James Potter
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Frustriert klappte James das Buch in seinem Schoß wieder zu und warf es beiseite. In Magische Tinkturen und Allerleiheilmittel hatte er nichts gefunden, was ihm helfen würde – nicht, dass er es erwartet hätte, hatte er in das Buch doch nur hineingelesen, weil er geglaubt hatte, etwas über Gedächtnistränke zu finden, wurde letztlich aber nur enttäuscht. Die einzigen Tränke, die er dahingehend gefunden hatte, waren Veritaserum, ein Wahrheitstrank, und eine Erinnerungstinktur, die verlorene Erinnerungen wiederherstellen konnte. Veritaserum wäre sicherlich für andere Streiche und Späße interessant, aber die Herstellung des Tranks war immens kompliziert und er bezweifelte, dass er einfach Slughorn fragen könnte, ob er ihm dabei helfen würde.
James griff nach dem nächsten Schmöker – ein massives, in Leder gebundenes Buch mit dunkelrotem Buchumschlag, das auf den Titel Die dunklen Kreaturen Großbritanniens – Erkennungsmerkmale, Lebensräume und Artenvielfalt hörte. Zugegeben, er war etwas lang und James war sich nicht sicher, ob er unbedingt eine dunkle Kreatur nach Hogwarts schmuggeln und Snape auf den Hals hetzen wollte, aber da magische Geschöpfe und Monster noch nie sein Interessengebiet waren, dachte er sich, dass es nicht schaden könnte, wenn er sich zumindest ein wenig schlaulesen würde. Bevor er das Buch öffnete, blickte er auf. Peter lag zu seinen Füßen auf dem Boden und hielt ein Verwandlungslehrbuch über sein Gesicht, auch wenn James die starke Vermutung hatte, dass der andere Junge längst eingenickt war. Sirius hingegen hatte sich längs über einen Sessel geworfen, Füße baumelten über eine Lehne, sein Kopf über die andere und er warf geistesabwesend ein zusammengeknülltes Blatt Pergament in die Luft, fing es auf und warf es dann erneut. Ein nachdenklicher Schatten lag auf seinem Gesicht, was bedeutete, dass er tief in Gedanken gefangen war.
Seine Suche nach einer Ablenkung war misslungen – Remus war nicht da, hatte er sich mit Lily für den Nachmittag in die Bibliothek verzogen, Mary und Marlene waren außerhalb des Gemeinschaftsraums und stellten irgendwas an und selbst Monty war nicht da. Da die Quidditchauswahlspiele am nächsten Wochenende stattfinden würden, trainierte James‘ Mitschüler beinahe Tag und Nacht. James lobte sich das sehr, hatte er doch ebenfalls vor, an den Auswahlspielen teilzunehmen und sich als neuer Jäger für das Team zu bewerben. Wenn er nicht mit der Nase im Buch hängen würde, dann wäre er mit Monty jetzt auf dem Feld und sie würden sich den Quaffel gegenseitig zuwerfen. Es war eine Schande, dass James nicht einfach alles stehen und liegen lassen konnte, aber es half nichts. Er würde den nächsten Morgen einfach etwas früher aufstehen und dann seinen Besen mit zum Feld nehmen.
Dunkle Kreaturen schien es in Großbritannien in Hülle und Fülle zu geben. Grindelohs in den Gewässern, Kappas in den Sümpfen, Trolle in den Bergen oder Wäldern und natürlich die riesige Seeschlange, die im Loch Ness lebte. James‘ Vater hatte ihm erzählt, dass es rund um das Loch mehrere Stationen mit Vergissmich gab, Spezialisten in Gedächtniszaubern aus dem Ministerium, die die Erinnerungen der Muggel modifizierten, Fotografien veränderten und Videoaufnahmen sabotierten, damit keine weiteren Informationen über die Seeschlange an die Muggelwelt gelangten.
James blätterte um. Ghule, las er. Ungefährliche Insektenfresser, die lediglich die Form von tödlichen, menschenfressenden Bestien annehmen, um ihr Revier zu verteidigen. Ghule werden von vielen Haushalten als eine Art Haustier gehalten, halten sie zumeist Dachböden oder Kellergewölbe von ungewünschtem Getier fern und sorgen immer wieder für lustige Zwischenfälle, sollte ein unwissender Besucher in ihr Revier stolpern. Ob es die sagenumwobenen Chamäleon-Ghule wirklich gibt, die sich ihrer Umgebung perfekt anpassen können, ist nicht nachgewiesen.
Ein Ghul wäre nur dann hilfreich, wenn James wissen würde, ob Snape wusste, was sie waren. Denn nur wenn Snape keine Ahnung davon hatte, dass Ghule ungefährlich für Menschen waren, würde es ihnen etwas bringen. Seufzend blätterte er weiter.
Werwölfe – Tödliche Räuber und Bestien der höchsten Gefahrenstufe. Werwölfe sind gefürchtete Menschenfresser. Sie sind größer, schneller und stärker als normale Wölfe und reißen mit großer Vorliebe Menschen. Diese dunkelsten aller Monster leben für die meiste Zeit ihres Lebens direkt inmitten von Menschen, getarnt in der Gestalt eines Menschen selbst. Sie verwandeln sich unter Einfluss des Vollmondes in diese blutrünstigen Kreaturen und töten alles und jeden in ihrer Umgebung. Es ist unklar, ob Werwölfe die Kontrolle darüber haben, was sie tun, wenn sie verwandelt sind, oder ob sie lediglich unter dem Bann der Verwandlung stehen, die meisten Magizoologen sind sich jedoch einig, dass man sich einem Werwolf unter keinen Umständen nähern sollte, sollte man nicht den Wunsch verspüren, höchst schmerzhaft und blutig zu sterben. Über Werwölfe ist wenig bekannt, da die wenigen, bekannten Exemplare, die je gefangen wurden, in der Obhut des Ministeriums starben. Lykanthropie ist höchst ansteckend. Sollte der Angriff eines Werwolfs überlebt werden, so ist es sehr wahrscheinlich, dass das Opfer ebenfalls zum Werwolf wird. Hinweis: Sollte Ihnen oder jemandem in Ihrer Nähe die folgenden Merkmale bei einer Person in ihrem Umfeld auffallen, so wenden Sie sich bitte sofort an die Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe.
Es folgte eine Liste mit Symptomen und Attributen, die alle auf einen Menschen schließen sollten, der unter Lykanthropie litt. James überflog die Liste, stockte und las sie dann erneut durch, dieses Mal genauer und aufmerksamer. Aggressionen, sobald der Vollmond näher rückt, Schlafschwierigkeiten, wenn der Mond fast voll ist, unbändiger Hunger, blasse oder kränklich wirkende Haut, seltsames und unerklärliches Verhalten rund um den Vollmond, das Verschwinden in der Vollmondnacht und schließlich Narben aller Art (Werwölfe verteidigen ihr Revier bis auf den Tod und sind sich nicht zu schade, blutige Kämpfe auszutragen, die in Narben auf dem menschlichen Körper enden). Bitte seien Sie vorsichtig, sollten Sie jemanden ansprechen, von dem Sie denken, dass er unter Lykanthropie leidet. Wenden Sie sich lieber an eine Person aus der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe.
James‘ wurde heiß, dann kalt und dann wieder heiß. Er las sich die Liste der Symptome erneut und erneut durch und jedes Mal schien ein klareres Bild vor seinem geistigen Auge zu erscheinen. „Sirius“, sagte er plötzlich. „Sirius, wann war letztes Jahr dein Geburtstag?“
„Hä?“ Der aus seinen Gedanken gerissene Sirius blickte verwirrt zu James. „Am dritten November, wie immer?“
„Nein, ich meine, welcher – egal. Warte.“ James warf das Buch zur Seite und sprang auf. Sein Herz raste und Blut pumpte in immer schnelleren Schüben durch seinen ganzen Körper. Sein Mund war trocken und er konnte seine Finger kaum still halten, während er durch den Gemeinschaftsraum lief, den Schlafsaal betrat und dann in seiner Tasche nach der Mondtabelle suchte, die sie für den Astronomieunterricht nutzten. Mit schnellem, hektischem Atem suchte er das Datum, das Jahr und den Tag heraus und blätterte. Vollmond. Der Tag nach Sirius‘ Geburtstag im ersten Jahr war an einem Vollmond gewesen.
James schluckte, dann schüttelte er den Kopf. „Das muss ein Zufall sein“, murmelte er. Er presste die Augen zusammen und überlegte, bis es ihm einfiel – die Überraschungsparty für Evans. James suchte in seiner Mondtabelle nach dem dreißigsten Januar 1972 und wieder stockte er. Vollmond.
Er sprang zurück an den Anfang des letzten Schuljahres und es fühlte sich an, als wäre er mitten in die Magengrube geschlagen worden. Vollmond, der erste Sonntag des Schuljahres im letzten Jahr war ein Vollmond gewesen. Hatte Remus nicht die nächsten drei Tage im Krankenflügel verbracht? Hatte er nicht sogar Marlene McKinnon angeschnauzt, weil sie ihm eine harmlose Frage gestellt hatte. Ein Puzzlestück nach dem nächsten schien aus James‘ Kopf zu fallen. Remus hatte Sirius‘ Geburtstag und die Überraschungsparty von Evans verpasst und bei beiden Malen hatte er die Ausrede benutzt, dass seine Mutter krank gewesen wäre. Wieso hatte James es nicht vorher bemerkt? All diese Tage fielen auf einen Vollmond und an all diesen Tagen war Remus plötzlich krank gewesen, hatte jemanden besuchen müssen und war mehr als nur aggressiv und unnahbar gewesen. Er hatte Marlene zum Weinen gebracht, hatte seine Freunde angemeckert und war schrecklich schwach auf den Beinen gewesen. Und dann diese Narben… Sirius waren sie zuerst aufgefallen, aber ständig war Remus mit Narben zurückgekommen, für die eine Erklärung fehlte.
James starrte auf seine Hände. War das die Erklärung? Hatte Remus sich diese Narben selbst zugefügt, weil er ein Werwolf war? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Was dachte er denn da? Remus konnte kein Werwolf sein. Remus war sein Freund, ein lieber Junge, der gerne lernte und der für jeden Spaß zu haben war. Er war kein blutrünstiges Monster und er –
Schlagartig fiel es ihm an. Am Tag ihrer Ankunft, hatte Peter nicht einen Kommentar gemacht, dass es Werwölfe im Verbotenen Wald geben sollte und hatte Remus daraufhin nicht sehr seltsam reagiert? James hatte gedacht, der Junge hätte lediglich Angst vor den Kreaturen, aber – diese Reaktion… James war sich nicht mehr sicher, ob es wirklich Angst war.
Die Schlafsaaltür ging hinter ihm auf, Sirius und Peter traten ein und Sirius fragte ein wenig besorgt klingend: „Alles gut bei dir, Potter?“
James drehte sich um, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als aus seiner Kehle lediglich ein kratzendes Geräusch entkam.
„Hat dir jemand die Zunge an den Gaumen gehext?“
Kopfschüttelnd ließ James die Hände in den Schoß fallen. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Ist euch“, fing er, seine Stimme immer noch unsicher, „bei Remus je etwas seltsames aufgefallen?“
„Seltsam?“, fragte Peter. „Du meinst, noch seltsamer als er die meiste Zeit sowieso ist?“
„Was soll die Frage?“ Sirius stellte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen und zog die Augenbrauen zusammen.
„Ich – ich glaube, Remus ist ein –“, aber er brach ab, konnte es nicht über sich zu bringen, es auszusprechen, es eine Form außerhalb seiner Gedanken zu geben. James schämte sich, dass er überhaupt soetwas dachte, auch wenn alles darauf hindeutete. James glaubte nicht an Zufälle und selbst wenn er es getan hätte… drei Vollmonde, an Nächten, in denen Remus verschwand, die Stimmungsschwankungen, die wackligen Beine, die blasse Haut, die Narben. Es schien sich alles in seinem Kopf zu einem viel zu passenden Bild zusammenzusetzen. Er schüttelte den Kopf.
„Du bist hier derjenige, der sich gerade seltsam benimmt, Kumpel. Spuck‘s schon aus“, sagte Sirius, als James nicht weitersprach. „Was soll das, Potter? Willst du uns einfach nur einen Schrecken einjagen, oder hast du eine tolle, neue Entdeckung gemacht, die du nicht teilen willst? Du rennst wie von der Acromantula gestochen aus dem Gemeinschaftsraum, stellst komische Fragen über meinen Geburtstag und dann – oooh. Warte. Ich weiß es.“ Ein breites Grinsen erschien auf Sirius‘ Lippen und seine weißen Zähne blitzten im Schlafsaal auf. „Du willst mir ein besonders cooles Geschenk dieses Jahr besorgen, aber willst nicht, dass ich es mitbekomme.“
„Merlin, nein, hier geht es nicht um dich, Sirius“, seufzte James, fuhr sich durch die Haare und wischte dann mit der Hand übers Gesicht, wodurch er seine Brille schief zurückließ. „Okay, ich werd’s euch sagen, aber ihr müsst mir versprechen, nicht auszurasten, okay?“
„Jetzt machst du mir Angst“, murmelte Peter mit einem seltsamen Blick.
„Versprecht es einfach“, verlangte James scharf.
„Okay, okay! Merlin, beruhige dich mal.“ Sirius schüttelte den Kopf. „Welcher Niffler ist dir denn durch den Garten gelaufen?“
James wartete einen Moment, dann sagte er es einfach heraus: „Ich glaube, Remus ist ein Werwolf.“
Der Schlafsaal fiel in Stille. Das einzige Geräusch schien James‘ eigener, schneller Atem und sein pochendes Herz zu sein. Er konnte jeden Tropfen Blut in seinen Ohren rauschen hören, hörte jede Bewegung im Inneren seines Körpers, das Knacken seiner Gelenke, das Knistern seiner Nackenhaare, als sie sich aufstellten. Sirius und Peter starrten ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Ihre Blicke wechselten von überrascht, geschockt, belustigt, zu besorgt.
„Du meinst das ernst?“, fragte Peter nach einer viel zu langen stillen Ewigkeit. „Du denkst – du denkst echt, unser Mitbewohner Remus Lupin ist ein Werwolf? Der Remus, der jeden Morgen zwei Tassen Tee trinkt, weil er sonst nicht richtig wach wird und der Remus, der mehr als einmal vor dem Feuer im Kamin eindöst?“
„Okay, du hattest deinen Spaß, Potter“, murmelte Sirius. Der Junge fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Meine Fresse, für eine Sekunde dachte ich echt, du würdest das glauben. Darüber macht man keine Witze, James, okay?“
„Ich – was?“ James starrte ihn erschlagen an. „Das sollte kein Witz sein!“
„James, komm schon“, fing Sirius an. „Das kannst du einfach nicht ernst meinen. Hast du dir Remus schon mal angesehen? Der kann nie im Leben ein Werwolf sein.“
„Genau“, stimmte Peter nickend zu. „Was auch immer das sollte, witzig war es nicht.“
James ließ einen genervten Laut von sich. „Meint ihr, ich finde sowas witzig? Es jagt mir ‘ne Menge Angst an, überhaupt darüber nachzudenken! Ich meine – Remus ist mein Freund und ich glaube, er könnte ein Werwolf sein! Bin ich – bin ich hier das Arschloch? Bin ich einfach nur ein Idiot, der keine Ahnung hat?“ Er stand auf und fing an im Kreis durch den Schlafsaal zu gehen, sich der Blicke seiner beiden Freunde schmerzhaft bewusst. „Ich will doch auch nicht denken, dass Remus ein Werwolf ist, aber ich habe in diesem Buch über dunkle Kreaturen gelesen und die ganzen Symptome stimmen überein und dann hab ich die Mondtabelle überprüft und die Tage, an denen Remus verschwunden ist, stimmen mit der Vollmondnacht überein und – Merlin, ich will das nicht denken!“
„Dann hör auf!“, sagte Peter laut. „Das ist dein Freund, über den du so denkst. Hör auf.“
„Das will ich doch, aber was ist denn, wenn es wahr ist? Wenn ich richtig liege und Remus wirklich ein Werwolf ist?“
Peter schüttelte rasch den Kopf. „Das kannst du doch einfach nicht ernst meinen, James. Es gibt für alles sicher eine Erklärung und die hat nichts mit Werwölfen zu tun. Komm – komm schon, wir helfen dir, damit klarzukommen, nicht wahr?“ Peter warf einen Blick zur Seite. „Sirius?“
„Was für Symptome?“, fragte Sirius langsam.
„Was? Oh.“ James versuchte sich an die ganze Liste zu erinnern. „Stimmungsschwankungen, wenn der Vollmond nah ist – erinnert ihr euch daran, dass er Marlene zum Weinen gebracht hat? Er war den ganzen Tag schon mies drauf und dann hat er sie richtig angemeckert.“
„Er hatte einen schlechten Tag“, erwiderte Sirius. „Weiter.“
„An Tagen vor dem Vollmond ist er besonders hungrig, wird aber schnell schwach und kann das Essen kaum drin behalten.“
„Er ist mitten in der Pubertät, das geht jedem so. Weiter.“ Aber Sirius klang nicht so, als würde er seine eigene Erklärung glauben.
„Vorm Vollmond wird er blass und schwach und kränklich, schläft die ganze Zeit ein und hat nachts dann Schlafstörungen. Ist dir das nie aufgefallen?“, fragte James. „Ich – ich dachte immer nur, er würde einfach allgemein schlecht schlafen, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, dann –“, er ließ den Rest unbeendet in der Luft stehen.
„Kommt schon“, sagte Peter leise. „Das könnt ihr nicht ernst meinen. Remus kann doch kein – Remus ist kein Werwolf. Das ist unmöglich.“
„Weiter“, verlangte Sirius mit scharfer Stimme. Er hatte keine Erklärung genannt.
„Ständig verschwindet er für ein paar Nächte. Er windet sich aus den Fragen, wo er war, mit Antworten, dass er krank war oder seine Mutter besuchen musste. Aber“, James schluckte schwer, „wir haben seine Mutter getroffen. Sonderlich krank wirkte sie nicht auf mich.“
„Vielleicht geht es ihr jetzt besser“, versuchte es Peter mit einer nervösen Erklärung.
„Und dann die Narben“, sagte James. Er traf Sirius‘ Blick und er wusste, sie dachten beiden dasselbe.
„Die hat er sicherlich nicht von Zuhause“, murmelte Sirius leise. Er presste die Lippen zusammen, sodass die Haut rundum seinen Mund schrecklich weiß wurde. „Merlin.“ Sirius ließ sich an der Wand zu Boden fallen. „Die ganze Zeit über dachte ich, er wäre einfach ein wenig kränklich und würde deshalb so oft im Krankenflügel sein, aber… für diese Narben gibt es keine Erklärung, die sich richtig anfühlt, oder?“
„Ich weiß, du hast geglaubt, er hätte sie als Strafe bekommen, aber dann –“
„Dann hätte Dumbledore niemals zugelassen, dass er jeden Monat zurückfährt“, endete Sirius James‘ Satz. „Ich“, er brach ab. „Scheiße.“
„Leute!“, rief Peter laut aus. „Das könnt ihr doch nicht ernst meinen! Das ist Remus, über den wir hier reden. Unser guter Freund Remus, der kann kein Werwolf sein.“
„Wirklich nicht, Pettigrew? Wer hat dich zum Werwolfspezialisten gemacht?“, zischte Sirius säuerlich vom Boden aus. „Du kannst seine Stimmungsschwankungen und seine Fressattacken vielleicht erklären, meinetwegen auch seine Schlaflosigkeit, aber sein Verschwinden? Die Narben? Das seltsame Verhalten, wann immer man ihn darauf anspricht. Komm schon, Pettigrew, nicht einmal du bist so blöd.“
„Sirius“, sagte James erschöpft. „Hör auf Peter zu beleidigen, er – Merlin, ich versteh es doch auch nicht, Pete.“ Er warf dem anderen Jungen einen müden Blick zu. „Ich bin nicht gerade erpicht darauf, dass alle Symptome mit Remus übereinstimmen und ich jetzt denke, dass Remus ein Werwolf ist. Meinst du, ich finde es toll, meinen Freunden vorzuwerfen, dass sie irgendwelche Kreaturen sind?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Peter mit höherer Stimme als sonst. „Aber Remus? Wirklich, warum er?“
„Mal angenommen, es stimmt“, überlegte Sirius lautstark, wodurch er Peters nervöse Stimme übertönte, „dann muss Dumbledore es wissen, oder? Und wahrscheinlich Pomfrey auch. Jemand muss dafür verantwortlich sein, dass Remus einmal im Monat – verschwinden kann“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „und jemand muss da sein, damit er ihn wieder zusammenflicken kann.“
„Schätze schon“, erwiderte James.
Es wurde wieder still zwischen den Jungs, bevor Peter vorsichtig fragte: „Und wenn wir Remus einfach fragen?“
Sirius lachte boshaft auf. „Fantastische Idee, Pettigrew. Das wird eine ganz tolle Unterhaltung. Hey, Remus“, fing er an, eine hohe Stimme nachzuäffen, „hast du die Notizen für Verwandlung? Ich hab meine verloren. Achso und bist du zufällig ein Werwolf und rennst jeden Monat im Verbotenen Wald Amok?“
„Hast du eine bessere Idee, Black?“, blaffte Peter. „Du kannst dich gut beschweren, aber mehr machst du auch nicht.“
„Haltet beide die Klappe“, brummte James und rieb sich die Stelle zwischen seinen Augenbrauen. „Welcher Tag ist heute?“
„Samstag, warum?“
Statt zu antworten holte James seine Mondtabelle wieder hervor und verglich rasch Datum, Jahr und Monat miteinander. „Es ist heute“, meinte er dann leise. „Heute Nacht ist wieder Vollmond.“
„Remus müsste in der Bibliothek mit Evans sein“, meinte Sirius achselzuckend. „Wenn du ihn wirklich selbst fragen willst, dann guck da. Glaub aber nicht, dass er sonderlich erfreut sein wird.“
„Wir müssen ihn ja nicht fragen“, erwiderte James, der die Tabelle wieder weggesteckt und sich erhoben hatte. „Wir gehen zu ihm und weichen ihm einfach die ganze Zeit nicht mehr von der Seite.“
„Weil das auch überhaupt nicht auffällig ist“, brummte Sirius.
„Wir sind seine Freunde, es wird schon nicht auffällig sein, wenn wir Zeit mit unserem Freund verbringen wollen. Du musst ja nicht mitkommen“, fügte James hinzu, als er an Sirius‘ ausgestreckten Beinen vorbeiging.
„Okay, nein, ich komme mit“, murmelte der andere Junge. „Ich sage nur, dass es eine dämliche Idee ist.“
„Du hast aber keine bessere, also beschwer dich nicht.“ Für James war das Thema damit gegessen. Er ging mit Sirius und Peter im Schlepptau an den fleißigen Schülern im Gemeinschaftsraum vorbei, vorbei an der Fetten Dame, die kaum mehr murmelte, als sie gestört wurde und vorbei an den dutzenden Portraits und Gemälden, die im Treppenhaus hingen, bis sie den ersten Stock erreichten. Kaum hatte sie allerdings den Korridor betreten, der in die Bibliothek führte, wurden James‘ Schritte schwerer, langsamer. Er wollte nicht daran denken, wie er reagieren würde, wenn ihm jemand unterstellen würde, ein Werwolf zu sein. Er musste daran zurückdenken, wie Remus damals reagiert hatte, als er, James, beschlossen hatte, dass sie jetzt alle Freunde wären. Es war, als hätte der blässliche Junge niemals im Leben auch nur daran gedacht, dass er jemand Freunde haben würde und so dankte James es ihm… indem er glaubte, Remus wäre ein Werwolf.
„Wir können jederzeit umdrehen und vergessen, dass du dieses Thema jemals angesprochen hast“, murmelte Sirius hinter ihm.
James drückte die Schultern durch. „Nein. Ich brauche die Gewissheit.“ Es war egoistisch, ja, das war ihm mehr als bewusst, aber James könnte nicht einfach weitermachen, als wäre nie etwas gewesen, wenn doch immer der Gedanken in seinem Hinterkopf klopfen würde. In den dunklen Stunden zwischen Wach und Schlaf, wenn James in seinem Bett liegen würde, dann würde dieser Gedanke ein jedes Mal wieder hervorkriechen und er würde sich jedes Mal wieder fragen, ob es wahr sein könnte oder nicht. Und James beschloss, dass es besser war, jetzt zu handeln. „Los.“