Der Sprechende Hut
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Einmal jedes Jahr verließ der Sprechende Hut seinen Platz im Regel des Schulleiterbüros und wurde auf eine Reise durch das Schloss genommen. Es war die einzige Chance, die sich dem Hut jährlich bot, etwas anderes zu sehen, außer den gleichen vollgestopften Regalen und leise surrenden, klingenden und rauchenden Gerätschäften, die Dumbledores Büro füllten. Am Abend des ersten September holte der kleine Professor Flitwick ihn mithilfe des Schwebezaubers von seinem Regalboden herunter und gemeinsam mit einem vertrauten, dreibeinigen Stuhl wurde er durch die sieben Stockwerke des Schlosses getragen, bis man ihn außerhalb der Großen Halle für seinen großen Moment vorbereitete.
Der Sprechende Hut hatte es schon so oft gemacht und doch wurde er jedes Mal nervös. Was würden die Kinder nur von seinem neuen Lied halten? Würden sie den Text mögen? Würde er sich auch an alles erinnern und nicht etwa eine falsche Zeile singen? Immerhin war dies seine einzige Chance im Jahr, der Schule zu beweisen, dass er mehr war als nur ein alter, verfilzter Hut. Schließlich hatte er bereits auf den Köpfen von großartigen Hexen und Zauberern gesessen, da konnte er sich keinen Patzer erlauben. Es gab einen Tag im Jahr, an dem er singen durfte und den würde er nicht ruinieren. Wenn er sich nur an die schreckliche Einteilung von 1674 zurückerinnerte… oh, die Schmach, wie sie ihn bis zum heutigen Tage noch verfolgte. Lampenfieber und das in seinem Alter! Der damalige Schulleiter hatte gedroht, ihn zu beseitigen und die Einteilung umzubesetzen, wenn er sich nicht zusammenreißen könnte.
Seit über dreihundert Jahren hatte er sich keinen Fehltritt mehr erlaubt. Der Hut hatte jedes seiner Lieder mehr als perfekt vorgetragen und bei der Einteilung der neuen Schüler hatte es nicht ein Problem gegeben. Er wusste, was auf dem Spiel stand, wenn er sich vertun würde, deswegen bereitete er sich die Tage vor dem ersten September mit Meditationsübungen vor, damit er nicht nur einen kühlen Kopf bewahren, sondern auch keine Fehler machen würde. Ein Fehler in seinem Beruf könnte eine schreckliche Zukunft für ein unschuldiges Kind bedeuten und der Hut würde es sich nicht in den kühnsten Träumen einfallen lassen, ein Kind in ein falschen Haus einzuteilen.
Die Große Halle war wie jedes Jahr ein Ort der Magie und der Neuanfänge. Als Professor Flitwick den Sprechenden Hut mit seinem getreuem Stuhl hereinbrachte, landete alle Augen ehrfürchtig, abwartend und auch nervös auf ihm. Die Lehrer lehnten sich für ein paar Minuten zurück, die älteren Schüler warteten auf sein neues Lied und die kleinen Erstklässler, die in einer Reihe im Mittelgang vor dem Lehrerpodest standen, blickten mit zittrigen Augen zu ihm herauf. Flitwick ließ den Hut auf seinem Stuhl liegen und eilte dann davon. Über ihm glänzte die verzauberte Decke und zeigte einen sternenklaren Nachthimmel und knapp darunter die eintausend schwebenden Kerzen, die der ganzen Halle einen warmen Glanz verpassten.
Der Sprechende Hut wartete ein paar Momente. Es war wichtig, Spannung aufzubauen und sein Publikum an sich zu fesseln. Zufrieden stellte er fest, dass nicht ein Augenpaar nicht auf ihn gerichtet war und als er schließlich zur Erkenntnis kam, dass die Schülerschaft bereit war, öffnete der Hut seine faltige Krempe und fing an mit rauer, warmer Stimme zu singen.
Kaum hatte er die ersten Töne von sich gegeben, wusste der Hut, dass dieser Abend ein voller Erfolg sein würde. Die Kinder klebten an seinen Lippen (oder das, was man bei einem Sprechenden Hut Lippen nennen konnte) und ließen sich von seinem Lied in eine andere Welt entführen. Obwohl der Hut seit vielen Jahren nun immer von denselben Themen sang, die vier Gründer und ihre Häuser vorstellte und seit jeher versuchte, die Melodie und den Text so simpel wie möglich zu halten, sah er doch immer Gesichter, auf denen sich Verwirrung spiegelte. Das mussten dann die diesjährigen Muggelkinder sein, dachte er sich, während er die zweite Strophe einleitete.
Ausnahmslos jeder Schüler brach in tosenden Applaus aus, als der Hut den letzten Ton, das letzte Wort gesungen hatte und sich mit einer angedeuteten Verbeugung auf die Einteilung vorbereitete. Obwohl es keiner sehen konnte, schüttelte er sein inneres Hutfutter und versuchte die geflickte Krempe so angenehm wie möglich zu halten.
Professor McGonagall tauchte neben ihm auf, ihr stoisches Gesicht mit dem winzigsten Hinweis auf ein Lächeln gespickt, als sie mit einer Hand nach dem Hut griff und mit der anderen eine Pergamentrolle entgleiten ließ. „Wenn ich euren Namen aufrufe, dann kommt ihr nach vorne und setzt euch den Sprechenden Hut auf den Kopf“, erklärte die Professorin mit ihrer ernsten, selbstbewussten Stimme. So viel war geschehen, seit die kleine Minerva sich mit elf Jahren selbst den Hut auf den Kopf gesetzt hatte. Der Sprechende Hut konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie nervös sie gewesen und wie er ihr direkt über die Augen gerutscht war.
„Ah, Minerva – nach der Großmutter, ja? Das sollte dann doch kein Problem sein, oder? Ravenclaw wäre das perfekte Haus für dich!“
Aber der Sprechende Hut hatte die Rechnung ohne Minerva McGonagalls Kopf gemacht. Vehement darauf bestehend, dass der Hut ihr alle Vor- und Nachteile der Häuser erläuterte, saß die junge Hexe fast sechs Minuten lang auf dem Stuhl, bis er sich schließlich dazu entschied, sie nach Gryffindor zu schicken. Eine weise Entscheidung, so fand der Sprechende Hut auch heute noch.
Professor McGonagall las nun den ersten Namen ihrer Liste vor. Dann den zweiten. Schließlich den dritten. Der Sprechende Hut schaute in jeden Kopf, konnte jede noch so kleine Ecke der Gedanken entschlüsseln und würde die Kinder in ihre Häuser einteilen. Ravenclaw, Slytherin, wieder Ravenclaw, dann Hufflepuff.
„Black, Sirius!“ Raunen und Flüstern entbrannte in der Halle, als ein Junge aus der Masse der Erstklässler vortrat. Der Hut hätte die Ankündigung per Namen nicht gebraucht, um zu erkennen, dass es sich um einen Sohn der Familie Black handelte. Kaum hatte Sirius den Hut aufgesetzt, sank der Junge in sich zusammen.
„Ich will nicht nach Slytherin“, flüsterte er, bevor der Hut die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen.
„Nicht Slytherin?“, erwiderte der Hut. „Deine gesamte Familie ist dort – ich kann sie jetzt schon mit erwartungsvollem Blick warten sehen. Cousine Narzissa lehnt sich sogar vor, um dich besser sehen zu können.“
„Das ist mir egal“, sagte Sirius leise und bestimmt. „Steck mich nach Hufflepuff, es ist mir egal, aber ich will nicht nach Slytherin. Ich kann das nicht mehr.“
Der Hut war irritiert. „Du willst nicht mal nach Slytherin, obwohl du perfekt in ihr Schema passen würdest?“, fragte er flüsternd, seine Stimme so sanft wie das Samt in seinem Inneren. „Slytherin würde mit dir einen gerissenen, schlauen und temperamentvollen Schüler ergattern, soviel steht fest. Du willst es dir selbst beweisen, ja, du willst nicht wie deine Familie sein, aber kannst du das auch?“ Er spürte, wie Sirius Black seine blassen Hände in den Stuhl krallte. „Ich sehe schon. Du bist entschlossen und mutig. Vielleicht ein wenig zu kühn, wenn du mich fragst, aber wenn du es dir wirklich wünscht, dann stecke ich dich nach GRYFFINDOR!“
Das letzte Wort rief der Hut laut genug aus, damit die ganze Halle es hören konnte. Der Applaus blieb aus. Es war so still, man könnte hören, wie ein Zauberstab zu Boden fiel.
Sirius Black riss sich den Hut vom Kopf – etwas grob, wenn der Hut das so sagen durfte – und marschierte mit festen Schritten auf den Gryffindor-Tisch zu. Seine Schritte waren das Einzige, was zu hören war. Leder auf Stein. Erst dann ertönte eine laute Stimme, die im Echo der weiten Halle wie ein tausendstimmiger Chor klang.
„Gut gemacht, Kumpel!“, rief ein Junge aus der Erstklässlerreihe. Er grinste über beide Ohren und hatte die Fäuste in die Luft gestreckt. „Ich wusste, du enttäuschst mich nicht!“
Sirius, der den Blick stoisch nach vorn gerichtet hatte, strauchelte kurz, als er den Jungen erkannte, grinste ihn ebenfalls an und setzte sich schließlich an seinen neuen Haustisch.
Es dauerte noch ein paar Sekunden, aber dann entbrannte Applaus von Gryffindor, die ihren neuen Mitschüler begrüßten. Der Sprechende Hut konnte den Vertrauensschüler Frank Longbottom sehen, der Sirius aufgeregt die Hand schüttelte und ihm auf die Schulter klopfte. Gut gemacht, konnte er den älteren Jungen beinahe sagen hören. Sirius‘ Grinsen erhellte die ganze Halle.
Die Tische der Hufflepuffs, der Ravenclaws und der Lehrer stimmten ebenfalls langsam in den Applaus mit ein und wenn Sirius Black mitbekommen hatte, was für eine Show er geliefert hatte, dann ließ er sich es nicht anmerken. Das laute Klatschen verklang langsam und Professor McGonagall räusperte sich leise. Wenn der Hut sich nicht täuschte, dann glänzten ihre Augen ein wenig mehr.
„Evans, Lily“, wurde aufgerufen und ein rothaariges Mädchen mit dem aufgeregten Blick einer muggelgeborenen Hexe eilte auf den Stuhl zu. Kaum hatte sie den Huf aufgesetzt, verdeckte er ihr halbes Gesicht.
„Hm“, flüsterte der Hut leise und spürte Lily Evans unter sich zusammenzucken. „Ein schlaues Köpfchen sehe ich da. Und du willst dich beweisen, nicht wahr? Du willst allen beweisen, dass du eine gute Hexe bist, ja? Und – deiner Schwester voran?“ Lily Evans sog scharf die Luft ein und der Hut lachte in ihr Ohr. „Oh, ich weiß schon ganz genau, wo du dich am besten machen wirst. GRYFFINDOR!“
Die Halle eruptierte in Applaus, als die kleine Lily Evans zum Gryffindor-Tisch eilte und sich neben Sirius Black setzte.
„Fenwick, Benjy“, wurde ein Ravenclaw und „Lupin, Remus“, wurde ein Gryffindor, obwohl der kränkliche Junge sich sehr dagegen weigerte. Der Hut konnte ihn verstehen, wirklich, aber er war sich einhundertzwanzig Prozent sicher, dass Remus Lupin in Gryffindor die richtigen Freunde finden würde, die ihn und seine Krankheit akzeptieren würden. Und Recht sollte er behalten, denn kaum hatte sich Remus Lupin Lily und Sirius gegenüber gesetzt, wurde er von beiden sehr enthusiastisch begrüßt und beglückwünscht, woraufhin er schon wesentlich glücklicher über die Entscheidung des Hutes wirkte. Hufflepuff hätte Remus ebenfalls ein gutes Zuhause sein können, aber sein Herz hatte doch nach Gryffindor gerufen.
„Macdonald, Mary“, und „McKinnon, Marlene“, wurden ebenfalls beide nach Gryffindor eingeteilt, während „Meadows, Dorcas“, nach Ravenclaw kam und sich neben Benjy Fenwick setzte. „Mulciber, Ennis“, hingegen wurde ein Slytherin und lautstark von seinem neuen Tisch begrüßt, als er neben Avery, Nestor Platz nahm. Als „Pettigrew, Peter“, aufgerufen wurde, war der Hut gespannt auf den Jungen. Er hatte erst wenige Jahre zuvor die Schwester des Jungen eingeteilt und jetzt war ihr Bruder dran.
Peter wäre beinahe über eine Stufe gestolpert, als er nach vorn eilte und der Hut bedeckte prompt sein hochrotes Gesicht, kaum hatte er ihn aufgesetzt. Wenn Lily Evans und Sirius Black sich schon beweisen wollten, dann war das nichts im Vergleich zum kleinen Peter Pettigrew. Der Hut konnte in Peters Kopf eine Gabe entdecken, unentdeckt zu bleiben, aber den Wunsch verspüren, von allen gesehen und gemocht zu werden.
„Du möchtest nur du selbst sein, nicht wahr?“, fragte der Hut leise. „Alle sollen dich mögen, alle sollen dich kennen und du willst anerkannt sein.“ Peter sank in sich zusammen. „Daran ist nichts auszusetzen, Peter“, sagte der Hut. „Der Schatten der Erwartung hängt immer über dir, das sehe ich. Du willst so gut und so schlau und so talentiert wie deine Schwester sein, aber zweifelst an dir, ob es dann noch genug wäre, um du selbst zu sein? Kannst du die Fußstapfen deiner Familie ausfüllen, ohne dabei deine eigenen zu verlieren?“
„I-Ich“, stammelte der kleine Peter, „will, dass man nicht von mir enttäuscht ist.“
Der Hut schnalzte mit seiner Krempe. „Ah, Peter“, hauchte er. „Der Einzige, der von dir enttäuscht sein wird, wenn du nicht so wie alle anderen bist, bist du selbst. Und deswegen weiß ich auch schon, wo ich dich hinstecken werde.“ Der Sprechende Hut verkündete lautstark GRYFFINDOR für Peter Pettigrew.
McGonagall nahm den Hut entgegen, als Peter mit heißem, rotem Kopf auf sein neues Haus zueilte. Er wurde mit Applaus und Grinsen von seinen Klassenkameraden begrüßt – allen voran Mary Macdonald und Marlene McKinnon – und auch eine laute Stimme vom Ravenclaw-Tisch war zu hören, die Peter bejubelte.
„Toll gemacht, Petie!“, rief Phyllis Pettigrew, Vertrauensschülerin und ältere Schwester des Neueingeteilten. Der Stolz war ihr ins Gesicht geschrieben und ihr Bruder versank in seinem Stuhl, als sie ihn breit angrinste.
Bei „Potter, James“, hatte der Hut keine Probleme. Sein Stoff hatte die unordentlichen Haare des Jungen kaum berührt, da rief er schon Gryffindor aus und James eilte zu seinen Freunden. Er quetschte sich zwischen Lily und Sirius, wobei ihm Erstere einen giftigen Blick zuwarf, ehe sie weiter von ihm wegrutschte. Die beiden schwarzhaarigen Jungs am Gryffindor-Tisch grinsten sich an, als wären sie Brüder, die bei der Geburt getrennt wurden.
„Snape, Severus!“ Als wäre Lily Evans wieder an der Reihe, setzte sie sich aufrecht hin und hob den Kopf so hoch wie möglich, um zu beobachten, wie ein blasser Junge mit öligen Haaren zum Podest schlurfte. Sein Umhang war ihm ein wenig zu groß. Er setzte sich den Sprechenden Hut auf und blieb still.
„Keine Meinung?“, fragte der Hut leise. „Ich kann sie in deinem Kopf sehen, weißt du.“
Severus sagte nichts.
„Nun gut. Wenn du dich nicht einmischen willst, dann weiß ich schon, wo man dich am besten gebrauchen kann. SLYTHERIN!“
Der Slytherin-Tisch zerging ein weiteres Mal in tosendem Applaus, als Severus Snape sich den Sprechenden Hut mehr als grob vom Kopf riss und ihn auf den Stuhl schmiss. Mit schlurfenden Schritten ging er hinüber zu seinen neuen Klassenkameraden, hatte seinen Blick aber sehnsüchtig am anderen Ende der Halle. Er setzte sich, wurde von Mulciber und Avery begrüßt und beglückwünscht, aber seine Augen klebten noch an Lily Evans Hinterkopf, die das Kinn wieder gesenkt hatte und jetzt leichte Enttäuschung ausstrahlte.
Als schließlich das letzte Kind („Vance, Emmeline“, Ravenclaw) eingeteilt wurde, nahm Professor McGonagall den Sprechenden Hut auf ihre Hände. Sie strich eine Falte an seiner Krempe glatt, bevor sie ihn mitsamt dreibeinigem Stuhl wieder aus der Großen Halle trug. Der Sprechende Hut hatte die Chance, einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Große Halle und die etlichen Gesichter der aufgeregt tuschelnden Schüler zu werfen, bevor er in ein Nebenzimmer gestellt wurde.
„Eine sehr gute Einteilung“, sagte Professor McGonagall, die den Hut aufrecht hinstellte, damit er nicht vom Stuhl auf den staubigen, kalten Boden fallen würde. „Ein paar Überraschungen.“
„Sirius Black, eh?“, fragte der Hut leise.
McGonagall lächelte. „Ich bin schon gespannt, wie er sich machen wird. Ich hoffe, du hast dich richtig mit ihm entschieden.“
Der Hut seufzte leise und spie damit ein paar Fussel aus seiner Krempe, die in der Luft tanzten. „Das hoffe ich auch, Minerva. Das hoffe ich auch.“