gut gehen, wenn er endlich dazu kommt, zu schlafen, Mr. Black“, sagte Madam Pomfrey mit strenger Stimme. Eine ihrer Hände grub sich in Sirius´ Schulter und zog ihn von Remus´ Bett. Sanft, aber bestimmt schob sie den Jungen zurück zur Tür. „Sie können morgen wiederkommen, wenn Mr. Lupin wieder wach ist, andernfalls verbiete ich es Ihnen, den Krankenflügel zu betreten, sollte es sich nicht um einen Notfall handeln. Und Nein“, fügte sie mit Nachdruck an, „Sie können keinen schlechten Trank schlucken, um eine Magenverstimmung zu bekommen.“
„Aber Madam Pomfrey“, maulte Sirius, wobei er den letzten Laut unnatürlich lang zog.
„Nein.“ Ein einziges Wort reichte aus, damit Sirius den Mund hielt und Remus ein schwaches Lachen von sich gab. Madam Pomfrey schloss die Tür zum Krankenflügel mit einem dumpfen Geräusch, das wie eine massive Glocke in Remus´ Ohren nachhallte. Die scharfen Schritte Madam Pomfreys kamen wieder zurück und einen Moment später lag ihre kühle Hand auf seiner Stirn. „Du musst schlafen“, sagte sie. „Du bist fiebrig und schwach.“
„Hm.“
Madam Pomfreys Augen verengten sich kaum merklich. „Hier“, sagte sie und führte eine Phiole mit orangeroter Flüssigkeit an seinen Mund, „trink das, dann solltest du einschlafen.“
Remus zwang sich dazu, den Schlaftrunk einzunehmen. Es schmeckte nach nichts, als würde er versuchen Luft zu schlucken, aber kaum hatte er ihn getrunken, breitete sich erneut eine wohlige Wärme in ihm aus, wie ein Lagerfeuer in seinem Magen. Es wurde schwierig, die Augen offen zu halten.
„Ich lasse eine Phiole auf deinem Nachttisch liegen, falls du wach wirst“, sagte sie. „Daneben lasse ich einen Schmerztrank, ja? Du kannst ihn einnehmen, wenn du meinst, dass du ihn brauchst.“ Erneut legte sie eine Hand auf sein Gesicht, dieses Mal an seine Wangen. Vorsichtig, als hätte sie Angst, er würde unter ihrer Berührung zerbrechen, strich sie über seine heiße Haut. „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr tun kann, Remus.“
Er wollte ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen darüber machen sollte, aber sein Mund fühlte sich erneut zu schwer zum Bewegen an. Der Schlaftrunk ließ seine Glieder bleiern und sein Hirn leer werden und als seine Lider zufielen und er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sie wieder zu öffnen, hatte er nur noch einen Gedanken, bevor der Schlaf ihn wie einen Umhang einhüllte:
Ich will raus.