Mary Macdonald
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Der November endete in einem schweren Gewitter, das bereits Tage davor in der Luft gelegen hatte. Der unverkennbare Geruch nach Regen erfüllte die Räume, dunkle Wolkentürme trieben am Himmel und eisiger Wind rüttelte mit kalten Fingern an den Fenstern. In den Pausen sammelten sich Schülergruppen um die Fackeln in den Hallen oder wickelten sich dicke Schals um den Kopf, während wieder andere kleine magische Feuer in Einmachgläsern mit sich herumtrugen.
Nach einigen Fehlversuchen ihrerseits (Frank Longbottom musste einen Vorhang löschen und reparieren und ein paar Brandflecken aus dem Teppich zaubern) hatte Mary Lily gebeten, ihr auch ein Taschenfeuer zu zaubern. Die meisten Lehrer sahen es nicht gerne, wenn die Schüler mit magischen Flammen hantierten, drückten aber aufgrund der Kälte ein Auge zu. Professor Flitwick verbesserte ihre Feuer sogar, auch wenn man dann einen Sicherheitsvortrag des kleinen Lehrers ertragen musste. Mary war froh, dass sie dafür Lily hatte.
Jetzt, da der Dezember tatsächlich angebrochen war, rückten für alle Schüler die jährlichen Weihnachtsferien immer näher. Nur ein paar wenige Ausnahmen sahen den freien Feiertagen nicht entgegen; Lily freute sich nicht darauf, die Ferien mit ihrer Schwester verbringen müssen, mit der Mary ebenfalls schon Bekanntschaft gemacht hatte. Man konnte kaum meinen, Lily und ihre Schwester Petunia wären überhaupt verwandt, waren sie weder äußerlich noch innerlich irgendwie ähnlich. Mary verstand sehr gut, warum Lily sich nicht auf die Ferien freute. Lilys seltsamer Freund Severus Snape - von James liebevoll Schniefelus getauft - schien ebenfalls sehr miesepetrig durch die Hallen zu stiefeln und jeden mit einem düsteren Blick zu strafen, der es wagte, ihn anzusprechen. Sein Slytherin-Gefolge bestehend aus Avery und Mulciber grinsten derweil dämlich vor sich hin, als würden in ihren Flachköpfen nur eine Gehirnzelle hin und her eiern. Wahrscheinlich stimmte das auch.
Im Gegensatz zu Sirius, führten Lily und Snape sich allerdings fast schon wie glückliche Weihnachtselfen auf; der Erbe einer der ältesten Zaubererfamilien Englands schlurfte schlecht gelaunt durch die Flure, gab den Professoren patzige Antworten und verbreitete allgemeine eine Stimmung, als hätte man ihn gezwungen, fortan mit Peeves dem Poltergeist zu leben. Mary versuchte gar nicht erst, mit ihm zu reden. Was auch immer für Probleme er zuhause hatte, sie wollte nicht diejenige sein, an der er sie auslassen würde.
„Seine Eltern sind ziemlich streng“, sagte Marlene, die ihre Hände aneinanderrieb und weiße Atemwölkchen produzierte. Das Gewitter, das den November beendet hatte, wurde durch Schneegestöber abgelöst, die den Dezember einläuteten. Trotz der eisigen Temperaturen zwang man sie zum Kräuterkundeunterricht zu gehen, eine absolute Frechheit wie Mary fand. Selbst mit ihren Drachenhauthandschuhen froren ihre Finger wie unter kaltem Wasser. „Ich hab ihn und James mal belauscht - unbeabsichtigt natürlich“, fügte sie auf Marys zweifelnden Blick hinzu. „Jedenfalls finden Sirius' Eltern es nicht gerade gut, dass er in Gryffindor gelandet ist und sich mit Muggelgeborenen angefreundet hat.“
Mary hauchte einen Schwall an weißen Atem in die Luft. „Und ich dachte meine Familie wäre anstrengend“, sagte sie. „Meine Tante bringt jedes Jahr einen anderen Kerl mit, von dem sie fest überzeugt ist, dass er der eine ist, bevor sie sich auf den Punsch stürzt. Es ist echt traurig, aber Mum bringt es nicht übers Herz sie auszuladen.“
„Ich glaube solche Probleme hätte er gerne“, erwiderte Marlene mit einem traurigen Lächeln. „Aber jetzt mal was anderes, hast du das Wichtel-Geschenk schon fertig?“ Ihre Augen funkelten aufgeregt, auch wenn sie bis vor zwei Wochen nicht einmal gewusst hatte, was Wichteln war.
„So ziemlich“, gab Mary zurück. „Es fehlt nur der letzte Schliff.“
Marlene seufzte, weiße Wolken verdeckten kurzzeitig ihr Gesicht, dann sagte sie: „Ich noch nicht. Ich will es auf jeden Fall richtig machen, damit er -“, sie stockte mit großen Augen. „Ich meine, damit die Person sich auch freut! Verdammt.“ Sie legte sich eine Hand an die Stirn. „Tut mir leid.“
Mary lächelte lediglich. „Schon gut, Marls, um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass du so lange durchgehalten hast.“
„Es ist wirklich nicht einfach, ein Geschenk für einen Jungen zu suchen“, meinte sie, sichtlich erleichtert, dass zumindest ein Teil ihres Geheimnis raus war. „Ich meine, was mögen die denn so?“
Mary musste ein belustigtes Schnauben unterdrücken. „Mädchen?“
„Oh, tolle Idee, ich bind mir einfach 'ne Schleife um und verschenk mich an ihn.“ Das Mädchen rollte mit den Augen. „Das war überhaupt nicht hilfreich.“
„Hab nie behauptet, dass ich hilfreich wäre.“ Mary grinste. „Komm schon, dir fällt schon was ein. Jetzt lass uns endlich reingehen oder mir frieren die Finger ab.“
Eine Woche vor Weihnachten hatten sie ihren Wichtel-Tag angesetzt. Genauer gesagt hatte Mary den Tag festgesetzt und jedem befohlen, bis dahin mit seinem Geschenk fertig zu sein. Das Geschenk für James hatte sie in eine kleine dunkelblaue Schachtel gesteckt und trug diese wie ein wichtiges Artefakt in beiden Händen vor sich. Zum Austauschen der Geschenke trafen sich die Zweitklässler in der Großen Halle, nachdem alle bereits zu Mittag gegessen hatten. Nur vereinzelt saßen ein paar ältere Schüler vor dampfenden Teetassen oder knabberten an Gebäck, während sie die letzten Hausaufgaben des Jahres erledigten. Wärmende Feuer brannten in den Kaminen in den Wänden und die eintausend schwebenden Kerzen warfen überall ihre langen Schatten. Der verzauberte Himmel an der Decke ließ Schnee von dicken, weißen Wolken rieseln, der auf der Hälfte des Weges verschwand. Seit Tagen hatte es auf den Hogwarts-Ländereien durchgängig geschneit. Zu jeder Tageszeit konnte man den riesigen Wildhüter Hagrid dabei beobachten, wie er das Gemüsebeet an seiner Hütte freischaufelte, Besen entfrostete und mit dicken Fellstiefeln hinauf zum Schloss stapfte, wobei er tiefe Fußabdrücke hinterließ, in die Mary sich einrollen könnte. Erst der knöchelhohe Schnee hatte den Kräuterkunde-Unterricht ausfallen lassen, sodass die Zweitklässler nach dem Mittag eine Freistunde hatten. Diese würde nun mit dem Austauschen von Wichtelgeschenken und Trinken von heißer Schokolade gefüllt werden.
Mary und ihre Freunde besetzten den Gryffindor-Tisch, legten ihre jeweiligen Geschenke auf einen Haufen und warteten. „Kommen jetzt doch die Wichtel?“, fragte Marlene leise.
„Nein“, erwiderte Dorcas belustigt, „aber wir können ja schlecht anfangen, ehe nicht alle da sind.“
„Das ist so typisch für Potter, dass er wieder zu spät ist“, murrte Lily vor sich hin, aber die anwesenden Mädchen waren schlau genug, ihr nicht zu antworten. Eine Tirade, wieso James Potter der schlimmste Mensch der Welt sei, hatte jeder von ihnen allein diese Woche schon zwei Mal gehört.
Es dauerte nur ein paar Minuten, ehe der Teufel in Person mit seinem Gefolge, Monty und Benjy die große Halle betrat. Ihren geröteten Gesichtern und den feuchten Haaren nach zu urteilen, kamen sie aus dem Schneegestöber.
„James und Schnee sind keine gute Kombination“, sagte Peter außer Atem, als er sich neben Emmeline fallen ließ. „Er hätte mich fast vergraben.“
„Ich hätte es auch geschafft, wenn Remus mich nicht aufgehalten hätte!“
Lily schnaubte hörbar genervt.
James warf ihr einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu, bevor er sich an Mary wandte. „Jedenfalls sind wir jetzt hier. Fehlt noch was?“
„Nö“, antwortete Mary, ein schwacher Schauer an Funken in ihrer Magengegend. „Meinetwegen können wir anfangen.“
„Und wie läuft das jetzt ab?“, fragte Sirius, der sich mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt zurücklehnte. Schatten lagen unter seinen Augen, die ihn übermüdet aussehen ließen, womit er Remus' Augenringen deutliche Konkurrenz machte. Die beiden Jungs sahen aus, als hätten sie seit Tagen keinen erholsamen Schlaf mehr gehabt. Ob das die Panik vor den kommenden Weihnachtsferien war oder waren ihre Nächte einmal mehr für die Planung eines Streichs draufgegangen?
„Wir verteilen die Geschenke, oder nicht?“, erwiderte Dorcas mit einem fragenden Blick zu Mary.
„Am besten der Reihe nach, wie wir gezogen haben“, sagte diese, die mittlerweile ein nervöses Kribbeln in den Fingern spürte. Sie wollte endlich ihr Geschenk loswerden, James' Reaktion sehen und wissen, wer wem etwas geholt hatte.
„Dann fang du an.“ Lily lächelte ihr aufmunternd zu, als würde sie ahnen - vielleicht auch wissen - was passierte.
„Okay.“ Mary griff mutig in den Stapel Geschenke vor sich und holte die dunkelblaue Schachtel heraus, die sie dort vor wenigen Minuten erst abgelegt hatte. Alle Augen lagen auf ihr, abwartend und ungeduldig, Lily lächelte, Benjy biss sich auf die Unterlippe, Sirius lehnte sich weit nach hinten. Mary war das Zentrum der Aufmerksamkeit und sie ging in jedem Augenblick davon auf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie sich schließlich nach vorne beugte und das Geschenk in James' Finger fallen ließ. „Für dich, Potter.“
Sein Gesicht hellte sich auf und Aufregung ließ kleine Falten um seine Lippen und Augen springen. „Danke, Mary!“
Ohne viel auf die schöne Verpackung oder Marys von Hand gebundene Schleife zu geben, riss er das Päckchen auf und enthüllte einen Miniatur-Besen sowie einen sauber beschriebenen Pergamentfetzen. „Frohe Weihnachten, James“, las er mit einem breiten Grinsen, sichtbaren Grübchen in den Wangen und glänzenden Augen, „dieses Spielzeug ist eigentlich für Kleinkinder gedacht, die gerade alt genug sind, nicht mit jedem Schritt wieder hinzufallen, deswegen ist es perfekt für einen Kindskopf wie dich! Viel Spaß damit. In Liebe, Mary.“ James lachte lauthals auf. „Das ist sehr nett von dir, Macdonald, danke. Ich werd's in Ehren halten.“
Mary konnte die Hitze spüren, die sich in ihre Wangen grub; sie kicherte ein wenig dümmlich, wie sie selbst fand, bevor sie den Blick abwandte.
Lily betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen, aber blieb still, presste lediglich die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu verbergen, das Mary trotzdem sehen konnte.
Ohne, dass er aufgerufen werden musste, ergriff Peter das Zepter; seine Finger griffen nach einem überraschend sauber verpacktem Päckchen, welches er sogleich an Monty überreichte.
„Hey, cool, danke, Pete!“ Der wesentlich breiter gebaute Gryffindor nahm das Geschenk entgegen und enthüllte nach schnellem Reißen und Zerren einen winzigen Quaffel, kaum größer als eine geballte Hand.
„Du kannst ihn größer werden lassen“, erklärte Peter beinahe aufgeregt klingend. „Gabs ganz neu beim Quidditch-Laden in der Winkelgasse! Drück einfach hier und - genau! Cool, oder?“
Der winzige rotbraune Ball in Montys Fingern war auf die Größe eines handelsüblichen Quaffel gewachsen. „Oh, Wahnsinn!“ Monty betrachtete den Ball mit glänzenden Augen. „Jetzt kann ich überall damit üben!“
Mary wollte nicht daran denken, wie oft sie jetzt einen Quaffel durch die Luft fliegen sehen musste - gerade, als sie dachte, sie wäre dem Fliegen entkommen, musste sie quidditchversessene Jungs in ihre Freundesgruppe ziehen. Es war ihre eigene Schuld, wirklich. Sie hätte damit rechnen müssen, dass irgendjemand Monty ziehen und ihn in seiner Obsession auch noch unterstützen würde.
Das nächste Geschenk war von Sirius. Es war mehr als schlampig verpackt, mit eingerissenen Stellen im Papier und ausgefransten Ecken. Das Päckchen war größer als die anderen auf dem Tisch, beinahe so groß wie eines der Schachbretter im Gemeinschaftsraum und Mary war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie Sirius gesagt hatte, dass er es mit den Kosten nicht übertreiben sollte.
„Freu dich nicht zu früh“, sagte Sirius mit gewichtiger Stimme, als er das viel zu große Geschenk an Remus überreichte, „dafür bekommst du nichts anderes mehr zu Weihnachten.“
Remus wurde nicht rot; seine blasse Haut wurde lediglich noch ein Stück blasser und er stammelte unverständlich, als er das Päckchen annahm.
„Keine Widerworte, Lupin. Du hast mir lange genug damit in den Ohren gelegen und jetzt hast du es.“
Lily und so ziemlich alle anderen Anwesenden beugten sich mit interessiertem Blick vor, während Remus, der unter all ihren Augen zusammenschrumpfte, das Papier wegriss und eine Schallplatte hervorzog. „Sirius!“, sagte er müde, aber glücklich. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht -“
„Und ich habe ignoriert, was du gesagt hast.“ Sirius grinste breit, sichtlich zufrieden mit sich selbst und zeigte dabei seine glänzenden Zähne.
„The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“, las Marlene laut vor. Sie zog die Augenbrauen zusammen, halb belustigt, halb irritiert. „Das ist ein ziemlicher Zungenbrecher.“
„Das ist David Bowie“, erwiderte Remus, als würde das alles erklären.
„Er ist ziemlich berühmt, oder?“, fragte Mary, die den Namen zwar kannte, aber nicht viel mit seiner Musik anfangen konnte. Wenn sie zuhause war, hörte sie lieber ABBA oder einer der Platten ihrer Mutter.
„David Bowie ist ein Gott auf Erden“, sagte Remus, der seine Augen nicht von der Platte nehmen konnte. Mit einem Finger strich er über das bunte Coverbild, so sanft, als hätte er Angst, die Platte würde unter seiner Haut zu Staub zerfallen, wenn er zu viel Kraft aufwenden würde.
„Ihr seid nachher alle eingeladen, die Platte einzuweihen“, sagte Sirius. „Damit können wir diese Wichtel-Sache perfekt beenden, ja?“
Lily warf ihm einen zweifelnden Blick zu, aber selbst sie schien der Idee nicht abgeneigt zu sein. „Wir denken drüber nach.“
„Ach, Evans, sei kein Spielverderber“, grinste James. „Komm schon, ein wenig Spaß und gute Laune wird dich nicht umbringen.“
„Das nicht“, schnaubte Lily mit verschränkten Armen, „aber du wirst sicher mein verfrühtes Grab werden, Potter.“
„Bitte, fängt das wieder an“, murrte Dorcas und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. „Dauert das noch lange mit euch?“
Lily, feuerrotes Haar und brennende Ohren, presste die Lippen zusammen, während James sichtbar mit den Augen rollte, aber ebenfalls ruhig blieb.
„Geht doch. Wer war als nächstes?“, fragte Dorcas an Emmeline gewandt, die nur mit den Schultern zuckte.