Sirius Black
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Aus der großen nächtlichen Erkundungsrunde wurde im Nachhinein nichts mehr. Mit der Gefahr, dass sie Narzissa auf dem Weg in die Kerker direkt in die Arme laufen würden, trafen die Rumtreiber die Entscheidung, es für diese Nacht sein zu lassen. Sie schlichen sich die Eingangshalle wieder zurück, entkamen dabei nur knapp Professor Sprout, die summend aus der Großen Halle trat, und folgten mit vorsichtigen Schritten den Treppen rauf in den siebten Stock, immer darauf bedacht, keines der Gemälde zu wecken oder geradewegs in Professor McGonagall zu laufen.
Sirius schwirrte der Kopf. Seine Cousine hatte sich zu Weihnachten von ihrer besten, kühlen Seite gezeigt, hatte gelächelt, wann immer sie Lächeln sollte und dann gesprochen, wann immer sie reden sollte. Sie hatte nicht eine Sekunde durchscheinen lassen, dass ihr die Situation nicht gefiel, dass sie ihre Schwester vermisste oder dass sie lieber mit all dem nichts zu tun haben wollte. Vielleicht, dachte Sirius, als sie das Portrait der Fetten Dame erreichten, gab es in seiner Familie doch mehr Arten der Rebellion als seine eigene.
„Drachenschuppen“, sagte James an der Spitze.
„Schraggenduppen“, murmelte die Fette Dame im Schlaf, grunzte lautstark und drehte sich mit dem Aufschwingen ihres Gemäldes auf die andere Seite.
Anstatt über Sirius' merkwürdige Familie reden zu wollen, schnitt James ein gänzlich anderes Thema an, kaum dass sie im ausgestorbenen Gemeinschaftsraum angekommen waren. „Ich habe nachgedacht“, fing er an.
„Das kann wieder was werden“, murmelte Peter müde klingend.
James beachtete ihn nicht. „Es wäre schön und gut, wenn wir all diese Geheimnisse finden, aber wie merken wir die uns alle? Und wie vermeiden wir es in der Zukunft, dass wir uns nicht in Besenkammern quetschen müssen?“
„Ich vermute mal nicht, dass dein Vorschlag ist, dass wir gar nicht erst das Bett verlassen“, erwiderte Remus.
„Im Gegenteil, Lupin, im Gegenteil“, sagte James. „Aber ich hatte außerdem einen brillanten Einfall. Was, wenn wir es irgendwie schaffen würden, immer genau zu wissen, wo sich jede Person in dieser Schule befindet?“
Sirius zog die Brauen zusammen. „Du meinst sowas wie -“
„Wie eine Karte, ganz genau!“, schloss James aufgeregt seinen Satz. „Stellt euch doch nur mal vor, wie praktisch es wäre! Wir würden immer sehen, wo Gonnie oder Schniefelus sich aufhalten und müssen sie nicht suchen. Wir könnten alle Geheimnisse und Gänge darauf vermerken und könnten überall auftauchen, wo wir es wollen.“
„Das würde eine ganze Menge an komplizierter Magie erfordern“, sagte Remus langsam, klang aber nicht abgeneigt.
„Aber es wäre machbar“, erwiderte James.
„Und es würde uns ziemlich helfen“, meinte Sirius.
„Aber wie stellen wir sowas an?“, fragte Peter, der aussah, als würden ihm die Haare rauchen. „Das klingt viel zu kompliziert für uns.“
„Ah, sag sowas nicht, Pete. Hab ein wenig Vertrauen in die Rumtreiber.“ James grinste gewinnend.
„Ich vermute mal, das Schloss ließe sich mit einer Art Verfolgungszauber auf Pergament zeichnen. Dafür müsste man wahrscheinlich jede Wand und jedes Zimmer abgehen, aber es ließe sich bewerkstelligen“, meinte Remus nachdenklich. „Was Personen betrifft, bin ich mir nicht sicher, aber ich wette, darüber würde ich etwas in der Bibliothek finden.“
„Genial“, sagte James. „Ich wusste, ich könnte dich davon überzeugen, Remus.“
Remus lächelte schief. „Es ist eine ziemliche Herausforderung, aber definitiv machbar. Es wird aber dauern.“
„Wie gut, dass wir noch fünf Jahre Zeit haben“, entgegnete Sirius grinsend.
„Ich hätte sowas aber lieber, bevor wir die Schule verlassen“, meinte James achselzuckend. „Sonst bringt uns eine Karte recht wenig, wenn wir das Schloss nicht von innen sehen.“
„Okay, dann eben vier Jahre“, sagte Sirius und verdrehte die Augen. „Reicht dir dieser Zeitraum, oh großer James Potter?“
„Annehmbar“, erwiderte James mit gerecktem Kinn, bevor er grinsend an Sirius vorbeiging. „Und jetzt ab ins Bett, Männer. Wir müssen Energie tanken.“
Es gab keine Widerworte, dafür aber zustimmendes Gähnen von Peter, der sich das nicht zwei Mal sagen ließ. Sie verließen den Gemeinschaftsraum, kletterten die Treppen zum Schlafsaal hoch und begaben sich auf Zehenspitzen zu ihren Betten. Sirius wartete in seinem Bett, bis er sich sicher war, dass die anderen schliefen (allen voran das leise Schnarchen von James, der dem von Monty Konkurrenz machte), dann schwang er die Beine auf den Boden. Im Mondlicht tapste er zu Remus' Bett.
Die Vorhänge waren zugezogen, aber der dumpfe Schein von goldgelbem Licht strahlte durch den Stoff, wie ein Leuchtturm, der durch den dichten Nebel strahlte. Für einen Moment blieb er stehen, die Hand erhoben, als wollte er anklopfen und fragte sich, was er überhaupt tat. Wieso zog es ihn zu Remus, wenn der Rest der Welt schlief, wieso gerade er?
Sirius wollte nicht denken. Er zog am Vorhang, bis er Remus' von Zauberstablicht erleuchtetes Gesicht sah. Der andere Junge verzog nicht einmal die Miene. Er sagte: „Komm rein“, drückte seine brennenden Finger in Sirius' Hand und zog ihn durch den Vorhang.
„Tut mir leid“, murmelte Sirius.
Remus lächelte. „Warum? Wir sind doch eh wach.“
„Aber du bist sicherlich müde.“
„Dann hätte ich nicht gewartet“, sagte Remus. „Ich wusste, dass du irgendwann kommen wirst.“
Sirius verzog das Gesicht. Wann war er so vorhersehbar geworden? Wann war es zur Routine für ihn geworden, sich in Remus' Bett zu schleichen, damit sie mit gedämpften Stimmen reden konnten? Nicht wissend, ob es gut oder schlecht war, zuckte er lediglich mit den Schultern.
Verständnis lag in Remus' Blick. Mit überkreuzten Beinen saß er auf seiner Bettdecke und wartete. Kein Drängen, kein Pressen, kein Fragen.
Sirius schluckte. Er sah auf seine Finger, die sich ungewollt ineinander verschlungen hatten, sah zu, wie seine bleiche Haut im goldenen Licht glänzte und Schatten warf, wann immer er sich bewegte. Ungeduld regte sich in ihm. Die Erinnerungen in seinem Kopf waren blass und verschwommen, als würde er durch ein verschmutztes Fenster gucken. Er war sich nicht sicher, was wirklich passiert war und was er geträumt hatte, aber einer Sache war er sich ziemlich sicher: Seine Mutter hatte irgendwas damit zu tun.
„Du bist sehr still“, sagte Remus schließlich mit der verdammten Geduld eines Heiligen in der Stimme. „Wenn du nicht reden willst, dann -“
„Ich glaube, ich war unter dem Imperius.“ Sirius hatte nicht vorgehabt, Remus zu unterbrechen, aber seine Zunge war schneller als sein Kopf. Er biss sich auf die Lippe.
Die silbernen Narben stachen deutlich hervor, als Remus' Gesicht an Farbe verlor. Das Lächeln war ihm gefroren. Seine Nägel kratzten mit einem unangenehmen Geräusch über das Laken. „Bist du sicher?“
„Ich ... nicht unbedingt. Ich weiß nicht, ob es das ist, was ich fühle, aber ...“ Seine Stimme versagte ihm. „Ich kann mich nicht daran erinnern, was an Weihnachten passiert ist“, gab er schließlich zu.
„Wieso denkst du dann direkt an den Imperius?“, fragte Remus mit sanfter Stimme. „Wäre ein Gedächtniszauber nicht naheliegender? Obliviate zum Beispiel?“
Sirius hob die Hand, ließ sie aber direkt wieder fallen. „Unverzeihliche Flüche liegen meiner Familie eher“, erwiderte er langsam. „Außerdem ... außerdem weiß ich noch ein paar Sachen. Ich weiß, dass ich mit meinen Eltern und Regulus zum Malfoy Manor gefloht bin und mich mit Narzissa unterhalten hab, aber ... danach ist alles verschwommen.“
„Vielleicht weiß deine Cousine etwas?“, fragte Remus vorsichtig, aber Sirius schnaubte abschätzig. „Hast du sie denn gefragt?“
„Nein“, murmelte der Black-Erbe. „Wozu? Ich weiß wo ihre Loyalitäten liegen. Sie würde meine Mutter nicht verraten, dafür liegt ihr zu wenig an mir.“
Remus presste die Lippen aufeinander, bis die Haut ringsum weiß wurde. „Und dein Bruder?“
Sirius spürte, wie seine Schultern sich automatisch anspannten. „Nein“, erwiderte er barsch. „Nein, ich will nicht mit ihm darüber reden.“ Die Wahrheit war, dass er auch schon daran gedacht hatte, sich aber nicht dazu aufraffen konnte. Sein Bruder hatte tatenlos zugesehen, als seine Mutter den Cruciatius-Fluch gewirkt hatte und hatte nicht versucht mit Sirius zu reden oder ihn zu fragen, wie es ihm ging. Er wusste nicht, was Regulus sagen würde, sollte Sirius ihn zu Weihnachten befragen. Würde er die Wahrheit sagen? Würde er seiner Mutter zuliebe lügen? Sirius war sich nicht sicher, was schlimmer wäre und er war nicht scharf drauf es herauszufinden.
„Aber wenn er doch -“, fing Remus an.
„Ich sagte Nein.“ Sirius' Stimme war lauter als beabsichtigt, aber er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen. „Ich will Regulus nicht in meine Probleme ziehen.“
Remus sah aus, als würde er liebend gerne etwas erwidern, biss sich aber auf die Lippen und blieb stumm. Es war nicht schwierig herauszufinden, was er sagen wollte: „Das ist er bereits.“
„Es war dumm“, sagte Sirius und schob ein Bein durch den Vorhang. „Ich lass dich in Ruhe. Gute Nacht, Re-“
Ein paar vernarbte, warme Finger griffen nach Sirius' Handgelenk, als er aufstehen wollte. „Tut mir leid“, flüsterte er. „Es ist deine Entscheidung, ich weiß, ich ... wir machen uns nur Sorgen um dich. Wir alle, weißt du?“
Die Falten auf Sirius' Stirn glätteten sich, er ließ die Schultern sinken. „Ich weiß“, erwiderte er murmelnd. Langsam zog er das Bein wieder zurück. Sein Blick fiel auf Remus' Finger. „Ich will nur nicht ...“ Er wusste nicht einmal, was er wollte. Er wollte seinen Freunden keine Sorgen bereiten, er wollte seiner Familie Paroli bieten, er wollte seinen Bruder beschützen. Es gab zu viel, was er wollte, und er hatte das Gefühl, nichts davon erreichen zu können.
„Ich weiß“, sagte der andere verständnisvoll. „Aber du kannst nicht alles und jeden von dir stoßen, Sirius. Du brauchst uns.“
Es war dumm, wirklich, und überhaupt nicht für einen Black-Erben vorhergesehen, aber Sirius spürte, wie seine Augenwinkel anfingen zu brennen. „Ich will nicht ihre Marionette sein“, sagte er schließlich. „Aber was kann ich schon tun? Wahrscheinlich sollte ich auf Regulus hören und einfach tun, was sie verlangt, dann ...“
„Dann hast du schon verloren“, erwiderte Remus vorsichtig. „Und das würde nicht zu dem Sirius Black passen, den ich kenne. Seit wann gibst du einfach auf?“ Ein schmales Lächeln legte sich auf Remus' Lippen und es strahlte heller als seine gleißend leuchtende Zauberstabspitze.
Sirius stöhnte. „Du sollst nicht immer Recht haben“, murrte Sirius. „Ich hasse das.“
„Zu blöd.“ Eine Pause, dann: „Versuch mit ihm zu reden, okay?“
„Okay.“ Vielleicht, hängte er in Gedanken an.
Remus murmelte: „Nox“, und das Licht an seinem Zauberstab erlosch. Er legte ihn beiseite und schob seine Füße unter die Decke. „Du ... du kannst bleiben, wenn es dir dann besser geht.“
Sirius schnaubte belustigt. „Keine Sorge, ich bleibe, damit du keine Albträume bekommst, Lupin.“
„Ha. Du bist zu gut zu mir.“ Selbst ohne Licht war sein Augenrollen gut zu sehen.
„Ich kann einfach nicht anders.“ Sirius fand seinen Weg unter die Decke. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Ein unverkennbarer Geruch lag über Remus' Bett, gänzlich vertraut und beruhigend.
Wahrscheinlich würde er diese Nacht derjenige ohne Albträume sein, dachte er, gähnte und drückte seinen Kopf tiefer in Remus' Kissen. Ihre Atemzüge wurden langsamer und schließlich waren beide Jungen eingeschlafen, ihre Hände fingerbreit voneinander entfernt.