Lily Evans
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Der Brief verschwand in ihrer Tasche, die am Boden stand und Lily schob jegliche Gedanken an Petunia beiseite. Sie wollte die guten Erinnerungen an Weihnachten nicht dadurch ruinieren, dass sie Petunia erneut in schlechtes Licht tauchte, also schob sie ihre Schwester vorerst in die hinterste Ecke ihres Kopfes. Sie blickte zu Pallas, die sich weiterhin von Marlene streicheln und mit kleinen Stücken Wurst füttern ließ.
„Hast du mich etwa jetzt schon verraten?“, fragte sie die Eule, die sie nur mit großen Augen anblickte. Lily seufzte. „Schon verstanden. Mit Essen gewinnt man also dein Herz.“
Marlene grinste sie über Pallas´ weichen Kopf hinweg an. „Sieht so aus, als hätten deine Eltern eigentlich mir eine Eule geschenkt.“
„Dann kannst du sicherlich auch den Dreck wegmachen, den sie verursachen wird“, entgegnete Lily lächelnd.
„Bei genauerer Überlegung …“
Was genau Marlenes genauere Überlegung war, erfuhr Lily nicht mehr, denn in dem Moment kamen zwei weitere Personen an ihren Tisch gelaufen, die mit lauten Stimmen: „Alles Gute zum Geburtstag, Lily!“, riefen. Es waren Emmeline und Dorcas, die mit ihren Ravenclaw-Krawatten von einigen Gryffindor-Schülern kritisch beäugt wurden, als wären sie geheime Spione, die ihre Hausgeheimnisse klauen wollten.
Emmeline ließ sich neben Mary nieder, während Dorcas um den Tisch joggte und neben Marlene auf einen Sitz fiel. Die beiden Mädchen grinsten. „Wie fühlt es sich so an?“, fragte Dorcas.
„Dreizehn“, fügte Emmeline an. „Du musst dich unfassbar alt und weise fühlen.“
„Auf jeden Fall“, erwiderte Lily lachend. „Ich kann mich kaum noch an meine unsinnigen, zwölfjährigen Gedanken von vor sechzehn Stunden erinnern.“
Emmeline nickte langsam. „Es muss schön sein, so viel schlauer als der Rest zu sein.“
„Es ist aber auch wahnsinnig anstrengend“, meinte Lily. „Immer kommen alle mit ihren Probleme zu mir.“
„Zum Beispiel?“, schnaubte Dorcas belustigt, die ebenfalls dazu übergegangen war, Pallas zu streicheln.
Die kleine Eule ging regelrecht in all der Aufmerksamkeit unter. Von allen Seiten wurde sie mit Kleinigkeiten gefüttert. Pallas schuhute glücklich und hüpfte auf der Stelle, wie ein lebendig gewordener Flummi.
„Erst heute Morgen musste ich meinen weniger intelligenten Klassenkameradinnen einen Brief vorlesen, weil – aua, okay, tut mir leid!“, rief sie aus, als Mary ihr gegen den Oberarm boxte. „Eigentlich fühle ich mich kaum anders als zuvor.“
„Das kommt bestimmt noch. Als jemand, der ebenfalls älter und weiser als die meisten ist“, sagte Dorcas, wobei sie Emmeline einen vielsagenden Blick zuwarf, „verstehe ich nur zu gut, wie es ist, anders zu sein.“
Emmeline verdrehte die Augen. „Jetzt geht das wieder los.“
„Wir älteren Mädchen müssen zusammenhalten“, führte Dorcas fort, wobei sie Emmelines Kommentar überging. „Die anderen verstehen einfach nicht, wie es ist, älter zu sein und damit soviel mehr Verantwortung zu tragen.“
„Was heißt hier Verantwortung“, unterbrach Emmeline sie. „Du schaffst es ja nicht einmal deine schmutzigen T-Shirts aufzuheben.“
Marlene kicherte hinter einer Hand, während Dorcas leicht das Kinn in die Höhe hob. Ihre dunklen Locken wippten bei jeder Bewegung auf und ab. „Ich tue so, als hätte ich deinen neidischen Kommentar überhört.“
„Wie auch immer. Was hast du bekommen, Lily?“, fragte Emmeline neugierig.
„Sie“, erwiderte sie grinsend und deutete auf die glückliche Pallas, die sich in Marlenes Hand drückte.
„Ohhhh, ernsthaft? Oh, sie ist so süß“, meinte Dorcas.
„Meine Eltern haben sie mir geschickt“, erklärte Lily. „Sie sind Muggel und wussten nicht, wie sie sonst mit mir im Kontakt bleiben sollen, also haben sie mir eine Eule gekauft. Auch wenn ich nicht weiß, wie sie überhaupt an eine gekommen sind. Ich glaube nicht, dass sie allein die Winkelgasse kommen.“
„Kennen sie andere magische Leute?“, fragte Mary, die jetzt ebenfalls nachdenklich dreinblickte. „Meine Mum ist auch mal allein in die Winkelgasse gegangen, weil sie vor dem Tropfenden Kessel darauf gewartet hat, dass jemand vorbeikam, der wie ein Zauberer aussah, der sie dann reingelassen hat.“
„Hm. Vielleicht“, gab Lily zu. „Ich bin nicht sicher, das einzig andere magische Kind in meiner Nähe wäre Severus, aber ich glaube nicht, dass meine Mum seine Mum sonderlich leiden kann.“
Als hätte er seinen Namen durch die ganze Halle hinweg gehört, hob Severus Snape auf der anderen Seite den Kopf, traf Lilys Blick und lächelte. Er stand auf und schob sich mit seinem leicht schlurfenden Gang durch die Tische, bis er vor Lily stehen blieb. Für die anderen am Gryffindor-Tisch hatte er zwar keinen Blick über, aber sein Lächeln fühlte sich echt an, als er sagte: „Alles Gute, Lily“, und dann ein kleines, in silbernes Papier gewickeltes Päckchen aus seiner Umhangtasche zog. „Kannst es ruhig später aufmachen“, murmelte er, einen raschen Seitenblick auf Mary werfend, die das Geschenk neugierig taxierte.
„Oh, sei nicht unsinnig, Sev“, sagte Lily strahlend und rutschte ein wenig näher an Mary heran. „Komm schon, setz dich zu uns!“
Severus verkeilte seine Finger ineinander. „Ich weiß nicht“, murrte er. „Eigentlich wollte ich …“ Er ließ den Rest ungesagt, blickte aber für einen Augenblick über die Schulter.
Lily folgte seinem Blick und entdeckte die Gesichter von Ennis Mulciber und Nestor Avery am Slytherin-Tisch, die ihren Freund beobachteten. Sie reckte das Kinn. „Kommt nicht in Frage“, sagte sie und tat so, als hätte sie nicht gesehen, zu wem er lieber zurückkehren wollte. Sie zog an seinem Ärmel und zwang ihn damit, sich am Tisch niederzulassen. „Es ist mein Geburtstag, da kannst du auch mal bei mir sitzen. Guck doch, meine Eltern haben mir eine Eule geschenkt!“
Seine Augen wurden etwas größer, als er das kleine Geschöpf betrachtete, dann entspannten sich seine Schultern. „Das ist sehr nett von ihnen“, sagte er.
In ihren Mundwinkeln zuckte es. Das silberne Papier knisterte in ihren Fingern, als sie an einer Ecke riss.
„Lily!“, sagte Severus entsetzt.
Sie grinste ihn allerdings nur auf. „Nichts da“, meinte sie. „Ich muss sehen, was du mir gekauft hast.“
Seine hellen, blassen Wangen wurden eine Nuance dunkler und er wendete den Blick ab, wobei er sichtlich darauf achtete, niemandem sonst in die Augen zu sehen. Severus murmelte etwas – zumindest ging Lily davon aus, denn seine Lippen bewegten sich – aber sie verstand nicht was.
Unter dem silbernen Papier lag eine kleine Schachtel aus schwarzem Stoff. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie hoffte, auch wenn es seltsam klang, dass er ihr keinen Schmuck gekauft hatte, aber dann schalt sie sich selbst dafür. Sie wusste nur zu gut, dass Severus nicht genug Geld für sowas hatte, ohne es irgendwie böse zu meinen. Sie selbst hatte ja auch nicht Unmengen an Geld, das sie für so Nichtigkeiten verprassen konnte, auch wenn ihre Familie im Vergleich zu der von Severus fast schon vermögend war. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sie die Schachtel.
Passend zum silbernen Papier glänzte ein silbernes Messer auf dem schwarzen Samt. Die Klinge spiegelte Lilys eigenes Gesicht ein wenig verzerrt wider und der Griff war schlank und schlicht, lediglich mit einem winzigen durchsichtigen Stein besetzt, der sicherlich kein Diamant war, aber trotzdem wunderschön aussah.
Severus´ Wangen wurden noch dunkler, als nicht nur Lily sondern auch all ihre Freundinnen mit großen Augen das Messer anschauten, das im Licht der hunderten Kerzen glänzte und glitzere. „Du hast dich darüber beschwert, dass dein Messer für Zaubertränke so stumpf ist“, sagte er leise, ohne den Blick zu heben. „Deswegen hab ich gedacht, du kannst vielleicht ein neues gebrauchen …“
„Oh, Sev, das ist ein wunderbares Geschenk! Vielen, vielen Dank!“ Lily unterdrückte den Drang, ihn seitlich zu umarmen. Nicht nur, dass er körperlichen Kontakt nicht wirklich mochte, vor den Augen all ihrer Freundinnen wäre es ihm sicher noch unangenehmer. Sie drückte den Deckel wieder auf die Schachtel, legte sie vorsichtig auf den Rest vom silbernen Papier und strahlte ihren besten Freund an.
Sevs Mundwinkel zuckten. „Keine Ursache, Lily. Vielleicht …“
„Wir sollten los zum Unterricht, oder?“, unterbrach Dorcas ihn. „Wir haben noch zehn Minuten.“
„Oh. Oh Merlin, schon so spät?“ Lily hätte vor Schreck fast ihren Krug mit Saft umgestoßen. Sie schnappte sich die Schachtel und legte sie in ihre Tische, direkt auf den Brief ihrer Eltern. Dann hielt sie inne. „Was mach ich denn jetzt mit Pallas?“
„Wie meinst du das?“ Marlene blickte sie irritiert an, Pallas auf einer ihrer Hände, während die Eule mit dem Schnabel nach ihren blonden Locken schnappte. „Sie fliegt in die Eulerei, oder nicht?“
„Weiß sie denn, wo die Eulerei ist?“, fragte Mary, die, genau wie Lily, ein wenig besorgt dreinblickte. „Vielleicht sollten wir ihr zeigen, wo das ist und wo sie Fressen herbekommt, ansonsten …“
Severus schnaubte. „Die Eulen an Hogwarts sind schlau genug, um solche Sachen allein herauszufinden, Macdonalds. Lass sie einfach losfliegen.“
„Aber sie ist so klein!“, protestierte Lily, streckte die Hand aus und beobachtete gerührt, wie Pallas von Marlenes Hand auf ihre eigene hüpfte. Die Krallen an den Beinen der Eule kratzten zwar unangenehm auf ihrer Haut, aber der goldenen Blick in ihren Augen machte es wieder wett. „Vielleicht sollte ich sie lieber mitnehmen.“
Dorcas lachte mit halbvollem Mund. „In den Unterricht?“ Sie nahm sich noch mehr von dem Toast, der auf Marlenes Teller lag. „Ich glaube, da hätten die meisten Lehrer was gegen.“
„Lass sie einfach fliegen, Lily“, meinte Severus, der die Hände tief in den Taschen seines Umhangs vergraben hatte. „Komm schon, wir müssen los. Zaubertränke.“
„Aber …“
„Okay, wir machen es so“, sagte Marlene, die um den Tisch herumgegangen und auf Lilys Seite angekommen war. „Ich bringe Pallas zur Eulerei und ihr sagt Slughorn, ich würde zu spät kommen, weil ich meinen Kessel im Schlafsaal vergessen habe.“
„Marlene“, erwiderte Dorcas langsam. „Dir ist bewusst, dass alle Kessel im Kerker stehen, ja?“
Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte Marlene Dorcas´ Antwort beiseite. „Egal, lass dir was einfallen.“
„Ich habe jetzt überhaupt kein Zaubertränke“, lachte das andere Mädchen.
„Genau, wir haben Zauberkunst“, fügte Emmeline an. „Für das wir schon fast zu spät sind.“