Petunia Evans
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Das unmissverständliche Läuten einer Türklingel durchbrach die sommerliche Stille im Evans-Haushalt. Nur Sekunden später wurde die Lautstärke des klobigen Fernsehers im blumigen Wohnzimmer aufgedreht und die Stimme eines jungen Mädchens schrie: „Jemand ist an der Tüü-hür!“ Das Mädchen hatte helles, blondes Haar, das sie in einer Frisur trug, die eindeutig zu erwachsen für jemanden ihres Alters war und hatte ein langes, beigefarbenes Kleid an, auf dem kleine Rosenblüten zu sehen waren. Sie war dünn und hatte ein längliches Gesicht, ihre hellen Augen auf die Mattscheibe gerichtet, auf der gerade eine spannende Gerichtsshow gezeigt wurde.
Niemand im Haus antwortete. Das Geräusch eines Ventilators, der sich im langsamen Takt im Halbkreis drehte, war die einzige Antwort, die Petunia Evans bekam. Wenige Momente später klingelte es erneut. Wütend griff sie nach der Fernbedienung und erhöhte die Lautstärke noch mal, bevor sie die Gerätschaft beiseite warf. Die Fernbedienung rutschte von der dunkelgrünen Couch und kam scheppernd auf dem Boden auf, wo das Batteriefach aufsprang und sein Inhalt unter die Sitzgelegenheit rollte. „Mama!“, schrie Petunia. „Jemand ist an der Tür!“ Ihre Stimme war nicht sehr angenehm, wenn sie so laut schrie, das wusste Petunia sehr wohl, aber es war ihr auch ziemlich egal. Sie wollte in Ruhe ihre Sendung genießen und dabei nicht von so banalen Pflichten wie dem Öffnen der Haustür gestört werden. Petunia schüttelte kurz ihren Kopf, damit ein paar rebellische Strähnen zurück an ihren Platz fielen. Sie konnte es kaum erwarten, bis die Jurorin im Fernseher endlich das Gerichtsurteil nennen würde. Ein schrecklich aussehender Mann mit wilden Haaren und einer hässlichen Lederjacke war verurteilt worden, seine Freundin umgebracht zu haben. Für Petunia gab es nichts Spannenderes an diesem heißen Sommertag, als eine Gerichtsshow zu gucken und vielleicht ein zuckerreduziertes Eis zu genießen, während ihr Vater den ganzen Tag bei der Arbeit war und ihre Mutter in Ruhe ein paar häusliche Pflichten erledigte.
Ein drittes Mal läutetes es an der Tür, dieses Mal gleich doppelt, gefolgt von einem Klopfen und einer gedämpften Stimme, die rief: „Ich weiß, jemand ist da.“
Petunia schnaubte. Sie kannte diese Stimme, gehörte sie doch zu diesem Snape-Jungen, mit dem ihre Schwester Lily ständig abhing. Snape war ein sehr seltsamer Junge, fand Petunia. Er sah immer ein wenig ungepflegt aus, aber das überraschte sie auch nicht wirklich. Er kam von der anderen Seite der Stadt und lebte in einer schmutzigen Straße in der Nähe der Fabrik. Petunia hasste es, wenn er es wagte, in ihren schönen, sauberen Teil der Stadt zu kommen und sich mit seinen zu großen Sachen und den schmutzigen Haaren auf ihre Veranda stellte und dann auch noch an ihrer Tür klopfte. Was sollten denn nur die Nachbarn denken, wenn sie den Snape-Jungen schon wieder bei ihnen sahen? Nachher würden sie noch denken, Petunia würde mit ihm verkehren! Es war ihr einfach nur schleierhaft, wie Lily mit einem Freak wie Snape zusammen sein konnte – aber dann wiederrum war ihre Schwester ja auch ein Freak.
Wie schön Petunias Leben gewesen wäre, wenn ihre kleine Schwester Lily genauso normal gewesen wäre wie sie. Dann hätten sie auf dieselbe Schule gehen können, Petunia hätte Lily jetzt beigebracht, wie man sich die Nägel lackierte und sie wäre mit ihr zum Einkaufen gegangen. Sie und Lily hätten sich noch immer ein Zimmer teilen können und sie hätten bis spät in die Nacht in den Magazinen geblättert, die Petunia beim Kiosk kaufte. Petunia hätte Lily ein Quiz vorlesen können, damit sie herausfinden würden, welche Art Junge zu ihr passte. Sie wären wie zwei ganz normale Schwestern gewesen, aber dann musste Lily ja einfach abhauen und auf diese Freak-Schule gehen und freakige Dinge lernen. Und am allerschlimmsten? Sie war auch noch stolz darauf! Lily war stolz, dass sie ein Freak war und sie war aufgeregt gewesen, auf diese schreckliche Schule zu gehen! Petunia würde es nie verstehen, wie Lily so anders sein könnte.
Es klingelte erneut und mit einem wütenden Aufschrei sprang Petunia Evans auf. „Verschwinde doch einfach“, schrie sie, marschierte aber dennoch auf die Tür zu, um sie mit viel zu viel Schwung aufzureißen, sodass sie kurz das Gleichgewicht verlor. Da stand er nun mit seinem erschrockenen Gesicht und den schmutzigen Haare, die Petunia nicht einmal mit Handschuhen anfassen wollte. Der Snape-Junge trug eine ausgebeulte Hose, die an beiden Knien zerrissen war und ein T-Shirt, dass ihm sicherlich fünf Nummern zu groß war; es hing wie ein großer Kartoffelsack an seinen schmalen Schultern herab, ebenfalls mit ein paar Rissen und Ölflecken verziert. Petunia rümpfte die Nase – sie würde ihr Kind niemals so herumlaufen lassen!
„Ist Lily da?“, fragte der Snape-Junge.
„Nein“, schnappte Petunia. „Ist sie nicht. Sie ist mit – mit Leuten aus ihrer Freakschule weg.“ Und dann, weil sie sich nicht beherrschen konnte, fügte sie mit einem hochnäsigen Grinsen hinzu: „Hat sie dich etwa nicht eingeladen? Schätze sogar auf der Schule für Freaks bist du ein Oberfreak.“
„Muggel“, spuckte Snape aus. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du bist nur neidisch auf Lily und –“
„Neidisch“, kreischte Petunia lauthals, sodass der Snape-Junge einen Schritt zurückwich. „Ich bin doch nicht neidisch auf meine freakige Schwester!“
„Das hat dein Brief an Dumbledore aber anderes gesagt. Oh, Professor, bitte lassen Sie mich auch an ihre Schule kommen, ich will auch Magie wie meine Schwester lernen, oh bitte, bitte!“, äffte Snape eine hohe Mädchenstimme nach. Ein hässlichen Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Erbärmlich.“
Petunia wurde heiß im Gesicht und sie blies die Wangen auf. „Du widerlicher, ekliger, dreckiger, schmutziger – du – du Wicht! Du bist neidisch auf mich, ha! Du würdest auch gerne in einen schicken Haus wohnen und hättest gerne Eltern, die dich lieb haben, aber die hast du nicht, also feindest du – AH!“
Snape hatte einen dünnen Stock aus seiner Hose gezogen – ein Zauberstab, wie Petunia widerwillig erkannte – und ihn auf ihr Gesicht gerichtet. „Wag es nicht“, zischte er leise. „Wag es ja nicht!“
„Du – du darfst das nicht“, wimmerte Petunia, die langsam ihre Füße zurückschob und mit der Hand hinter ihrem Rücken nach der Türklinke suchte. „Lily hat es mir gesagt. Das darfst du nicht in den Ferien machen!“ Sie deutete panisch auf den Stab in Snapes Hand. „Dann schmeißen die dich raus, hat sie gesagt.“
„Einmal kann immer verziehen werden“, lächelte Snape mit einem düsteren Lächeln. „Ich hab schon die ganze Zeit nach einem Opfer gesucht, an dem ich meinen Zauberspruch anwenden kann und du –“
Petunia würde nie erfahren, was sie denn war, denn in dem Moment ertönte die entsetzte Stimme ihrer Schwester und – Petunia würde es niemals zugeben – aber sie war froh, Lily zu sehen.
„Sev! Was machst du denn da!? Nimm sofort den Zauberstab runter, was denn dich jemand sieht?“ Mit wehenden roten Haaren rannte Lily die Auffahrt zu ihrem Haus hinauf, zwei Mädchen im Schlepptau, deren Namen Petunia schon längst wieder vergessen hatte. Es waren hässlich gewöhnliche Namen gewesen, soviel wusste sie noch.
„Sie hat mich beleidigt“, zischte Snape leise, als Lily neben ihm auftauchte und sein Handgelenk herunterdrückte. Sein Blick fiel auf die beiden Mädchen, die Lily gefolgt waren und sein Gesichtsausdruck wurde noch ein wenig düsterer. „Was machen die hier?“
„Sie besuchen mich“, sagte Lily knapp. „Lenk nicht ab. Sev, du weißt doch, dass du nicht zaubern darfst. Und du“, sie wandte sich mit funkelnden Augen an Petunia, „hör auf meine Freunde zu beleidigen, Tuni.“
„Freunde“, höhnte Petunia. Ihre schlanken Finger hatten die Türklinke gefunden und mit der Fähigkeit, sich schnell wieder ins Haus zu verziehen, fühlte sie sich etwas mutiger in ihrer Haut. „Du meinst wohl Zirkusverein, den du um dich scharst. Ihr seid doch alles Freaks, das ist es. Freaks die zusammen auf einer Freakschule sind und dort freakige Dinge lernen!“
„Und ich dachte schon, du würdest in deinen Beschreibungen übertreiben, Lily. Die ist ja wirklich total garstig“, murmelte Mädchen Eins.
Petunia deutete mit dem Finger auf Lily. „Und rede nie wieder über mich mit deinen freakigen Freunden, Lily! Ich will nicht, dass die irgendwas über mich wissen!“
„Glaub mir, ich würde auch gerne darauf verzichten, dich zu kennen“, erwiderte Mädchen Zwei.
Aufgebracht wirbelte Petunia herum und ohne einen Blick zurück auf ihre Schwester und ihre Bande an Freaks zu werfen, knallte sie die Haustür hinter sich zu. Sie ließ einen wütenden Schrei von sich, bevor sie wieder ins Wohnzimmer stapfte und die Fernbedienung vom Boden aufsammelte. Ein paar Sekunden lang presste sie wie wild auf dem Lautstärkeknopf herum, bis sie realisierte, dass die Batterien herausgefallen waren und wütend schmiss die die Fernbedienung erneut von sich.
Es war alles Lilys Schuld, dachte sie aufgebracht. Es war alles nur wegen Lily und ihrer Freak-Fähigkeit. Lily, die perfekte kleine Lily, die ja unbedingt anfangen musste, Blumen in ihren Fingern blühen zu lassen und Lily, die von der Schaukel springen und ein paar Meter durch die Luft gleiten konnte und Lily, die von Zaubertränken und Zaubersprüchen redete, als wäre es vollkommen normal. Petunia stampfte mit dem Fuß auf. Alles wäre besser, wenn Lily doch einfach das ganze Jahr über auf dieser freakigen Schule bleiben könnte!